Was zuletzt geschah:
Marco bringt ein weiteres Wochenende in Berlin hinter sich. Dabei werden neben Verfolgungsjagden und (unfreiwilligen) Küssen auch Eriks und seine Zukunftspläne zum Thema, und am Ende bleibt bei Marco die Frage, wie sie ihre Wünsche und Bedürfnisse jemals übereinbringen sollen.
Kapitel 21
Schmerz pulsierte hinter Eriks Augen, rollte in Wellen über ihn hinweg. Er presste mit den Handballen dagegen, suchte Erleichterung im Druck. Wenigstens hatte er für heute alle Vorlesungen überstanden. Er wünschte sich nur, seine Kommilitonen würden beim Zusammenpacken nicht ganz so viel Lärm veranstalten.
„Geht’s dir nicht gut?“, fragte seine Sitznachbarin – Tanja – besorgt. Sie gehörte zu der Gruppe Erstsemester mit der sich Erik in den vergangenen Wochen, nun ja, nicht angefreundet, aber immerhin Kontakt geknüpft hatte.
„Kopfschmerzen. Habe ich öfter.“
„Migräne?“
„Eher Stress. Sie kommen meistens abends, vor allem, wenn ich mich davor lange konzentrieren musste.“
„Solltest du trotzdem abklären lassen“, wandte Levin, der zu Eriks linker Seite saß, ein. „Nur zur Sicherheit.“
„Vielleicht hast du recht.“ Bisher hatte er die Kopfschmerzen weitestgehend ignoriert, aber je länger er darüber nachdachte, umso bewusster wurde ihm, dass sie sich häuften. „Schadet wahrscheinlich ohnehin nicht, mir einen Hausarzt zu suchen.“
„Kaum vorstellbar, dass wir in ein paar Jahren diese Ärzte sind, oder?“, sagte Tanja. „Kommt mir total surreal vor.“
„Davor müssen wir erstmal ziemlich viele Prüfungen bestehen“, erwiderte Levin. „Wenn ich mir angucke, was ich mir alles merken soll, wird mir ganz schlecht.“
„Wir könnten uns zusammentun. Als Gruppe lernt es sich leichter.“
„Das ist eigentlich gar keine so blöde Idee.“
„Was ist mit dir?“, fragte Tanja Erik. „Bist du dabei?“
Überrascht, ebenfalls eingeladen worden zu sein, nickte er. „Gern.“
„Perfekt! Wann?“
Levin zog seinen Stundenplan zurate. „Am Donnerstag direkt nach der letzten Vorlesung?“
„Nee, da muss ich arbeiten. Wochenende wäre mir lieber.“
„Samstag ginge, Sonntag muss dann ich arbeiten“, sagte Levin.
„Mist. Jeden Sonntag? Was machst du?“
„Aufsicht in so einem winzigen Museum. Zahlt nicht viel, aber dafür ist meistens fast nichts los und ich kann nebenbei lesen oder lernen.“
„Klingt cool.“ Tanja wandte sich an Erik. „Wie schauts bei dir aus? Geht Samstag?“
„Mhm. Diese Woche schon, nächste Woche ist mein Freund in Berlin, da würde ich lieber Zeit mit ihm verbringen.“
„Der von dem du diesen süßen Schlüsselanhänger bekommen hast?“
„Genau der.“ Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet das nervöse Spielen mit seinem Schlüssel am ersten Vorlesungstag das Interesse seiner Kommilitonen wecken und Erik eine Lerngruppe verschaffen würde.
„Ja, okay. Den würde ich auch nicht für uns versetzen.“
„Waaas?“ Mit gespieltem Entsetzen presste Levin die Hand auf sein Herz. „Ihr beiden solltet dringend eure Prioritäten überdenken!“
Erik schmunzelte. „Sorry. Vorschlag: Wir treffen uns diesen Samstag und gucken dann, wann es die Woche drauf passt?“
„So machen wir’s.“ Tanja verstaute ihren Block in ihrer überdimensionierten Handtasche. „Und jetzt nichts wie raus hier, für heute habe ich echt die Nase voll von Vorlesungen.“
~~~~~~~~~~
Gedankenverloren schlenderte Erik durch die Gänge der Uni, seine quasselnden Kommilitonen ein vages Rauschen im Hintergrund. Wieder einmal kreiste sein Hirn um Marcos Reaktion auf seine Weigerung, einen neuen Kommodenknauf auf dem Flohmarkt zu besorgen. Entgegen Marcos Meinung störte sich Erik nicht an Second-Hand-Ware – Himmel, seine halbe Garderobe bestand daraus! – ihn nervte die Aussicht, am Wochenende in aller Frühe aufzustehen, um dann Marco nachzudackeln, während dieser den hundertsten krummen Stuhl in Augenschein nahm.
Das machte ihn noch lange nicht zum Snob! Oder lebensfremd. Obwohl er ehrlicherweise abgesehen von sich selbst niemanden kannte, der neben dem Studium nicht mindestens einem Nebenjob nachging.
Erik blieb stehen. Lag darin eventuell die Lösung? Möglicherweise täte ihm ein Job ganz gut.
Fragte sich nur, was. Arbeit im medizinischen Bereich traute er sich aktuell nicht zu, selbst wenn es nur um simple Tätigkeiten ging. Insbesondere, solange der Job eher ein Experiment für ihn darstellte. Lieber suchte er sich etwas, das er notfalls nach einigen Wochen wieder bleiben lassen konnte, ohne jemanden zu enttäuschen. Etwas Schnelllebiges. Etwas, bei dem er auf den Beinen sein durfte, anstatt hinter einem Schreibtisch zu versauern. Von letzterem hatte er mehr als genug.
Er blieb vor dem schwarzen Brett am Ausgang stehen. Hier hingen neben WG-Gesuchen immer auch einige Stellenausschreibungen und er scannte die Angebote.
Nachhilfe. Vermutlich wäre dieser Aushang bei den Lehramtsstudierenden besser aufgehoben, aber Erik traute sich durchaus zu, Schüler in einem seiner Lieblingsfächer zu betreuen. Zumal ihm die Vorstellung, mit Kindern zu arbeiten, gefiel. Schon jetzt wusste er, dass er sich in der Facharztausbildung auf Kinder- und Jugendmedizin spezialisieren wollte. Wobei er damit kaum aus seiner Komfortzone heraustrat.
Ein weiterer Zettel weckte seine Aufmerksamkeit. Ein Nachtclub suchte Unterstützung an der Bar. Erik bezweifelte, besonders geeignet für diesen Job zu sein, andererseits … Es wäre eine völlig neue Erfahrung für ihn. Eine, für die er über seinen Schatten springen müsste. Außerdem eine Abwechslung zum Studium, die sich noch dazu gut mit seinem Stundenplan kombinieren ließ.
Eilig notierte er sich die angegebene Telefonnummer.
~~~~~~~~~~
Die Eingangstür des Clubs sah bei ausgeschalteter Neonreklame denkbar unscheinbar aus; eine schlichte Stahltür eingefasst in ein mausgraues Gebäude. Sollte er klopfen? Oder einfach reingehen?
Nachdem er einige Momente vergeblich nach einer Klingel gesucht hatte und die Angst, sich zu verspäten überwog, griff Erik die Klinke und zog die Tür auf. Im Inneren erwartete ihn der deprimierende Anblick eines Clubs außerhalb der Öffnungszeiten. Grelles Licht, hochgestellte Stühle und ein PVC-Boden mit Flecken diverser Flüssigkeiten, gegen die das strikteste Reinigungsregiment nicht mehr ankam.
Links von ihm entdeckte er die Garderobe, aktuell unbesetzt; Ledersofas und niedrige Tische säumten die Wände, durchbrochen von Türen mit grellgrünen Notausgangsschildern. Vor ihm befand sich die imposante Bar und davor eine stämmige Frau etwa Anfang vierzig, deren Ausstrahlung Erik in respektvollem Abstand stehenbleiben ließ. „Ah, guten Tag, Frau Černá.“ Zumindest hoffte er, dass es sich dabei um die Dame handelte, mit der er am Vortag den heutigen Termin vereinbart hatte.
„Kolb, nehme ich an. Der, der noch nie an einer Bar gearbeitet hat.“
„Das ist richtig.“ Erik straffte die Schultern und versuchte zu überspielen, wie sehr ihn die Situation einschüchterte. Er wollte diesen Job, aber er brauchte ihn nicht. Daher konnte es ihm im Grunde egal sein, was Frau Černá über ihn dachte. „Ich lerne schnell.“
„Schnell genug, um hier vom ersten Abend an mithelfen zu können?“
„Ich hätte mich nicht auf die Stelle beworben, wenn ich daran zweifeln würde, dass ich ihr gewachsen bin.“ Das entsprach sogar einigermaßen der Wahrheit. „Außerdem wäre ich wahrscheinlich jetzt nicht hier, wenn Sie Bewerber ohne Vorerfahrung kategorisch ausschließen würden. Das wäre Zeitverschwendung für uns beide.“
„Ziemlich direkt.“
Erik stockte. Klang er unverschämt? Er hatte den Ton seiner Antworten an den der Fragen angepasst, war dabei aber möglicherweise übers Ziel hinausgeschossen. Letztlich zuckte er mit den Schultern. „Schätze schon.“
Frau Černá beugte sich über den Tresen und brüllte: „Amara! Komm mal rüber!“
Es dauerte einen Moment, dann öffnete sich eine unauffällige Tür im hinteren Bereich des Clubs und eine großgewachsene, schwarze Frau trat daraus hervor. Im Gegensatz zu Frau Černá, die Erik in Jeans und T-Shirt gegenüberstand, trug sie einen stilvollen, hellgrauen Hosenanzug, komplementiert durch einen sonnengelb gemusterten Headwrap. „Du hast gebrüllt?“ Sie bemerkte Erik. „Oh, haben wir einen Bewerber?“
Er streckte die Hand aus, als sie näherkam. „Erik Kolb. Guten Tag.“
„Amara Baumgärtner. Ich bin die kaufmännische Leiterin des Tix.“ Ihr Handgriff fühlte sich fest an, ohne schmerzhaft zu sein. „Hast du Erfahrung an der Bar?“
„Haben wir schon geklärt“, warf Frau Černá ein. „Hat er nicht.“
„Verstehe.“ Frau Baumgärtner – Amara? Immerhin hatte sie Erik eben geduzt, aber vielleicht gehörte das zum hier üblichen Machtgefälle – musterte ihn. „Würdest du mir trotzdem einen Tequila ausschenken?“
„Wodka Energy für mich.“ Frau Černá drehte sich erneut von Erik weg, dieses Mal in die andere Richtung. „Tom! Was willst du?“
„Nur ein Wasser.“ Beinahe wäre Erik beim Klang der unerwarteten Männerstimme zusammengezuckt. Trotz der grellen Beleuchtung hatte er nicht bemerkt, dass jemand auf einem der Sofas rechts der Bar saß. „Einer von uns muss heute Nacht noch arbeiten.“
Erik schätzte den Mann auf dasselbe Alter wie Frau Černá. Stämmig, mit entweder kurzgeschorenem oder nicht mehr länger wachsendem Haar. Trotz seiner großspurigen Versprechungen, auch mit nicht vorhandener Vorerfahrung von Anfang an mitarbeiten zu können, geriet Erik nun ins Stocken. „Ah …“
Amara erbarmte sich und deutete hinter die Bar. „Da ist der Kühlschrank, Gläser stehen bereit und wenn du was nicht findest, frag.“
„Danke.“ Erik ging in Gedanken die Bestellungen nochmal durch. „Tequila Silber oder Gold?“
„Gold“, antwortete Amara und Erik glaubte, Zufriedenheit in ihrem Lächeln zu entdecken. Hatte er die erste Probe bestanden?
Wodka Energy schien eindeutig. Und Wasser … „Mit oder ohne Kohlensäure?“, rief er dem Mann auf dem Sofa zu.
„Mit, bitte.“
Erik machte sich an die Arbeit. Begleitet von einem – wie er hoffte – charmanten Lächeln, stellte er den bis zur Markierung gefüllten Shot auf den Tresen und garnierte ihn mit einer Orangenscheibe und Zimt. „Darf es sonst noch was sein.“
„Nicht für mich.“
Als nächstes also Wodka Energy. „Ah, wo finde ich denn die Eiswürfel?“
„Da drüben.“
„Danke.“ Konzentriert arbeitete Erik die beiden verbleibenden Bestellungen ab.
„Fit genug, Getränkekisten zu schleppen?“, fragte Frau Černá, als er den Wodka abmaß.
„Natürlich.“
„Zeitlich flexibel? Nachts und vor allem am Wochenende?“
„Nachts arbeiten macht mir nichts aus.“ Vermutete er. „Und am Wochenende habe ich auch Zeit.“ Zumindest jedes zweite und für die, an denen Marco ihn besuchte, fand sich schon eine Lösung. Marco mochte Clubs, sicher hätte er Spaß daran, hier zu feiern, während Erik arbeitete.
„Kann ein echter Knochenjob sein. Laut, hektisch und nicht jeder Gast ist ein Engel.“
Mit vor Nervosität schwitzigen Händen, aber wenigstens ohne sichtbares Zittern, stellte Erik ihr das Getränk vor die Nase. „Daran gewöhne ich mich sicher schnell. Ich will Arzt werden. Wenn mich harte Arbeit, Nachtschichten und betrunkene Menschen überfordern, finde ich es lieber jetzt heraus.“
Das erntete ihm ein amüsiertes Schnauben. „Immerhin bist du motiviert.“
„Und scheinst dich ganz gut auszukennen, dafür, dass du bisher keine Erfahrung mit der Arbeit an einer Bar hast“, ergänzte Amara.
„Das waren alles absolut übliche Getränke für einen Abend im Club. Selbst, wenn ich nicht vorab dazu recherchiert hätte, würde ich sie kennen.“
„Du hast vorab recherchiert, was man so in Clubs trinkt?“
Erik bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, dass er sich wegen der ungläubigen Rückfrage gerade etwas dumm vorkam. „Ich mag keinen Alkohol und habe keine Berufserfahrung. Irgendwie musste ich das ja ausgleichen.“
„Weißt du, was in einen Caipirinha kommt?“, fragte Amara.
„Ja.“
„Erzähl mal“, forderte Frau Černá.
Brav leierte Erik die am Vortag auswendig gelernte Mischung runter. Danach folgten noch Tequila Sunrise, Manhattan und Sex on the Beach. Letzterer brachte ihn kurz ins Stocken, am Ende schaffte er aber auch dieses Rezept fehlerfrei.
„Nicht übel“, sagte Amara.
„Ich bin neugierig. Wie viele Cocktailrezepte hast du für heute vorbereitet?“, fragte Frau Černá.
„Zwanzig.“ Dafür hatte Erik seine für die Vorlesungen angedachte Lernzeit geopfert. Ehrlich fügte er hinzu: „Aber nur in der Theorie, wirklich gemixt habe ich noch keinen davon.“
„Wirst du auch nicht, selbst wenn du den Job hier bekommen solltest“, sagte Frau Černá. „Wir sind schließlich ein Club, keine Cocktailbar. Komplizierter als das, was du eben geliefert hast, wird’s nicht. Nur hektischer. Und jetzt bring erstmal meinem Mann sein Wasser, bevor er verdurstet.
„Ah, ja. Entschuldigung.“ Erik spürte Frau Černás Blick auf sich, ignorierte ihn jedoch, um die letzte Bestellung abzuliefern. Erst, als er zur Theke zurückkehrte, wandte er sich ihr wieder zu. „Was darf ich Ihnen noch bringen?“
„Ich denke, das reicht für heute. Hast du am Donnerstag Zeit? Zum Probearbeiten. Unbezahlt“, stellte sie klar.
Eriks Herz hüpfte vor Erleichterung und er erlaubte sich, eine Spur davon auf seinem Gesicht zu zeigen. „Danke, das wäre toll. Ich verspreche, dass ich Sie nicht enttäusche.“
„Wir werden sehen. Sei pünktlich. Jede Minute, die du zu spät kommst, muss jemand anderes ausbaden.“
„Natürlich. Versprochen.“
„Wir haben übrigens keine feste Dienstkleidung“, ergänzte Amara, „aber ein dunkles T-Shirt wäre schön. Am besten Schwarz, aber Dunkelblau oder Ähnliches geht auch.“
„Ah, darf es auch was langärmliges sein?“
„Wird ziemlich schnell heiß hier drin.“
„Das macht mir nichts.“
Wieder dieser kritische Blick, jetzt aus mehr als einem Augenpaar. Frau Černá löste den Moment mit einem Schulterzucken. „Musst du wissen. Wir sehen uns dann am Donnerstag.“
Erik konnte es kaum erwarten, Marco davon zu erzählen!