Was zuletzt geschah:
Dank seines beherzten Eingreifens kann Erik Tyler vor einer gefährlichen Situation bewahren. Der darauffolgende Morgen gestaltet sich anfangs holprig, doch nachdem die gröbsten Missverständnisse ausgeräumt sind, bekommt Erik bei einem gemeinsamen Frühstück die Gelegenheit, etwas mehr über seinen bisher eher mysteriösen One-Night-Stand zu erfahren. Derweil läuft es für Marco in Stuttgart weder beruflich noch privat besonders prickelnd.
Kapitel 32
„Meine Knie bringen mich um“, schimpfte Daniel, während er aus seinen Arbeitsklamotten heraus und in seine Freizeitklamotten hineinschlüpfte. „Von meinem Rücken fange ich gar nicht erst an. Ich schwöre, wenn das jetzt auf immer so weitergehen soll, suche ich mir eine andere Stelle.“
Marco löste sich lange genug aus seinen Gedanken, um vage Zustimmung zu murmeln. Auch seine Knie schmerzten und sein Rücken drohte, ihm noch vor seinem dreißigsten Geburtstag einen Bandscheibenvorfall zu verpassen.
Seit der Entscheidung seines Chefs, sich auf die mit ihrer ausgedünnten Personaldecke machbaren Aufträge zu konzentrieren, bestanden seine Tage aus dem Restaurieren alter und dem Verlegen neuer Böden. Also Tätigkeiten, die er über Stunden gebückt und auf Knien verbrachte; zumal er und Daniel als die beiden jüngsten Mitarbeiter (zumindest unter den derzeit einsatzfähigen), die körperlich anstrengendsten Aufgaben zugewiesen bekamen.
Sicherlich hätte Marco mehr über die aktuelle Situation gewettert, wenn sein Kopf nicht mit anderen Dingen gefüllt gewesen wäre. Er hatte weiterhin keine Ahnung wie es um Erik stand, niemand meldete sich bei ihm, weder Philipp noch Manni noch Hugo. Und er wusste, er wusste, dass er keinerlei Recht hatte, irgendetwas zu erfahren. Er und Erik waren getrennte Wege gegangen – auf Marcos expliziten Wunsch hin – also durfte er nun kaum darüber jammern aus Eriks Leben ferngehalten zu werden. Doch jeden Tag begleitete ihn die Angst.
Einer von Marcos Wirbeln knackte und die anderen stimmten ein. Nun, sie hatten einen Abend und eine Nacht Zeit sich zu erholen, morgen ging es weiter. Mindestens acht Stunden lang. So wie am darauffolgenden Tag und an dem darauf. Dann die kommende Woche. Den kommenden Monat. Wer wusste schon, ob sie überhaupt jemals wieder abwechslungsreichere Aufträge annahmen, und selbst wenn, würde Marcos Chef ihn vermutlich aus reiner Bosheit von den spannendsten fernhalten.
Und dafür war er in Stuttgart geblieben? Für Freunde, die ihn – zugegebenermaßen aus gutem Grund – mieden; für einen Job, der ihm eine Karotte vor die Nase gehalten und in eine Sackgasse geführt hatte, und für eine Familie, die entweder nach Italien abzwitscherte, oder ihn bereits vor langer Zeit aus ihren Herzen verbannt hatte?
Vielleicht hätte Berlin ihm gefallen, vielleicht hätte er einen Job gefunden, der ihn mehr erfüllte. Porco dio, vielleicht hätte seine Beziehung mit Erik funktioniert, wäre er nur nicht zu feige gewesen, sich auf etwas Neues einzulassen.
„Sag mal, bist du okay?“ Daniels Frage unterbrach Marcos Grübelei. „Du siehst ziemlich erledigt aus.“
„Nah, alles gut“, versicherte Marco. Er wollte Daniel nicht volljammern, einen der wenigen Menschen, die weiterhin freiwillig Zeit mit ihm verbrachten.
„Wenn du das sagst … Kommst du am Samstag vorbei? Essen, Bier und ne Runde Karten?“
„Klaro! Ich bringe wieder ein paar Snacks mit.“ Alles klang besser als einen weiteren Abend damit zu verbringen, sich den Kopf über Probleme zu zerbrechen, die er verursacht hatte und dennoch nicht lösen konnte.
~~~~~~~~~~
„Hi, komm rein, ich bin gleich wieder da!“
Eilig machte Marco einen Schritt zur Seite, um nicht von Daniel umgerannt zu werden, als dieser aus der Haustür sprintete. „Äh …“
„Hab das Baguette vergessen!“
„Kann ich helfen?“
„Nö, ich komm klar. Bis gleich!“
Damit blieb Marco kaum eine andere Wahl, als die Wohnungstür aufzufangen, bevor sie vor seiner Nase ins Schloss fiel, und sich selbst reinzulassen. Er fand das Wohnzimmer ebenso verlassen vor wie den Wintergarten und die Küche, aus der es verführerisch nach Kartoffelsuppe duftete. War Drago ebenfalls ausgeflogen, oder verkroch er sich in seinem Zimmer?
Auf dem Weg dorthin, hörte Marco aufgebrachte Stimmen aus dem gegenüberliegenden Raum. Offenbar flogen bei Melanie und Patrick mal wieder die Fetzen. Er widerstand der Versuchung zu lauschen und klopfte an Dragos Tür.
„Komm rein.“
Drago saß über seinen Schreibtisch gebeugt, einen Pinsel in der Hand. Auf die Entfernung konnte Marco nur ein Meer aus Farben ausmachen, das sich in sanften Schwüngen über das Papier vor ihm ergoss.
„Ciao.“
Ruckartig blickte Drago auf. „Ich hatte Daniel erwartet. Wie spät ist es?“
Marco bemühte sich, Dragos Reaktion nicht zu nah an sich ranzulassen, obwohl er nicht verstand, womit er diesen harschen Ton verdient hatte. „Kurz vor sieben. Daniel ist noch schnell Baguette holen.“
„Kurz vor sieben?“ Drago rieb sich über die Augen.
Marco konnte seine nächsten Worte nicht ausmachen – er war sich nicht einmal sicher, ob Drago Deutsch sprach – einen Eindruck von dessen derzeitiger Gefühlslage erhielt er dennoch. „Stressiger Tag?“
„Ich muss eine Projektarbeit fertigstellen.“
„Die hier?“ Marco deutete auf die Zeichnung vor Drago und wagte es, zwei Schritte näher zu kommen, um einen besseren Blick darauf zu erhaschen. Er erahnte Wasser und einen Bootssteg, bevor Drago ihm mit einem Stapel Ordner die Sicht versperrte. „Nein. Das war nur als kurze Pause gedacht, über die ich offensichtlich die Zeit vergessen habe. Und ich mag es nicht, wenn jemand meine unfertigen Arbeiten sieht.“
„Scusa.“ Wie viele Fettnäpfchen Marco wohl noch fand, in die er mit Anlauf hüpfte?
„Konntest du nicht wissen.“ Drago erhob sich. „Gehen wir ins Wohnzimmer. Daniel ist sicher bald zurück.“
„Warte kurz. Ich habe was für dich.“ Marco kramte in seiner mitgebrachten Tüte; schob Chips, selbstgebackene Rosmarin-Parmesan-Plätzchen und Studentenfutter zur Seite, bis er fand, wonach er suchte. Er überreichte Drago das handgroße, zur Sicherheit mehrfach in Zeitungspapier eingeschlagene Päckchen. „Ist mir heute früh auf dem Flohmarkt über den Weg gelaufen.“
Die Brauen zu einer unausgesprochenen Frage zusammengezogen, wickelte Drago sein Geschenk methodisch aus, bis er eine Miniaturwindmühle in Händen hielt. Hölzern, mit Gravur auf der Standplatte, die sie als Windmühle von Kinderdijk auswies. „Ich war mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, die gehört zu dem Set über deinem Schreibtisch.“
Etwas Kompliziertes spielte sich auf Dragos Gesicht ab; Emotionen, die er gleich darauf sorgfältig wegglättete. Obwohl sich Marco in der Vergangenheit dazu gratuliert hatte, ihn inzwischen ziemlich gut einschätzen zu können, scheiterte er dieses Mal vollends daran. „Falls es die Falsche ist–“
„Es ist die richtige.“ Drago arrangierte die bereits auf dem Regal aufgereihten Modelle, bis sich das neue darin einfügte, als hätte es nie woanders gestanden. Anschließend trat er einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk. „Danke. Wie viel bekommst du dafür?“
Marco winkte ab. „Nah, das ist ein Geschenk, und nicht einmal ein besonders teures.“
„Wirklich? Die Preise, die ich bisher für Modelle in ähnlich gutem Zustand gesehen habe, waren hoch genug, um mich vom Kauf abzuhalten.“
„Dann wusste der Verkäufer wahrscheinlich nicht, was er da hat. Passiert öfter.“ Marco grinste. „Deshalb gehe ich ja hin. Warte … Heißt das, ich habe dir gerade potenziell zehntausend Euro geschenkt?“
„Ein paar Nullen wirst du streichen müssen“, erwiderte Drago, ließ allerdings offen, wie viele. Dafür zeigte er eines seiner seltenen Lächeln – und Marco realisierte, wie selten er es in den letzten Wochen zu Gesicht bekommen hatte. Bevor er antworten konnte, schob Daniel den Kopf durch die Tür. „Hier steckt ihr.“
„Entschuldigung“, sagte Drago. „Ich habe nicht auf die Uhr gesehen.“
„Weshalb ich den unendlich langen Weg zu deinem Zimmer zurücklegen musste“, tadelte Daniel. „Kilometer! Meilen! Lichtjahre!“
„Ich hätte dir beim Kochen geholfen.“
„Hätte ich deine Hilfe gebraucht, hätte ich dir Bescheid gegeben.“ Damit schien das Thema gegessen, und das Trio trapste in die weiterhin verführerisch duftende Küche.
Mit Kartoffelsuppe und frischem Baguette ausgestattet, hatten sie eben Platz am Esstisch genommen, als im hinteren Teil der Wohnung eine Tür knallte. „Lass mich!“ Melanie rauschte an ihnen vorbei. Ohne Gruß hielt sie den Blick starr geradeaus gerichtet, doch Marco sah die Tränen, die ihre Wangen herunterrannen.
Sollte er sie ansprechen? Aber was sagen? Obwohl sie beide ständig Zeit in derselben Wohnung verbrachten, kannten sie sich kaum. Er bekam nicht die Gelegenheit lange darüber nachzudenken; die Haustür fiel ins Schloss.
Marco öffnete den Mund, um das betretene Schweigen zu brechen – womit, würde er erfahren, wenn seine Worte seine Ohren erreichten – da flog ein weiteres Mal eine Zimmertür auf und Patrick stürmte durchs Wohnzimmer und nach draußen. Auch er hatte keinen Mucks für seine Mitbewohner übrig.
Neben Marco atmete Daniel langsam aus. „Das war … noch schlimmer als sonst.“
Drago sagte gar nichts. Er hätte ruhig gewirkt, wären nicht seine Hände fest zu Fäusten geballt gewesen. Unter dem Tisch verborgen, lehnte Marco ein Bein gegen seines. Umgehend entzog sich Drago der Berührung, und ließ Marco mit dem dumpfen Gefühl zurück, mal wieder alles versaut zu haben.
~~~~~~~~~~
Glücklicherweise endete der Abend in besserer Stimmung, als er begonnen hatte. Weder Patrick noch Melanie kehrten während der Pokerrunde zurück und gerieten daher mit jedem Bluff, jedem All-in und jeder überraschenden Wendung zunehmend in Vergessenheit. Die Stunden zogen nahezu unbemerkt vorbei, bis Daniel keinen ganzen Satz ohne ausdauerndes Gähnen mehr herausbrachte.
„Sorry“, nuschelte er nach dem dritten Mal. „Schätze, ich gehöre ins Bett.“
„Ist spät“, stimmte Marco zu. „Machen wir Schluss für heute.“
Gemeinsam begannen sie, den Tisch abzuräumen, doch Drago nahm Daniel die mit Suppenresten verkrusteten Schüsseln ab, bevor dieser sie in die Küche tragen konnte. „Du hast gekocht, ich kümmere mich um den Rest.“
„Falls du denkst, ich wäre so höflich dagegen zu protestieren, kennst du mich schlecht.“
„Ich helfe dir.“ Als er den Schatten über Dragos Gesicht huschen sah, hätte Marco sein Angebot beinahe wieder zurückgezogen. Drängte er sich auf?
Was auch immer in Drago vorging, er protestierte nicht. Eigentlich hatte Marco gelernt, das bei ihm als Zustimmung zu interpretieren, allerdings fragte er sich inzwischen, ob er nur dachte, Drago einschätzen zu können und in Wahrheit permanent danebenlag.
Daniel schien davon nichts mitzubekommen. „Dann werde ich mich tatsächlich ins Bett verabschieden.“ Er winkte den beiden zu. „Gute Nacht und danke fürs Aufräumen.“
Schweigend sammelten Marco und Drago das Geschirr zusammen und stapelten es in der Spülmaschine. Während Marco die Reste der Kartoffelsuppe in einen kühlschranktauglichen Behälter umfüllte, ließ Drago Wasser in die Spüle einlaufen, um den für die Maschine zu sperrigen Topf abzuwaschen. Bevor er sich an die Arbeit machte, schloss er jedoch die Küchentür.
„Ich habe den Eindruck, dass du nicht länger an unserem Arrangement interessiert bist. Liege ich mit dieser Einschätzung richtig?“
„Was?“ Perplex sah Marco Drago an. „Meinst du mit ‚Arrangement‘ den“, unwillkürlich sprach er trotz geschlossener Tür leiser, „Sex? Wie kommst du darauf, dass ich kein Interesse mehr daran hätte?“
Den Kopf über die Spüle gebeugt, bearbeitete Drago den Suppentopf, als versuchte er, ein Loch in den Edelstahl zu schrubben. „Du stimmst zu, wenn ich dich nach einem Treffen frage, aber von dir kommt niemals die Initiative dafür. Du fragst mich im Anschluss nicht, ob ich bleiben möchte oder wann wir uns wiedersehen. So ein Verhalten ist untypisch für dich. Wenn du diesen Teil unserer Bekanntschaft beenden möchtest, ist das in Ordnung für mich, ich wünschte nur, du würdest es mir sagen.“
„Ist das dein Ernst? Du bist doch derjenige, der Sex und Freundschaft trennt, und jetzt vermische ich sie dir nicht genug?“ Was sollte Marco denn noch tun? Da hielt er sich zurück, um Dragos Bedürfnis nach Abstand und klaren Verhältnissen zu respektieren, obwohl er sich mehr als einmal gute Gesellschaft beim Abendessen und einen warmen Körper zum Einschlafen gewünscht hätte, und dann war das auch wieder nicht recht?
Drago runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts. Schweigend wandte er sich dem Suppentopf zu, trocknete ihn ab und verfrachtete ihn anschließend in eine Schublade, die er bei dieser Gelegenheit komplett neu sortierte. Marco spürte, dass hinter der Stille Worte lauerten und wartete, bis Drago bereit war, sie auszusprechen.
Es dauerte. Schwer zu sagen, wie lange. Zeit neigte dazu, erstaunliche Dinge zu tun, wenn man sich etwas herbeisehnte. Was sich für Marco wie eine Stunde anfühlte, mochte in der Realität weniger als eine Minute ausmachen.
Nach einer Minute, Stunde oder Ewigkeit, schob Drago die Topfschublade zu. „Nur sehr wenige wissen von meinem Vater. Daniel hat eine grobe Vorstellung, aber vom tatsächlichen Ausmaß habe ich ihm nie erzählt. Niemand weiß von meinen Panikattacken, sofern sich meine Familie nicht ein paar Dinge zusammengereimt hat, und abgesehen von dir, hat sie definitiv keiner miterlebt.“ Erst jetzt drehte sich Drago zu Marco. „Du hast recht, normalerweise trenne ich Sex und Persönliches, aber diese Linie habe ich mit dir schon lange überschritten. Das ist neu für mich.“ Er machte sich nicht mehr die Mühe, sein Gesicht neutral zu halten. Fältchen zeigten sich auf seiner Stirn, um seine Augen und Lippen. Anspannung. Unsicherheit. Verletzlichkeit. „Ich wusste nicht, wie ich dein Verhalten mir gegenüber interpretieren soll.“
Porco dio, Marco war ein Vollidiot. Er hätte wissen müssen, dass die Ereignisse an Silvester Drago verunsicherten. Welche Überwindung es ihn gekostet haben musste, so offen mit Marco zu sein. Ihn so nahe an sich heranzulassen. Und was tat Marco? Strafte Drago mit Distanz.
Halb, weil er geglaubt hatte, es wäre das, was Drago wollte, aber mindestens ebenso sehr, weil es die Dinge einfacher für ihn selbst gemacht hatte. In Wahrheit fürchtete er sich davor, wie nahe sie sich nach nur wenigen Monaten standen – jeder Schritt, den sie aufeinander zugingen, erinnerte ihn daran, wie weit er Erik zurückließ.
„Tut mir leid“, murmelte Marco bedrückt. Dann rollte er innerlich die Augen über seine halbherzige Entschuldigung. „Mir war nicht klar, dass dich mein Verhalten verletzt, aber das macht es nicht okay. Dass du Sex und Freundschaft trennst, war einfach nur eine willkommene Ausrede für mich.“
„Weil du kein Interesse mehr daran hast?“, fragte Drago. „Am Sex? Oder … unserer Freundschaft?“ Er sprach leise. Resigniert.
„Nein! Nein.“ Vehement schüttelte Marco den Kopf. „Das ist es nicht.“
„Was dann? Marco, es liegt mir nicht, zwischen den Zeilen zu lesen. Egal, was deine Gründe sind und welche Konsequenzen du daraus ziehst, du machst es leichter für mich, wenn du direkt bist. Ich akzeptiere deine Entscheidung, nur sag mir, was genau du willst.“
Marco starrte auf seine Schuhe, um der Intensität von Dragos Blick zu entkommen. „Deine Freundschaft. Plus. Es ist nur …“ Hilflos hob er die Hände, unsicher, wie er ausdrücken sollte, was in ihm vorging. Drago verdiente Aufrichtigkeit. Möglicherweise schuldete Marco sie auch sich selbst. „Ich hoffe sehr, dass du mir glaubst, dass Silvester unsere Freundschaft keinesfalls negativ beeinflusst hat. Oder wie sehr ich auf unsere, äh, privateren Treffen stehe. Dass ich dich so weggeschoben habe, hat absolut nichts damit zu tun.“
Drago schwieg, aber Marco fühlte seine Aufmerksamkeit auf sich wie von einer Lupe konzentriertes Sonnenlicht. Ein Funke und er würde in Flammen aufgehen. „Das Problem sind meine Schuldgefühle“, gestand er schließlich. „Unsere Treffen sind so ziemlich das einzige, worauf ich mich noch richtig freue, schon allein, weil sie mir ein paar Momente schenken, in denen ich nicht ständig an Erik denke. Bis mir danach wieder klar wird, wie ekelhaft ich mich eigentlich verhalte. Ich glaube, Erik geht es nicht gut und ziemlich sicher bin ich schuld daran. Ich habe Angst um ihn, aber ich weiß einfach nicht, was ich deshalb tun soll. Was ich tun kann.“
Drago verschränkte die Arme vor der Brust. Er wirkte nicht abweisend, eher … nachdenklich? „Hast du keine Möglichkeit, ihn zu kontaktieren?“
„Habe ich schon versucht“, sagte Marco. „Wenn ich anrufe, bekomme ich nur ein Störzeichen und meine SMS scheinen auch nicht durchzukommen.“
„E-Mail?“
„Ich kenne seine Adresse nicht. Es gab nie einen Grund, ihn danach zu fragen. Und in dem Forum, über das wir uns kennengelernt haben, war er schon seit Monaten nicht mehr aktiv. Facebook war auch eine Sackgasse und falls er sonst irgendwo ein Profil hat, weiß ich nichts davon.“
„Was ist mit seinen Freunden?“, fragte Drago weiter. „Du kennst doch sicher einige von ihnen. Haben die nichts gehört?“
„Zumindest nicht, als ich das letzte Mal gefragt habe.“ Was zugegebenermaßen eine Weile zurücklag. Seit seinem Geständnis hatte Marco das Tässchen – und sämtliche anderen Freunde, die Erik kannten – sorgsam gemieden. Er rieb sich übers Gesicht. „So kann das nicht weitergehen.“
Erneut verfiel Drago in Schweigen. Vielleicht hatte er nichts zu sagen, vielleicht fand er aber auch, dass Marco das mit sich selbst ausmachen musste. Womit er richtig lag.
„Ich sollte gehen“, sagte Marco schließlich. „Scusa, dass ich dich so in meine Probleme reingezogen habe. Ich wollte dich nie verletzen.“
„Das weiß ich. Ich hoffe, du kannst die Sache mit Erik klären.“
Was soviel bedeutete wie: Regel deinen Scheiß und lass mich solange in Frieden. Marco konnte Drago kaum einen Vorwurf machen. Er musste die Konsequenzen seines Egoismus akzeptieren.
Als Marco Dragos und Daniels Wohnung verließ, schien die Welt noch ein wenig kälter geworden zu sein.
~~~~~~~~~~
Blind starrte Marco aus dem Fenster, während seine Hände ein Stück Holz zur Unkenntlichkeit verstümmelten. Er arbeitete bereits seit einer Weile an der Spieluhr, in der Hoffnung, das anspruchsvolle Projekt würde ihn ein paar Minuten am Tag ablenken. Stattdessen setzte er auch das in den Sand. Eines der filigranen Beine des Storchs – die Uhr sollte ein Geschenk für Giulia und Giovanni zur Geburt ihres zweiten Kindes werden – war unter seinen Fingern weggeknickt. Ein treffendes Symbol für den Zustand seines Lebens.
In den vergangenen Monaten hatte sich sein einst praller Freundeskreis in Luft aufgelöst. Zu Oleg und Roman, zwei seiner ältesten Freunde aus dem Boxstudio, hatte er außerhalb der Trainingszeiten seit Ewigkeiten keinen Kontakt mehr. Nicht, dass er ihnen übermäßig hinterhertrauerte. Trotz wiederholter Bitten hatten die beiden es nie für nötig befunden, ihre Sticheleien Erik gegenüber einzustellen. Auf solche Freunde konnte Marco verzichten – auch nach dem Ende seiner Beziehung.
Hatice und Jo, die verbleibende Hälfte des alten Freundeskreises, hielten ihm die Treue, meldeten sich jedoch wie üblich nur alle paar Wochen. Normalerweise störte das Marco wenig, schließlich hatte er genug Freunde, die er regelmäßig traf, doch inzwischen sah die Situation anders aus.
Philipp hüllte sich weiterhin in Schweigen und das Tässchen mied Marco von sich aus. Zu sehr fürchtete er Mannis und Hugos Reaktion. Sie würden ihn nicht auffordern zu gehen, damit würden sie völlig entgegengesetzt zu ihren Überzeugungen handeln, aber sie konnten ihn mit dieser Mischung aus Enttäuschung und Verletzung ansehen, die ihm schmerzhaft vor Augen führen würde, wie unheilbar er alles kaputtgemacht hatte. Außerdem: Was wollte er eigentlich im Tässchen? Mit Anfang zwanzig passte er doch gar nicht mehr in den Jugendtreff.
Blieben noch Daniel und Drago, und zumindest mit letzterem hatte es sich Marco ebenfalls ordentlich versaut; ihn über Wochen hinweg verletzt, ohne es überhaupt zu bemerken. Kein Wunder, dass Drago gehörig die Schnauze voll von ihm hatte.
Frustriert fuhr sich Marco durchs Haar, verteilte feine Holzspäne darin. Vor seinem Fenster hallten Schritte und Gelächter, als wollte die Welt ihm beweisen, wie wenig seine Einsamkeit sie interessierte.
Herrgott nochmal, sein eigenes Gejammer ging ihm auf den Keks! Er war es, der sich von Erik getrennt und so sämtliche dieser Ereignisse losgetreten hatte. Nein, das stimmte nicht. Die Trennung war nicht das Problem, sondern sein Umgang damit. Er hätte Erik niemals vom Tässchen fernhalten, ihn niemals so behandeln dürfen.
Hatte noch immer niemand von Erik gehört? Bestimmt würden Charlotte und Aisha bei dieser langen Funkstille alle Hebel in Bewegung setzen, um sicherzustellen, dass es ihm gut ging.
Aber was, wenn nicht? Was, wenn Marco Erik in dieses tiefe Loch gestoßen hatte, aus dem er nicht mehr allein herausfand, und sich niemand zuständig fühlte, ihm zu helfen?
Was, wenn Erik …
~~~~~~~~~~
Marco erinnerte sich kaum daran, dass seine Füße ihn an diesen Ort getragen hatten. Beinahe wie vor drei Jahren, als er nach dem Rausschmiss bei seinen Eltern hier aufgeschlagen war. Durchnässt vom strömenden Regen, mit nichts als den Klamotten, die er am Leib trug, und ohne die geringste Idee, wie er von hier aus weitermachen sollte.
Mit einem entscheidenden Unterschied: Damals hatte er gewusst, dass Manni und Hugo ihm die Tür öffnen würden.
Nun stand er vor dem Tässchen, nach Ladenschluss, aber früh genug, um Hugo hinter der Theke aufräumen zu sehen. Mit zitternden Händen und ausgetrocknetem Mund klopfte er.
Hugo blickte auf. Sekunden, in denen nichts passierte, zogen endlos langsam vorüber. Schließlich umrundete Hugo die Theke und sperrte die Eingangstür auf. „Komm rein.“
Schritte erklangen und Manni kam aus der kleinen Küche ins Café. „Haben wir Besu– Oh. Hallo Marco.“
„Ähm, hi.“ Marco starrte auf seine ineinander verknoteten Hände. „Ich wollte mich nochmal bei euch entschuldigen. Ich hab‘s richtig versaut, das weiß ich, aber wenn es irgendeinen Weg gibt, es wieder gutzumachen, dann würde ich gern …“ Nein. Nein, er war nicht hier, um sich Absolution zu holen. „Ich hätte Erik nie darum bitten dürfen, nicht ins Tässchen zu kommen. Beim Gedanken, ihn wiederzusehen, bin ich in Panik ausgebrochen. Ich dachte, ich ertrage es nicht, ihn zu sehen. In seiner Nähe zu sein, aber nicht bei–“ Stopp. Auch das Erklären seiner Beweggründe war keine Entschuldigung. „Ich hätte ihn nicht von hier fernhalten dürfen“, wiederholte Marco. „Es tut mir leid.“ Seine kurzgeschnittenen Nägel hinterließen Halbmonde, als er sie in seine Handinnenflächen presste. „Und ich weiß, dass ich kein Recht habe, nach ihm zu fragen, aber niemand scheint etwas von ihm gehört zu haben, oder vielleicht doch, aber keiner sagt mir etwas, was ich verstehen kann, immerhin habe ich Schluss gemacht und ihn dann auch noch von hier ausgeschlossen, und alle sind sauer auf mich und das ist okay, aber ich mache mir Sorgen und ich kann nachts nicht atmen, und was, wenn es ihm schlecht geht, und–“
„Marco!“, unterbrach Manni ihn in einer Lautstärke, die nahelegte, dass er es nicht zum ersten Mal versuchte. Als er merkte, dass er Marcos Aufmerksamkeit hatte, sagte er leiser: „Es geht ihm gut.“
„Was?“
„Es geht Erik gut.“
„Wirklich?“
„Wirklich“, bestätigte Hugo. „Wir haben erst gestern miteinander telefoniert.“
Erik ging es gut. Marcos Beine weigerten sich, sein Gewicht zu tragen. Er stolperte rückwärts und sackte auf den erstbesten Stuhl, den er greifen konnte. Erik ging es gut. Erik ging es gut. Unerwartet standen Tränen in seinen Augen, die er hinter seinen Händen versteckte. Sein Nacken schien ohnehin Probleme zu haben, seinen Kopf aufrechtzuhalten.
Manni sagte etwas, das Marcos Ohren erreichte, aber nicht seinen Verstand. Vage nahm er Bewegung um sich herum wahr, Schritte und Gemurmel. Erst ein Paar Arme, das sich um ihn schloss, durchdrang den Nebel in seinem Kopf.
Marco war stark. Körperlich und emotional. Der Fels in der Brandung. Seit Jahren klammerte er sich an dieses Selbstbild, oft, weil es zutraf; immer häufiger, weil er anders den Tag nicht überstand. Doch in diesem Moment fand er einfach keine Kraft mehr.
Manni hielt ihn fest.
~~~~~~~~~~
„Besser?“, fragte Manni.
Marco stellte seine zur Hälfte geleerte Kaffeetasse auf dem Tisch vor sich ab. „Besser.“ Sie saßen nicht länger im Tässchen, sondern in Hugos und Mannis Küche im darüberliegenden Stockwerk. „Sorry für vorhin.“
Nachdem Marcos Tränenstrom versiegt war – und er dachte lieber nicht zu genau darüber nach, wie ewig das gedauert hatte – hatte er sich von den beiden nach oben bugsieren lassen. Wenig überraschend brachten sie ihm jede Menge Verständnis entgegen, was die gesamte Situation nur noch peinlicher machte.
„Wir sind diejenigen, die sich entschuldigen müssen.“ Hugo schob ihm einen Teller Plätzchen zu. „Wir haben falsch reagiert, als du uns von Erik erzählt hast.“
„Nah. Was ich getan habe war scheiße, und–“
„–trotzdem hattest du es verdient, dass wir dir besser zuhören“, beendete Manni den Satz. „Stattdessen haben wir dir offenbar das Gefühl gegeben, hier nicht länger willkommen zu sein.“
„Nachdem wir betont haben, dass das Tässchen für jeden geöffnet ist.“ Hugo schüttelte den Kopf. „Es tut mir wirklich leid, wie das gelaufen ist. Ich war wütend auf dich und ich habe mir Sorgen um Erik gemacht. Beides so sehr, dass ich dabei übersehen habe, dass es dir auch nicht gut geht.“
„Ich bin okay!“
Manni beobachtete Marco. „Bist du?“
„Klaro. War viel los zurzeit, aber das wird schon wieder. Ihr hättet euch auch wirklich nicht entschuldigen müssen. Außerdem, äh …“ Was konnte Marco noch sagen, um den beiden klarzumachen, dass es ihm im Grunde weit besser ging, als es möglicherweise im Moment den Anschein machte? Er hätte sich von Anfang an nicht so anstellen sollen. Völliger Unsinn, sich dermaßen in diese Sache reinzusteigern. Nun, da er wusste, dass mit Erik alles in Ordnung war, durfte dieses Engegefühl in seiner Brust allmählich echt verschwinden.
„Es beruhigt mich, das zu hören“, sagte Manni in dem Ton, der immer deutlich machte, dass mindestens drei weitere Bedeutungen hinter den eigentlichen Worten steckten. „Warum erzählst du uns nicht, was noch so bei dir passiert ist, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben? Ist schließlich eine Weile her.“
Marco wusste, dass er aus der Sache nicht rauskam, wenn er Manni und Hugo beschwichtigen wollte. Also berichtete er artig, was sich in den vergangenen Wochen so alles ereignet hatte.
Er sprach über seinen Chef, der stets bemüht schien, den Betrieb gegen die Wand zu fahren, sämtliche Mitarbeiter wegzuekeln und die maximal langweiligsten Aufträge an Land zu ziehen, während er es gleichzeitig schaffte, Marco ganz besonders auf dem Kieker zu haben. Er erzählte von der vollständigen Funkstille seitens Philipp, die sich bereits einige Wochen zog. Er erzählte von Giulias geplantem Umzug und dem beharrlichen Schweigen seiner Eltern, trotz des Briefs, den er ihnen geschrieben hatte. Nur über Drago schwieg er. Es fühlte sich nicht richtig an, ihn vor Hugo und Manni zu outen, oder all die anderen Dinge breitzutreten, die Drago offensichtlich lieber geheim hielt.
Hatte Marco ursprünglich geglaubt, dieser Statusbericht würde nicht mehr als ein paar Minuten einnehmen, belehrte ihn die Küchenuhr eines Besseren. Fast eine Stunde lang hatten Manni und Hugo seinen Redeschwall ertragen. „Scusa. Ihr hattet euch euren Abend sicher anders vorgestellt als von mir vollgejammert zu werden.“
Die beiden wechselten einen Blick. Manni ergriff das Wort. „Marco, wir verbringen lieber jeden Abend damit, dir bei deinem“, er malte Gänsefüßchen in die Luft, „Gejammer zuzuhören, als uns nur an einem einzigen Sorgen um dich machen zu müssen.
„Das müsst ihr ja auch nicht“, protestierte Marco.
„Irgendjemand sollte es aber tun, wenn du weiter darauf bestehst, dir keine Schwächen zu erlauben.“ Manni legte eine Hand auf Marcos Unterarm. „Ich weiß nicht, wann bei dir der Eindruck entstanden ist, dass du nicht offen über die Dinge sprechen darfst, die dich belasten, aber ich hoffe, du kannst das wieder verlernen. Es ist in Ordnung, sich schlecht zu fühlen und es ist in Ordnung, darüber zu sprechen. Das ist kein Gejammer.“
„Was hältst du davon, wenn du am Sonntag zum Essen vorbeikommst?“, schlug Hugo vor. „Was Besseres als Reste aus dem Tässchen und übriggebliebene Weihnachtsplätzchen.“
„Sofern ihr das Einkaufen und Kochen mir überlasst.“ Wenigstens das wollte Marco tun, wenn die beiden ihm schon offene Türen und Ohren schenkten.
„Dann sehen wir uns am Sonntag.“ Manni drückte noch einmal Marcos Unterarm. „Und Marco? Was die Sache mit Philipp betrifft … Hast du dich denn in den letzten Wochen bei ihm gemeldet?“
Hatte er nicht. Verdammt.
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Sorry für den verspäteten Upload, letzte Woche hat mir ein Infekt die Füße weggezogen >.<