Was zuletzt geschah:
Eriks Hoffnung, nach seinem Schulabschluss würde alles einfacher werden, erweist sich als verfrüht. Noch immer plagen ihn Panikattacken. Panikattacken, die er bisher vor Marco verschweigt, obwohl er doch schon so oft versprochen hat, ehrlich mit solchen Dingen umzugehen. Aber es gibt gerade so viele Konfliktthemen zwischen ihnen. Marcos Wunsch, Eriks Familie kennenzulernen und Eriks bevorstehender Umzug fürs Studium. Wenigstens sollte Erik ihrer Beziehung zuliebe Tübingen zurück auf Platz eins seiner Prio-Liste setzen, egal, wie sehr sein Herz nach Berlin verlangt.
Kapitel 4
„Fratellino!“ Giulia strahlte Marco entgegen. „Kommt rein, kommt rein. Come va?“
„Bene.“ Marcos Antwort ging halb in den Haaren seiner Schwester verloren, als sie ihn an sich drückte. „Und euch?“
„Auch, auch.“ Giulia sprach zu schnell, klang zu aufgesetzt, doch sie ließ Marco keine Zeit für Rückfragen. Resolut schob sie ihn zur Seite, um Erik dieselbe herzliche Begrüßung zuteilwerden zu lassen. „Ciao, Schätzchen. Himmel, bist du schon wieder gewachsen?“
„Ah, vielleicht einen halben Zentimeter.“ Erik grinste und Marco kam nicht umhin zu bemerken, dass sich ihre Größendifferenz seit ihrem Kennenlernen tatsächlich noch weiter zu seinen Ungunsten verschoben hatte. Porco dio, Erik war neunzehn, sollte er nicht allmählich aufhören, sich in die Länge zu strecken? Und weshalb tat sich bei ihm selbst schon seit Jahren nichts mehr?
Bevor ihn diese Fragen zu sehr deprimierten, wanderte Marco ins Wohnzimmer, wo sein Schwager Giovanni – minimal verzweifelt – versuchte, seiner Tochter Bianca – minimal bockig – ein spätes Mittagessen einzuflößen. „Einen winzigen Happen, Principessa.“ Eine Sekunde lang sah es aus, als landete die weichgekochte Kartoffel in Biancas Mund, letztlich endete sie aber doch in Giovannis Gesicht.
Mit einem Spucktuch, das ebenfalls bessere Tage gesehen hatte, wischte er sich Kartoffelreste von der Nase und stand auf. „Dann versuchen wir es eben später nochmal.“ Halbwegs kartoffelfrei begrüßte er erst Marco, dann Erik. „Schön, euch zu sehen. Was macht der Studienplatz, Erik? Schon was gehört?“
Erik schüttelte den Kopf. „Das wird noch ein bisschen dauern.“ Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf Bianca und ein inzwischen vertrautes Funkeln trat in seine Augen. „Hey, du. Schmeckt dir dein Essen heute nicht?“
Bianca antwortete Erik mit unverständlichem, aber eindeutig freudigem Gebrabbel.
„Wenn du es schaffst, sie davon zu überzeugen wenigstens eine einzige Kartoffel zu probieren, ist dir mein ewiger Dank sicher“, sagte Giovanni.
Schmunzelnd griff sich Erik den verwaisten Teller und bugsierte eine Kartoffel auf den Löffel. „Ich verspreche nichts.“
Während Marco die Szene vor ihm beobachtete – Eriks Kichern, Biancas zufriedenes Glucksen, umherkullernde Kartoffelstückchen – erinnerte er sich an die Zeit kurz nach Biancas Geburt und an die Angst, die ihn damals erfasst hatte.
Angst, Bianca mit einer unbedachten Bewegung zu verletzen. Angst, dass sich Giulia von ihm abwenden und ihm damit das letzte bisschen verbliebener Familie nehmen würde. Angst, seine frisch gekittete Beziehung mit Erik zu versauen.
Ein paar dieser Ängste hatten ihn nie völlig verlassen.
„Lieben alle Kinder Erik so sehr, oder ist meine Tochter ein Extremfall?“ Belustigt beobachtete Giulia Erik, der gerade ein Stückchen Kartoffel in Biancas Mund verfrachtete, das sie geräuschvoll zerkaute.
„Erik ist ein Kindermagnet und liebt es. Manchmal denke ich, er ist nur mit mir zusammen, weil er dann euch und Bianca regelmäßig sieht.“
„Hmm … Hilfst du mir mal in der Küche?“
Marco folgte seiner Schwester in den schmalen, schlauchartigen Raum, der kaum genug Platz für zwei Personen bot. Nicht unbedingt der Traum eines kochfreudigen Pärchens, aber bei den hiesigen Mietpreisen musste man wohl Abstriche hinnehmen.
„Ist alles okay zwischen euch?“, erkundigte sich Giulia flüsternd.
„Klaro ist alles okay.“
„Sicher?“ Giulia musterte ihn kritisch. „Das eben klang nämlich ganz und gar nicht danach.“
„War doch bloß ein Scherz.“
„Ach ja? Für mich klang das ziemlich ernst.“
„Quatsch!“
Anstelle einer Erwiderung, verschränkte Giulia die Arme vor der Brust und bedachte Marco mit ihrem besten Ich-sage-jetzt-nicht-was-ich-darüber-denke-weil-du-das-sehr-genau-selbst-weißt-Blick.
„Es ist echt nicht tragisch“, versicherte Marco. „Nur ein paar Kleinigkeiten, die wir klären müssen.“ Zum Beispiel, dass Erik ihm nicht ausreichend vertraute, um auf Kondome zu verzichten. Oder ihm seiner Familie vorzustellen. Marco fuhr sich durchs Haar. „Wir wissen immer noch nicht, ob und wo er einen Studienplatz bekommt. Ich meine, ich zweifle nicht daran, dass er einen Platz bekommt – das ist eher seine Befürchtung – aber was, wenn es nicht Tübingen wird? Wir reden hier ja nicht von ein paar Wochen oder Monaten, sondern von Jahren.“
„Ihr findet eine Lösung.“ Ermutigend drückte Giulia Marcos Arm. „Gibt es keine Option, gemeinsam mit Erik umzuziehen, falls er wirklich weiter weg studiert?“
„Klaro gibt es die.“ Marco starrte an Giulia vorbei aus dem Fenster. Eigentlich sollte ihm die Entscheidung leichtfallen. „Jetzt gerade läuft es hier nur einfach so gut. Ich verdiene endlich etwas mehr Geld, und bekomme in Zukunft wahrscheinlich auch mehr Verantwortung. Alle meine Freunde leben in Stuttgart. Ihr lebt in Stuttgart. Hier sind das Tässchen und das Boxstudio. Klaro will ich nicht ewig in meiner kleinen Dachgeschosswohnung braten, sondern raus aus der Stadt, aber doch nicht in eine andere Stadt.“ Da wollten noch mehr Worte aus Marco heraussprudeln, doch er hielt sie zurück. Im Grunde war alles gesagt, ab jetzt würde nur Gejammer folgen.
„Ich finde, das klingt, als bräuchtet ihr beiden ganz dringend Zeit für euch, und zwar abseits vom Alltagsstress.“
„Das löst kein einziges unserer Probleme.“
„Das nicht“, räumte Giulia ein, „aber es hilft vielleicht, eure Beziehung so weit zu stärken, dass ihr diese Dinge in Ruhe angehen könnt.“
„Vielleicht hast du recht.“ Warum quälte sich Marco schon jetzt mit der Frage, wie es weiterging, falls Erik hunderte Kilometer entfernt studierte? Schließlich standen die Chancen gut, dass er in Tübingen landete. Sie sollten lieber die gemeinsame Zeit genießen und sich darauf konzentrieren, eine Lösung für all die Herausforderungen zu finden, die sie tatsächlich beeinflussen konnten. „Wir wollten im September für ein paar Tage nach Venedig.“
„Das wird sicher toll. Venedig ist wunderschön.“
„Wenn man es sich leisten kann. Wir buchen ziemlich spät und mein Budget ist nicht superüppig, aber … Ich habe Erik lange nicht mehr so begeistert von etwas gesehen und würde ihm gerne ein bisschen was bieten.“
„Komm nächste Woche vorbei. Giovanni und ich haben einige Kontakte in der Stadt, da kriegen wir schon was organisiert.“
„Darauf hatte ich ehrlich gesagt fest gehofft.“
Giulia tätschelte seine Schulter. „Siehst du? Wenn man die Sachen Schritt für Schritt angeht, ist es plötzlich gar nicht mehr so schlimm.“ Allerdings sah sie nicht aus, als glaubte sie ihren eigenen Worten.
„Ist denn bei euch alles okay?“
Seufzend stellte Giulia die Gläser, die sie eben aus dem Schrank geholt hatte, auf dem Küchentresen ab. „So mehr oder weniger.“
„Bedeutet?“
„Giovannis Job wackelt. Die Leute in der Werkstatt sind jetzt seit Monaten in Kurzarbeit und es gibt Gerüchte, dass bald jede Menge Stellen abgebaut werden.“
„Cazzo. Aber gute Mechaniker werden doch sicher überall gesucht?“
„Nicht mitten in der Finanzkrise.“ Sorgfältig mied Giulia Marcos Blick, während sie die Gläser mit Saftschorle füllte. „Ich werde demnächst wieder anfangen zu arbeiten. Im Kindergarten sind sie froh über jede Unterstützung, aber selbst wenn ich Vollzeit einsteigen würde, was ich eigentlich nicht will, reicht mein Gehalt einfach nicht, um uns drei dauerhaft über Wasser zu halten.“
„Kann ich irgendetwas tun?“
Giulia wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, bevor sie Marco zwei Gläser reichte. „Sag uns Bescheid, wenn du von einer offenen Stelle hörst. Mehr fällt mir gerade nicht ein.“ Sie zeigte ein wackliges Lächeln. „Wird schon alles gut werden.“
„Ganz sicher.“ Marco hoffte, dass sie recht behielten.
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„Ist alles in Ordnung mit Giovanni und Giulia?“
Eriks Kopf lag schwer auf Marcos Schulter, seine langen Beine über Marcos Schoß drapiert. Straßenlaternen tauchten die Wohnung in diffuses Licht, eine Brise wehte durch das geöffnete Fenster und brachte den Duft frisch geschnittenen Thymians mit sich. „Warum fragst du?“
„Die beiden haben angespannt gewirkt. Diese Art von Anspannung, bei der du hoffst, dass sie sonst niemandem auffällt.“
Manchmal vergaß Marco, wie aufmerksam Erik sein konnte, wenn seine eigenen Dämonen ihm den Raum dafür ließen. „Giovanni verliert vielleicht seinen Job.“
„Ah, shit.“
„Es steht noch nicht fest, aber Giulia macht sich natürlich Sorgen.“
„Können wir die beiden irgendwie unterstützen?“
„Keine Ahnung. Hoffentlich.“ Marco wickelte Eriks Haarsträhnen um seinen Zeigefinger und erntete dafür ein zufriedenes Seufzen. Vor einem Jahr hatten Eriks Haare zur absoluten Tabuzone gezählt. Das galt beim Sex weiterhin, doch an einem Abend wie diesem, an dem sie behaglich auf dem Sofa kuschelten, verwandelte sich Erik in nachgiebiges Wachs, wenn Marco rhythmisch mit den Fingern durch seine Strähnen kämmte.
„Was ist so witzig?“ Wohlige Schläfrigkeit überlagerte das Misstrauen in Eriks Augen.
„Ich dachte nur gerade, dass beide Enden deines Körpers einen ziemlich effektiven Aus-Knopf haben.“ Zur Verdeutlichung tätschelte Marco erst Eriks Kopf, dann Eriks Füße, bei denen eine Massage ebenfalls innerhalb weniger Minuten zu einem komatösen Zustand führte.
Erik fing die Hand ab, die auf seinen Füßen ruhte und leitete sie einige Etagen höher. „Willst du mich denn nicht lieber anmachen?“
„Wirklich? Verstehst du das unter Dirty Talk?“ Seiner Worte zum Trotz strich Marco gehorsam über Eriks Schritt, zog nach ein paar ungelenken Versuchen, die erwachende Erektion sinnvoll zu umfassen, seine Hand jedoch wieder zurück. „Weg mit der Hose.“ Er hatte den Satz spielerisch gesagt, doch da huschte ein Ausdruck über Eriks Züge, der viel zu ernst aussah. „Scusa, habe ich–“
„Willst du mich? Ich meine … Willst du in mich.“
Perplex starrte Marco Erik an, versuchte, einen Hinweis auf die richtige Antwort aus dessen Gesicht herauszulesen.
Erik starrte zurück, ein Lächeln auf den Lippen und eine Furche zwischen den Brauen. „Also?“
Marco wollte. Er wollte Erik, wollte ihn mit Haut und Haar, doch ihr letzter Versuch saß ihm noch in den Knochen.
Analsex hatte immer zu den komplizierteren Themen zwischen ihnen gehört. In der Vergangenheit hatte Marco mit anderen Partnern ausprobiert passiv zu sein und jede Sekunde davon gehasst. Erik hingegen konnte es zwar in der Theorie durchaus genießen, schleppte jedoch auch eine Menge negativer Erinnerungen daran mit sich herum, die es ihm schwer machten, sich zu entspannen. Das galt gleich doppelt bei Stress. Wenig verwunderlich also, dass sie sich auf diese Weise das letzte Mal lange vor Beginn seiner Abschlussprüfungen nähergekommen waren.
Aber ob der Zeitpunkt jetzt so viel besser passte?
„Du darfst ‚Nein‘ sagen“, stellte Erik klar. Marco glaubte, einen Hauch Enttäuschung aus seinen Worten herauszuhören. „Oder ‚Ja‘. Je nachdem, worauf du Lust hast. Ah, ich wollte nur sagen, dass ich Lust dazu hätte.“
„Ich auch.“
Die Enttäuschung verwandelte sich in ein zaghaftes Lächeln. „Ja?“
„Sì.“
„Dann …“
„Ziehst du jetzt die Hose aus. Habe ich doch gerade gesagt.“
Spitzbübisch grinsend trat Erik ein paar Schritte vom Sofa zurück, bis er direkt vor dem Dachgeschossfenster stand. Das Licht der Straßenlaternen strahlte seinen Rücken an, verwandelte sein zerzaustes Haar in einen goldenen Kranz. Mit quälend langsamen Bewegungen öffnete er den ersten Knopf seines Hemds, dann den zweiten und den dritten. Nach viel zu langen Sekunden fiel der Stoff raschelnd zu Boden.
Eriks Haut glomm im Laternenlicht, mit Nippeln, die sich dunkel von seiner Brust abhoben, Schultern, breiter als man im angezogenen Zustand erwartete, sehnigen Armen und einem flachen Bauch, der in schmale Hüften überging.
Gemächlich nestelte er an seinem Hosenknopf, öffnete ihn mit einem leisen ‚Plopp‘. Er machte sich nicht die Mühe, seine Unterhose gesondert auszuziehen, sondern hakte die Daumen in den Bund und entledigte sich beider Kleidungsstücke gleichzeitig. Am Ende streifte er sich unauffällig die Socken von den Füßen.
Nun vollständig nackt schritt er auf Marco zu und holte sich einen Kuss, der von spielerisch bald in ausgehungert abglitt. Ihre Lippen fest aufeinandergepresst, stahlen sich Eriks frostige Hände unter Marcos T-Shirt, strichen über Brust und Bauch. Ein Bauch mit mehr Polster, als Marco gefiel, ganz besonders verglichen mit Eriks vom Schwimmen trainierten Körper.
„Alles in Ordnung?“ Erik löste den Kuss, um Marco in die Augen zu sehen. „Soll ich dich anders anfassen?“
„Nah, alles gut.“ Resolut verdrängte Marco seine Selbstzweifel. Erik hatte sich nie über seinen Körper beschwert, warum also jammern? Bevor er länger zögern konnte, schlüpfte er aus seinem Shirt. Der Stoff hatte den Boden noch nicht berührt, da grub Erik bereits seine Finger in Marcos Brusthaar und hob die Hüften an, damit Marco Cargoshorts und Unterwäsche abstreifen konnte.
Jeder Barriere zwischen ihren Körpern entledigt, fanden ihre Lippen wieder zueinander, Zungen und Zähne hinterließen feuchte Spuren und zarte Bisse. Eriks Hände wanderten von Marcos Brust über seine Schultern bis zu seinem Nacken, wo sie verharrten.
Auch Marco schickte seine Hände auf Wanderschaft. Liebevoll strich er Eriks Rücken hinab, umfasste seinen Po. Langsam genug, um Erik Zeit für Protest zu geben, näherte er sich seiner Öffnung.
Eriks Stöhnen vibrierte gegen Marcos Lippen. „Gleitgel und Kondome sind unterm Bett?“
Marco brummte zustimmend, weigerte sich jedoch, Erik schon aufstehen zu lassen. Er wollte ihn halten, nochmal Zeuge dieses Stöhnens werden. Ihre Erektionen rieben gegeneinander und er nutzte eine Hand, um sie noch enger zusammenzubringen.
Prompt belohnte Erik ihn mit einem weiteren Stöhnen. Nicht laut – Erik wurde nie laut – aber langgezogen und tief, als käme es aus einem Teil seines Innersten, zu dem niemand anderer Zugang erhielt.
„Wenn du so weitermachst, dann …“, warnte Erik.
„Okay, okay.“ Marco versetzte ihm einen Klaps auf den Po. „Hol das Gleitgel.“ Und die Kondome. Heute würde sich Marco nicht beschweren. Nicht, solange Eriks Augen so glänzten, sich seine Lippen so kussbereit öffneten und sein Körper so fügsam auf jede Berührung reagierte.
Jedenfalls, bis er sich Marco entzog, um die kleine Holztruhe unter seinem Bett hervorzufischen. „Wir müssen nachkaufen“, sagte er nach einem kurzen Blick in ihr Inneres. „Kondome, zumindest.“
Marco brummte mit all dem Enthusiasmus, den er für den Kauf von etwas, auf das er liebend gern seit Monaten verzichten würde, aufbringen konnte. Selbstverständlich entging das Erik nicht. Er musterte Marco einige Sekunden, bevor er die Kiste verstaute und zum Sofa zurückkehrte.
Gleitgel und Kondome landeten neben Marco, Erik auf seinem Schoß. Er küsste Marcos Wangen, seine Ohrläppchen, seine Schläfen und endete an dem Knubbel an Marcos Nasenwurzel, den ihm ein zu seinen Ungunsten verlaufener Boxkampf eingebracht hatte. „Ich will dich in mir.“
Fahrig tastete Marco nach der Gleitgeltube, schnappte den Verschluss mit dem Daumen auf und quetschte einen großzügigen Klecks davon auf die Finger seiner rechten Hand. Erik zuckte kichernd zusammen, als diese ihr Ziel fanden, doch sein Kichern verwandelte sich schnell in ein zufriedenes Seufzen. „Hmm.“
Marco küsste ihn, sanft und mit derselben Geduld, mit der seine Finger Eriks Öffnung erkundeten. Langsam, niemals drängend, kreiste er um diesen intimen Punkt, ohne einen Versuch zu starten, einzudringen. Erik würde ihn schon wissen lassen, wenn die Zeit dafür gekommen war. Auf keinen Fall wollte er die letzte Erfahrung zu wiederholen. Noch immer stand ihm Eriks Gesicht zu deutlich vor Augen, schmerzverzerrt, die Lippen zu einem blassen Strich zusammengepresst.
„Marco?“ Kein Schmerz, nur Unsicherheit in Eriks Stimme. „Warum hast du aufgehört?“
„Scusa, ich …“ Nicht nur Marcos Finger hatten sich ohne sein bewusstes Zutun zurückgezogen, auch seine Erektion gehörte der Vergangenheit an. Unfähig, Erik in die Augen zu sehen, lehnte er die Stirn gegen dessen Schulter. „Was, wenn es dir wieder wehtut?“
„Dann hören wir auf“, erwiderte Erik nüchtern. „Haben wir letztes Mal doch auch.“
Genügte das? Wollte Marco ein weiteres Mal Zeuge von Eriks innerem Kampf werden, bis dieser endlich akzeptierte, dass es heute nicht besser würde, egal, wie sehr er sich zu entspannen versuchte? Wollte er sich erneut dem Gefühl des Versagens aussetzen, wenn sich seine eigene Erektion auf Nimmerwiedersehen verabschiedete? Und würden sie danach wieder nebeneinander liegen, darum bemüht, dem Abend etwas Schönes abzuringen, während jeder Gedanken nachhing, die er sich nicht laut auszusprechen traute?
Eriks Hand an Marcos Kinn zwang ihn, in graue Augen zu blicken. „Sollen wir lieber aufhören? Oder es uns einfach nur so machen?“
„Nah. Das heißt, klaro können wir das machen, wenn du magst, aber …“ Was ‚aber‘? Warum zur Hölle stellte sich Marco so an? „Wir hören auf, wenn es dir weh tut, ja?“
Ein Schmunzeln lag auf Eriks Lippen, als er sich vorbeugte und sie auf Marcos drückte. „Glaub mir, darüber brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen.“ Mit sanfter Stimme und noch sanfteren Berührungen fügte er hinzu: „Es wird nicht wie letztes Mal, versprochen. Die Klausuren sind rum, ich bin weniger gestresst, und wir tun das hier, weil wir es wollen und nicht, weil wir das Gefühl haben, dass das letzte Mal zu lange zurück liegt und wir mal wieder sollten.“
Die schlichte Wahrheit in Eriks Worten traf Marco unerwartet. Nicht, dass er es sich gerne eingestand, aber ihrem letzten Versuch hatte tatsächlich ein Hauch von Pflichterfüllung angehaftet.
„Okay?“, fragte Erik.
„Okay.“ Widerstandslos ließ Marco seine Hände zurück zu Eriks Po führen.
Erik schien entschlossen, keinen Raum für erneutes Zögern zu lassen. Bereitwillig bot er seinen Hals dar, keuchte unter Marcos Zähnen, die rasch verblassende Halbmonde auf seiner zarten Haut hinterließen, presste seinen Po gegen Marcos vorsichtig tastende Finger.
Ihre Körper erbebten unter einem gemeinsamen Schauer, als Marcos Fingerspitze in ihn eindrang. „Okay, so?“
„Mhm.“ Eriks Zunge strich über Marcos Ohrläppchen. „Sehr okay.“
Behutsam lernten sie sich neu kennen. Marco tastete sich heran, aufmerksam, achtsam, immer darauf gefasst, einen Schritt zurückzutreten, falls Eriks Lust in Unbehagen umschlug. Stattdessen trieb Erik ihn vorwärts, mal durch Worte, mal durch Bewegungen.
Es wäre gelogen, zu behaupten, dass von da an alles wie von selbst lief. Eriks Nägel krallten sich tief in Marcos Schultern, als dessen Glied zum ersten Mal in ihn eindrang. Tapfer versuchte er, den Schmerz nicht auf seinem Gesicht zu zeigen, dennoch hätte Marco beinahe abgebrochen. Doch der Moment kam und ging.
Erik entspannte sich, seine flache Atmung nahm einen anderen Klang an und seine Finger lockerten ihren Griff.
„Alles okay?“, fragte Marco, von einem inneren Konflikt zerrissen. Einerseits sorgte er sich um Erik; andererseits … Andererseits umfasste ihn Erik so unfassbar heiß und eng, ein Gefühl, in dessen Genuss er seit Monaten nicht mehr gekommen war.
„Mhm.“ Nach einem langen Atemzug ließ sich Erik tiefer sinken, bedächtig aber unablässig, bis er Marco so weit in sich aufgenommen hatte, wie es Anatomie und Stellung erlaubten.
Marco schloss die Augen, spürte das weiche Sofapolster in seinem Rücken, Eriks Gewicht auf seinem Schoß und diese unfassbare Hitze, die seinen Hüften ein ungeduldiges Zucken entlockte. Seine Lippen fanden Eriks, erschufen eine weitere Verbindung ihrer Körper. Er eroberte Eriks Mund, so, wie er einen ganz anderen Teil seines Körpers eroberte.
Anfänglich tat sich wenig an Eriks Erektion, das hieß, an deren Mangel. Im Gegensatz zu früher ließ sich Marco davon nicht länger verunsichern. Alles, was es brauchte, waren Geduld und geschickte Hände. Sie folgten dem Rhythmus, den Eriks Hüften vorgaben, wurden nur schneller, wenn Marcos eigene Lust ihm für kurze Zeit die Kontrolle raubte. Und siehe da, das Blut fand seinen Weg.
Eriks Stöhnen verwandelte sich in raues Ächzen und sein Glied pulsierte in Marcos Hand. „Marco …“
Nochmal. Sag meinen Namen noch einmal.
„Marco …“
Bitte mich darum, kommen zu dürfen.
„Lass mich kommen.“
Keine Bitte, aber nahe dran. Marcos Finger umschlossen Eriks Glied fester, sein Daumen spielte mit dem empfindsamen Frenulum, bis Erik ein protestierendes Wimmern ausstieß. Nun ja, oberflächlich protestierend, denn sein Rücken bog sich durch, seine Nägel krallten sich in Marcos Schultern, und gleich darauf benetzte heißer Samen Marcos Bauch. Einzelne Spritzer schafften es sogar bis zu seinem Schlüsselbein.
Noch vor dem Abklingen der letzten Welle seines Höhepunkts ließ Erik Marco aus sich herausgleiten. Mit geübten Händen streifte er das Kondom von dessen Erektion, wickelte es in ein Taschentuch und legte es zur Seite, bevor er seine Aufmerksamkeit erneut Marco zuwandte. Ein spitzbübisches Lächeln umspielte seine Lippen. „Schnell oder langsam?“
„Schnell.“
Marco schloss die Augen, als Erik seiner Bitte Folge leistete, und ging in Gedanken einige seiner Lieblingsszenarien durch, bis er an einem hängenblieb.
Erik, nackt, die Arme weit über den Kopf gestreckt, die Handgelenke mit Fesseln am Bettpfosten befestigt. Gänsehaut, die die feinen Härchen auf seinem Körper aufrichtete, die Lippen einen Spalt geöffnet, die Augen hinter einem Stück schwarzen Stoffs verborgen. Seine Atmung ging flach, Röte kroch über seine Brust und eine Aura nervöser Aufgeregtheit umgab ihn.
Er zuckte zusammen, als Marco seine Hüfte berührte, entspannte sich jedoch wieder, sobald er realisierte, dass ihn nur zärtliches Streicheln erwartete. Um ihn nicht auf falsche Ideen zu bringen, verpasste Marco ihm einen Klaps gegen den Oberschenkel.
„Aua!“
Ein weiterer Klaps, auf dieselbe Stelle. „Nicht sprechen.“ Ein dritter Klaps, einfach, weil Marco es konnte. „Warst du brav?“
„Ja“, hauchte Erik.
„Hast du meine Anweisungen befolgt?“
„Habe ich.“
„Beweis es mir.“
Gehorsam spreizte Erik die Beine, präsentierte Marco seine Öffnung. Vorbereitet und erwartungsvoll, so, wie Marco sie wollte.
„Gut gemacht.“ Sanft strich er über Erik Innenschenkel, nahm Maß mit Augen und Fingern. Nahe der Hoden – aber nicht so nahe, dass er Gefahr lief, sie versehentlich zu treffen – platzierte er den ersten Klaps. Kräftiger diesmal, die nächsten Schläge folgten ohne lange Pausen.
Wimmernd wand sich Erik in den unnachgiebigen Fesseln, folgsam genug, die Beine nicht zusammenzuklappen. Seine Erektion und der Tropfen klarer Flüssigkeit an ihrer Spitze zeigten deutlich, dass er weit weniger litt, als es den Anschein machte. Ein kehliger Laut entkam seinen Lippen, als Marco von seinen Innenschenkeln abließ und den Daumen gegen seine Öffnung presste, ohne merkliche Anstrengung in ihn eindrang.
Marco wollte mehr. Er packte Eriks Füße, warf sie sich über die Schulter und brachte sich in Position. Dann nahm er Erik, schnell und hart, bis Erik ihn anflehte aufzuhören, ohne den Ansatz zu machen, ihr Safeword auszusprechen. Irgendwann verwandelte sich Eriks Flehen in gutturale Laute, unverständlich und animalisch. Keine Minute später kam er, bedeckte seinen Körper vom Bauchnabel bis zum Kinn mit weißen Klecksen.
Marco hörte nicht auf, zog sich nicht zurück. Erik ertrug das hohe Tempo, ertrug die Reibung – sogar nach seinem eigenen Höhepunkt. Nicht stumm, nicht klaglos, aber er ertrug, was Marco ihm gab.
Zuckend ergoss sich Marco in Erik.
In seiner Hand, genaugenommen, denn mit dem Ausklingen seines Orgasmus löste sich seine Fantasie auf und er kehrte zu einem Sofa zurück, auf dem neben ihm ein sehr realer Erik saß, der nichts von dem, was Marco in seiner Fantasie begehrte, jemals zulassen würde. Ein Erik, den Marco für immer verjagte, wenn er auch nur vorschlug, etwas in diese Richtung auszuprobieren.
„Gut?“, fragte dieser Erik schmunzelnd, während er Marco ein Taschentuch reichte.
„Sì.“ Behelfsmäßig putzte sich Marco ab. Derweil versteckte Erik ein herzhaftes Gähnen hinter der Hand. „Erst Bad, dann Bett, würde ich sagen.“
~~~~~~~~~~
Still lag Marco auf dem Bett, Erik in seinen Armen, und wartete darauf, dass dessen Atemzüge tief und ebenmäßig wurden. Er würde nicht lange warten müssen, das tat er nie. Im Gegensatz zu ihm, gehörte Erik zu dem Typ Mann, der nach dem Höhepunkt rasch in einen gelösten Schlaf sank.
„Kann ich dich etwas fragen?“
Wohl abgesehen von heute. „Klaro. Schieß los.“
„Gibt es etwas, das du gerne einmal ausprobieren würdest? Beim Sex, meine ich.“
„Wie kommst du denn jetzt darauf?“
Erik zuckte mit den Schultern, drehte den Kopf aber weit genug, um Marco anzusehen. „Ich dachte nur, es gäbe da vielleicht was.“
Nichts, das ich dir jemals erzählen würde. Warum fragte Erik überhaupt? „Findest du unseren Sex etwa langweilig?“
„Nein. Höchstens etwas eingefahren.“
„Eingefahren?“
„Das ist keine Kritik, wirklich nicht.“ Seufzend richtete sich Erik auf. „Ich weiß nur, dass ich bei dem Thema nicht ganz einfach bin. Gerade deshalb will ich nicht, dass du vielleicht Hemmungen davor hast, mit mir darüber zu sprechen. Also, ob dir etwas fehlt, oder du mal etwas anderes versuchen möchtest, oder etwas in dieser Art.“
„Mir fehlt nichts.“
„Ganz sicher?“ Erik musterte Marco, als ahnte er, dass er angelogen wurde, ohne den Finger darauf legen zu können, was denn nun nicht stimmte. „Wunschlos glücklich?“
Etwas in Marco regte sich, allerdings nichts Angenehmes. Eine Schlange, die sich in seiner Brust wand, giftig und nur zu bereit, aus seiner Kehle hervorzukriechen, um zuzuschnappen. Erik tat, als müsste Marco einfach nur lieb Bitte, bitte sagen und schon erfüllte er ihm alle Wünsche. Als ob. „Du weißt, was ich mir wünsche.“
„Ah, ehrlich gesagt, weiß ich das nicht.“
„Ich will deine Familie kennenlernen.“
Marco hatte mit Ablehnung und Ausflüchten gerechnet, nicht damit, dass Erik lachte. „Nur um das klarzustellen. Ich darf nicht einmal Giulias Namen erwähnen, wenn wir nackt in deinem Bett liegen, aber du darfst gleich meine komplette Familie thematisieren, obwohl ich dich eigentlich gerade nach sexuellen Wünschen gefragt habe? Da misst du aber ganz schön mit zweierlei Maß.“
„Ich meins ernst, Erik.“ Selbst in Marcos Ohren klang seine Stimme alles andere als freundlich. Er atmete einmal tief durch, bevor er weitersprach. „Das ist mir wichtig.“
„Ich weiß.“ Geschlagen sank Erik zurück in die Kissen und starrte an die Zimmerdecke. „Das weiß ich.“
„Und trotzdem ignorierst du es!“
„Tue ich nicht! Es ist nur …“
„Nur was? Was? Schämst du dich so sehr für mich?“
„Natürlich nicht!“
„Was ist es dann?“ Zu laut, zu aggressiv. Marco sah, wie sich Erik vor ihm verschloss. Als fiele ein Vorhang vor seine Züge, der ihn vor harschen Worten abschirmte. „Scusa. Ich wollte dich nicht so anfahren.“
„Mir war nicht klar, wie sehr dich das verletzt.“
Marco öffnete den Mund, um zu widersprechen, besann sich jedoch eines Besseren. Erik schien bereit, ihm zuzuhören, also sollte er die Gelegenheit verflucht nochmal nutzen. „Ich verstehe es einfach nur nicht. Du bist wenigstens einmal im Monat bei deiner Tante zum Essen, deine Familie weiß, dass es mich gibt“, jedenfalls behauptest du das, „ist es da wirklich so viel verlangt, mich mal mitzunehmen?“
„Ist es nicht“, erwiderte Erik kleinlaut.
„Wo ist dann das Problem?“
„Meine Familie ist das Problem, Marco. Nicht du.“ Erik schloss die Augen und schwieg. Nach einer Weile stieß er ein langgezogenes Seufzen aus. „Meine Tante und mein Onkel sind sehr auf Status bedacht. Ihre Wohnung, ihre Kleidung, der Job meines Onkels und die Tatsache, dass meine Tante nicht arbeiten muss … Sie achten auf diese Dinge.“
Also bin ich dir wirklich nicht gut genug. Marco stellte sich seit Monaten darauf ein, Erik endlich zu diesem Eingeständnis zu bewegen, doch nun, an seinem Ziel angekommen, schmerzten die Worte umso mehr. „Du denkst, dass mich deine Familie für einen Loser hält.“
Anstatt zu leugnen, schwieg Erik lieber.
„Wow. Okay.“ Marco drehte sich zur Seite. „Danke für deine Ehrlichkeit, schätze ich.“
„Ach, Marco. Damit sage ich doch nicht, dass du kein wahnsinnig toller Mensch bist. Ich sage nur, dass sie das wahrscheinlich nicht sehen werden.“
„Dann kannst du ihnen gegenüber ja einfach weiter so tun, als ob es mich gar nicht gibt!“
Marco hatte erwartet, dass Erik es dabei bewenden ließ, sie das Thema fortan mieden und damit dem stetig wachsenden Berg ungeklärter Konflikte einen weiteren Brocken hinzufügten. Stattdessen schmiegte sich Erik an seinen Rücken.
„Bitte sei nicht böse. Ich will nur nicht, dass du dich schlecht fühlst, weil meine Familie dich möglicherweise – wahrscheinlich – nicht mit dem Respekt behandelt, den du verdient hast.“
Marco antwortete nicht. Einerseits, weil er nicht wusste, was er sagen sollte, andererseits, weil er nicht einschätzen konnte, was tatsächlich aus seinem Mund kam, wenn er ihn öffnete. Die Schlange in seiner Brust wuchs, zerdrückte ihm Herz und Lungen.
„Ich kann dich nächste Woche mitnehmen.“
„Nicht, wenn du mich eigentlich gar nicht dabeihaben willst.“
„Aber ich will dich doch dabeihaben.“ Erik hauchte Küsse auf Marcos Nacken, die wie Nadeln stachen. „Natürlich will ich, dass du meine Familie kennenlernst. Dass sie dich kennenlernen. Ich habe schlicht Angst, dass sie etwas sagen oder tun, das einen von uns beiden verletzt.“
„Einen von uns beiden?“ Ob Marco wollte oder nicht, bei Eriks Worten sprang sein Beschützerinstinkt an. „Warum sollten sie dich verletzen?“
Erik schnaubte. „Meine Familie hält mich für nicht ganz dicht. Allmählich lernen sie, es zu kaschieren, aber wenn ich sie mit irgendetwas außerhalb ihrer Komfortzone konfrontiere – und die Tatsache, dass ich einen Freund habe, bewegt sich weit außerhalb – dann reagieren sie gelegentlich, ah, sagen wir, suboptimal.“
„Bin ich außerhalb ihrer Komfortzone, weil ich ein Mann bin, oder weil ich ich bin?“
„Du bist außerhalb ihrer Komfortzone, weil du dich überhaupt auf mich eingelassen hast. Nach allem, was in den letzten Jahren passiert ist, sind sie überzeugt, dass ich auf ewig kaputt und beziehungsuntauglich bin.“
Nun drehte sich Marco doch zu Erik, um ihn in die Arme zu schließen. „Mir war nicht klar, dass die Situation zwischen euch so schwierig ist.“
„Ist sie nicht. Jedenfalls, wenn wir bestimmte Themen meiden.“ Erik lachte humorlos. „Solange wir nicht über irgendetwas ansatzweise persönliches sprechen, ist alles gut.“
Marco zog ihn näher zu sich. „Klingt anstrengend.“
„Manchmal ist es das. Willst du dir das wirklich antun?“
„Sì.“
„Na schön, dann gebe ich meiner Tante Bescheid, dass sie sich auf einen Gast mehr einstellen soll.“
„Grazie. Das bedeutet mir viel.“
„Mhm.“ Erik rutschte tiefer, um seine Wange gegen Marcos Brust zu schmiegen. „Wir könnten in Zukunft auf Kondome verzichten.“
Unschlüssig, was an dieser Aussage ihn mehr verunsicherte – der plötzliche Themenwechsel, oder der Inhalt – starrte Marco auf Eriks Scheitel. „Wiederhol das.“
„Ich sagte, wir könnten in Zukunft auf Kondome verzichten. Du hasst sie doch eh, oder etwa nicht?“
„Ich hasse sie nicht direkt, aber … Warum jetzt?“
„Weil mir bewusstgeworden ist, dass ich meinen Ängsten keinen so großen Raum geben darf.“
Unauffällig kniff sich Marco in die Seite, um sicherstellen, dass er dieses Gespräch nicht träumte. Neben dem Kennenlernen von Eriks Familie waren Kondome das Streitthema zwischen ihnen. Er hätte gerne schon vor Monaten auf sie verzichtet, doch selbst nach ihren negativen Testergebnissen, hatte sich Erik bis zuletzt geweigert.
Marco störte sich weniger an den Kondomen per se, ihn verletzte die Aussage, die hinter Eriks Weigerung steckte: Tests stellten eine Momentaufnahme dar. Wenn Marco fremdging und sich dabei etwas einfing …
Allerdings ließ sich nur schwer gegen Eriks Ängste diskutieren, denn sie beruhten auf seinen Erlebnissen mit dem Mann, den er aus irgendeinem Grund noch immer als seinen Ex bezeichnete, anstatt zu sagen, was er wirklich war: Ein Missbrauchstäter, der die Naivität und Einsamkeit eines trauernden Jungen ausgenutzt hatte.
Der damalige HIV-Test war zum Glück negativ ausgefallen, doch Marco konnte Erik kaum einen Vorwurf daraus machen, diese Erfahrung niemals wiederholen zu wollen. Dennoch gewann manchmal sein Frust die Oberhand, so leid ihm das im Nachhinein tat. Es fühlte sich beschissen an, in dieselbe Ecke gestellt zu werden, wie dieser widerliche Kerl, der weiterhin unbehelligt herumlief, vermutlich auf der Suche nach dem nächsten Opfer. Einmal hatte Marco ihn in die Finger bekommen und bis zum heutigen Tage bereute er es, losgelassen zu haben.
„Marco?“ Durch den zugezogenen Vorhang vor Marcos Bett drang kaum Mondlicht, doch der fahle Schein reichte, die Sorge in Eriks Augen zu beleuchten. „Habe ich etwas falsches gesagt?“
„Quatsch.“ Marco zog ihn an sich, bis sein Herz weniger klopfte und er sicher sein konnte, dass sich der Hass, den er für Eriks Ex empfand, nicht länger auf seinem Gesicht zeigte. „Wir müssen nicht auf Kondome verzichten, wenn du dich damit unwohl fühlst.“
„Ich will wenigstens versuchen, mich darauf einzulassen.“
„Okay.“
„Aber … du müsstest mir versprechen keine Diskussionen anzufangen, falls ich doch einen Rückzieher mache.“
„Werde ich nicht.“
Erik atmete hörbar auf. „Das ist gut. Danke.“
Stille legte sich über ihre verschlungenen Körper und nach ein paar Minuten schien Erik endlich eingeschlafen zu sein.
„Marco?“
Offensichtlich nicht. „Hm?“
„Als ich das allererste Mal bei dir war, das heißt, als wir das allererste Mal Kondome gebraucht haben, lagen in deiner Kiste auch noch Handschellen und, ah, anderes. Was ist damit passiert?“
Hitze schoss in Marcos Wangen, breitete sich über seinen Nacken und seine Brust aus. „Ich weiß nicht, was du meinst. Da sind keine Handschellen in der Kiste.“
„Jetzt nicht mehr, aber damals habe ich sie mir sicher nicht eingebildet. Ich will auch nicht nachbohren, wenn dir das unangenehm ist, ich dachte nur, falls das etwas ist, das dir gefällt, können wir darüber reden. Mehr wollte ich eigentlich gar nicht sagen.“
Peinlich berührt schloss Marco die Augen, was kaum dabei half, das Gespräch, in dem sie gerade steckten, auszublenden. Warum hatte er damals nicht daran gedacht, das verfluchte Spielzeug wegzuräumen?
Die Frage konnte er sich leicht selbst beantworten: Weil er nach dem wackligen Start ihrer Beziehung davon ausgegangen war, dass noch Monate verstrichen, bevor sie auch nur in die Nähe einer Aktion kamen, für die man Kondome benötigte. Und dann hatte Erik ihn überrascht.
Das Schweigen zwischen ihnen zog sich wie alter Kaugummi und Marco fasste sich ein Herz. „Manchmal …“ Schon versagtem ihm erneut die Worte.
„Manchmal was?“, hakte Erik sanft nach.
„Ich weiß auch nicht. Manchmal übernehme ich gerne die Kontrolle, schätze ich. Bin dominant.“
„Dominant.“
„Sì.“
„Also bist du derjenige, der fesselt, nicht der, der gefesselt wird?“
„Sì.“
„Dann waren die Nippelklemmen auch für deine Partner gedacht und nicht für dich?“
Porco dio. Für einen Augenblick hatte sich Marco der Hoffnung hingegeben, wenigstens dieses Detail wäre Eriks Aufmerksamkeit entgangen. „Ich will gar nicht wissen, was du jetzt über mich denkst“, murmelte er kleinlaut. Ihre Beziehung schien gerade wieder die Kurve gekriegt zu haben, das Letzte, das er wollte, war, Erik zu verschrecken. „Bitte glaub mir, dass es mir nicht darum geht, dir Schmerzen zuzufügen. Das will ich nicht. Niemals. Es ist nur … Ich weiß auch nicht, manchmal erregt mich der Gedanke, dass mein Partner diese Schmerzen will. Oder eher, dass er sie mir zuliebe erträgt. Cazzo, das klingt schrecklich, wenn ich es laut ausspreche.“ Feingliedrige Finger pressten sich gegen seine Lippen, ließen ihn verstummen.
„Marco, stopp. Du musst dich doch nicht rechtfertigen.“
„Ich will nur nicht, dass du einen falschen Eindruck bekommst“, murmelte Marco. „Ich will dir nicht wehtun.“
„Das weiß ich doch. Außerdem weiß ich, was BDSM ist.“ Erik schnaubte amüsiert. „Naja, zumindest ist mir der Begriff in den Weiten des Internets schonmal unterkommen. Zum Experten macht mich das sicher nicht, aber ich denke, ich habe eine ungefähre Vorstellung, was du meinst.“
Marco schluckte, unfähig, Laute zu formulieren, die wenigstens grob an Worte erinnerten.
„Ist das etwas, das du mit mir ausprobieren willst?“ Nach einigen stillen Momenten versuchte Erik es mit einer anderen Frage. „Hast du sowas mit anderen gemacht, bevor du mich kennengelernt hast?“
„Manchmal“, gab Marco zu.
„Fehlt es dir?“
„Manchmal.“
Erik setzte sich auf und blickte auf Marco herab. Unmöglich, seine Mimik zu lesen. Lag es an den Schatten, oder hatte sich die Stressfalte zwischen seinen Brauen gebildet? Formte sich dieser harte Zug um seinen Mund als Vorbote schneidender Worte? Doch anstatt Marco mitzuteilen, wie abstoßend er ihn fand, legte Erik seine Hand auf dessen Brust, genau über seinem Herzen, und ließ sie dort ruhen. „Würdest du es gerne mit mir ausprobieren?“
„Ich weiß nicht“, krächzte Marco überfordert.
„Weil es dich nicht mehr anspricht, oder weil du Angst hast, es würde mir nicht gefallen?“
„Keine Ahnung.“ Warum log Marco? Wie oft hatte er dieses Gespräch – na gut, nicht exakt dieses Gespräch, aber ungefähr in diese Richtung – in Gedanken geführt? Nun präsentierte sich Erik ihm offen und entgegenkommend und er nutzte es nicht. Das war doch Quatsch. „Letzteres, ehrlich gesagt. Ich weiß, wie wichtig es für dich ist, Kontrolle beim Sex zu haben und genau die würde ich dir dabei wegnehmen.“
„Aber nicht völlig, oder? Es gibt Safewords, richtig?“
„Schon.“
„Und du würdest aufhören, wenn ich es nutze?“
„Klaro würde ich das!“
Erik schwieg für einen Moment, seine Brauen in angestrengter Konzentration zusammengezogen, während seine Finger zarte Kreise durch Marcos Brusthaar zogen. Schließlich nickte er. „Dann würde ich es gerne ausprobieren.“ Sein Blick huschte zu Marco. „Sofern du das auch möchtest, natürlich.“
Marco zwang sich, seinen offenstehenden Mund zu schließen. „Du willst, dass ich dich fessle?“
„Mhm.“ Erik neigte den Kopf. „Ist das denn alles, was du gerne mit mir anstellen würdest? Oder gibt es da noch mehr?“
„Äh …“
„Die Nippelklemmen zum Beispiel?“ Erik kicherte. „Oder“, sein Kichern verwandelte sich in Gelächter, „mir den Hintern versohlen?“
Enttäuscht schob Marco seine Hand weg. „Du findest das lächerlich.“
Eriks Lachen erstarb. „Nein, gar nicht. Es ist nur“, er zögerte, „ungewohnt, schätze ich. Und ja, möglicherweise auch ein wenig absurd, aber das meine ich nicht negativ. Nur eben völlig neues Terrain für mich.“ Er hob die Schultern. „Ich bin unsicher.“
„Ich erwarte nicht, dass du irgendetwas davon mitmachst“, stellte Marco klar.
„Das weiß ich doch. Ich weiß, dass du sowas nicht von mir erwartest. Ich weiß auch nicht, wie gut ich mich am Ende wirklich darauf einlassen kann, aber ich bin neugierig und würde es gerne ausprobieren.“ Gedankenverloren verwob Erik er seine Finger mit Marcos. „Es kann schon sein, dass ich dich darum bitte, die Handschellen abzunehmen, sobald du sie geschlossen hast. Ein bisschen Angst macht mir der Gedanke, so ausgeliefert zu sein, nämlich schon. Auf der anderen Seite denke ich, dass es mir eventuell ganz guttut, auf diese Weise zu lernen, mich wirklich fallenzulassen.“ Erik rutschte näher heran und Marco hieß ihn mit offenen Armen willkommen „Also, was ist mit dem Rest? Nippelklemmen? Po versohlen? Irgendetwas anderes?“
„Ist das denn überhaupt etwas, mit dem du dich anfreunden kannst?“, fragte Marco. Erik hatte ihm nie den Eindruck vermittelt, Schmerz erotisch zu finden.
„Hm. Vielleicht. Kann ich dir noch nicht sagen. Die Vorstellung reizt mich schon ein wenig, aber ob die Realität dann mithalten kann, werden wir ausprobieren müssen. Versuchen können wir es aber auf jeden Fall.“
„Ist das nicht … Kann das nicht …“ Hilflos suchte Marco nach den richtigen Worten, um seine Bedenken zu äußern, ohne Erik zu verletzen. Niemals hätte er gedacht, dass Erik ihm eine Tür wie diese aufstieß, aber er fürchtete sich davor, sie zu durchschreiten. Erik mochte ihm nie den Eindruck vermittelt haben, Schmerz erotisch zu finden – als Ventil hatte er ihn dennoch lange genutzt.
„Kann das nicht was?“, fragte Erik.
„Kann sich das nicht irgendwie negativ auf die Selbstverletzung auswirken?“ Da. Marco es laut ausgesprochen.
„Ah. Gute Frage.“ Erik klang nicht verletzt, eher milde neugierig. „Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Ich denke nicht, dass das ein Problem ist, die Ausgangslage ist ja sehr unterschiedlich. Solange wir darauf achten, sowas nicht an Tagen zu machen, an denen es mir psychisch nicht gut geht, sehe ich da kein großes Risiko.“
Marco drückte seine Wange gegen Eriks Scheitel. „Ich will nur nicht, dass du einen, ich weiß auch nicht, Rückfall oder so erleidest.“
„Das möchte ich auch nicht. In den letzten Wochen hatte ich kaum noch das Bedürfnis, mich selbst zu verletzen. Nicht einmal in besonders stressigen Phasen.“ Erik verstummte abrupt, fuhr jedoch fort, bevor Marco fragen konnte, ob etwas nicht stimmte. „Wahrscheinlich ist es das Beste, wenn ich bei unserer nächsten Sitzung mit meiner Therapeutin darüber spreche.“
„Über sowas redet ihr?“
„Wir haben schon über ganz andere Dinge gesprochen“, erklärte Erik lachend. „Aber ja, klar ist unsere Beziehung und teilweise auch unser Sexleben Thema in der Therapie. Immerhin sind das beides Punkte, bei denen ich so meine Komplexe habe.“ Als würde er Marcos Blick spüren, blinzelte er nach oben, ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen. „‚Darf mein Freund mir den Hintern versohlen?‘ wird aber nochmal ein extraschönes Thema zum Abschluss der Therapie.“
„Wie viele Sitzungen habt ihr noch?“
„Zwei. Macht mir ein wenig Angst, besonders jetzt, wenn ich mit dem Studium einen völlig neuen Lebensabschnitt anfange, aber die Therapie ging jetzt über drei Jahre und alles in allem fühle ich mich gut.“ Wieder diese kurze Pause, bevor Erik weitersprach. „Es wird Zeit, herauszufinden, ob ich auch ohne dieses Sicherheitsnetz bestehen kann.“
Marco verkniff es sich, seine eigenen Sorgen auszusprechen. Erik brauchte einen Freund, der ihn in seinen Entscheidungen stärkte, keinen, der Zweifel säte.
„Tut gut, mal über diese ganzen Dinge zu sprechen, findest du nicht?“
„Sì.“ Nur einschlafen würde Marco dank des Gedankenchaos in seinem Kopf nicht so schnell. Eriks leises Schnarchen sprach hingegen dafür, dass er endlich den Weg ins Reich der Träume gefunden hatte.