Was zuletzt geschah:
Sechshundert Kilometer trennen Marco von Erik, eine schier unüberwindbar scheinende Distanz. So sehr sich Marco bemüht, sich davon nicht runterziehen zu lassen, zeigen sich seine wahren Gefühle deutlich genug auf seinem Gesicht, um seinen Arbeitskollegen Daniel zu Nachfragen zu bewegen. Diese enden prompt in einem ungeplanten Coming-Out sowie der Einladung zu einer WG-Party. Auf der Marco sogar richtig Spaß hat. Er führt lockere Gespräche und lernt Drago kennen, Daniels Mitbewohner, mit dem er sich auf Anhieb überraschend gut versteht. So gut, dass er beinahe sein nächstes Treffen mit Erik vergessen hätte
Kapitel 15
Anklagend blickte Erik zu seiner Wohnungstür, als könnte er damit die Türglocke zum Schweigen verdonnern. Vielleicht schämte sie sich wenigstens dafür, ihn aus seinen Gedanken gerissen zu haben. Hastig kritzelte er die Notiz auf seiner Karteikarte zu Ende, dann ergab er sich seinem Schicksal und öffnete die Tür. „Hey.“
„Dachte schon, du hast mich vergessen.“ Marcos Lippen legten sich warm und weich auf Eriks, fremd nach der wochenlangen Trennung.
„Warum benutzt du denn nicht den Zweitschlüssel, den ich dir gegeben habe?“ Erik bemühte sich, nicht anklagend zu klingen. Marco konnte ja nichts dafür, dass er zu lange brauchte, um seine Notizen fertigzustellen.
„Hat nicht funktioniert. Wahrscheinlich, weil ein gewisser jemand seinen eigenen Schlüssel von innen hat stecken lassen. Das blockiert das Schloss.“
Ertappt blickte Erik zu seinem Schlüsselbund, der in der Tat exakt dort baumelte, wo Marco ihn vermutete. Der hölzerne Schlüsselanhänger, Marcos erstes Geschenk an Erik, drehte sich langsam um die eigene Achse. „Entschuldige, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Das war bei keiner meiner Wohnungen bis jetzt so.“
„Na, solange du mir aufmachst, wenn ich klingle, ist ja alles gut. Sogar, wenn du dafür eine gefühlte Ewigkeit brauchst.“
„Tut mir leid, ich war mit etwas beschäftigt.“ Erik zögerte. „Ah, tatsächlich bräuchte ich noch ein paar Minuten. Ich bin gerade dabei, meine Karteikarten zu beschriften.“
„Ernsthaft? Hat das nicht Zeit, bis ich wieder weg bin?“ Marco klang wenig begeistert, aber nach der langen Fahrt wäre er sicher so oder so quengelig, selbst wenn Erik ihn nackt und mit einem Drei-Gänge-Menü auf dem Esstisch empfangen hätte.
„Fünf Minuten“, versprach Erik und eilte zurück an seinen Schreibtisch. „Zehn, höchstens. Mach es dir solange einfach bequem. Du weißt ja, wo alles ist.“
Marco murmelte eine Antwort und wenn Erik ihm zugehört hätte, hätte er sie vielleicht sogar verstanden. Seine Aufmerksamkeit galt jedoch bereits wieder den Notizen vor ihm. Das Studium hatte gerade erst begonnen, er durfte auf keinen Fall den Anschluss verlieren, nur weil er sich von seinem Freund ablenken ließ.
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„Die zehn Minuten sind jetzt rum.“
„Hm?“ Erik nahm den Blick nicht von seinem Anatomiebuch.
„Ich sagte, die zehn Minuten sind jetzt rum“, wiederholte Marco.
„Ah, entschuldige. Fünf brauche ich noch.“ Prüfend blätterte Erik durch seine Notizen. „Zehn, vielleicht.“
Marco antwortete nicht.
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Erik legte seinen Stift zur Seite. „So. Fertig.“
„Ach ja?“, erklang es hinter ihm. „Sicher, dass du nicht noch fünf Minuten mehr brauchst? Zehn, höchstens.“
Schuldbewusst sah Erik über seine Schulter zu Marco, der angeödet auf der Couch fläzte. „Entschuldige, ich habe dich ganz schön ignoriert, was?“
„Nah, passt schon. Bin ja nur sieben Stunden in nem überteuerten Zug gehockt, um Zeit mit dir zu verbringen.“
„Ich mache es wieder gut, versprochen.“ Mäßig erfolgreich versuchte sich Erik an einem lasziven Augenaufschlag. „Soll ich dir zeigen, was ich gelernt habe?“
Marco zuckte unbeeindruckt mit den Schultern, aber als Erik vor ihm auf die Knie sank, weckte das seine Aufmerksamkeit. Jedenfalls bei einem Teil von ihm. Marcos Gesichtsausdruck widersprach noch den Signalen seines restlichen Körpers.
Die Cargohose fühlte sich rau unter Eriks Fingerspitzen an, Marcos Oberschenkel darunter kraftvoll und stämmig, ebenso wie die Erektion, die er aus ihrem Stoffgefängnis befreite. Eingehend betrachtete Erik sie, strich mit dem Zeigefinger von der Spitze bis zu den Hoden und zählte auf: „Urethra masculina, Penis, Skrotum. Der Penis verfügt über mehrere Schwellkörper, die, wie dieses Exemplar eben demonstriert, für das Entstehen einer Erektion zuständig sind.“
„Was wird das, wenn’s fertig ist?“ Ob Marco den rauen Unterton bemerkte, der sich in seine Stimme geschlichen hatte?
„Ich lerne am lebenden Objekt. Und jetzt psst – ich muss mich konzentrieren.“ Erik umschloss Marcos Penis mit Daumen und Zeigefinger. „Die Peniswurzel, Radix penis, ist an Schambeinästen und Beckenbogen befestigt und der Schaft, Corpus penis“, seine Hand glitt nach oben, „endet in der Glans penis, auch Eichel genannt.“
Er beugte sich vor und hauchte einen Kuss darauf. „Die dünne Haut, die den Schaft bedeckt, ist verschiebbar.“ Zur Demonstration bewegte er seine Hand auf und ab. Marcos Finger gruben sich in seine Schulter, ein deutliches Zeichen, dass ihm gefiel, was Erik da anstellte. „Sie mündet im Präputium, der Vorhaut. Diese bedeckt bei einem unbeschnittenen Penis in der Regel die Glans und zieht sich bei einer Erektion zurück. Die Vorhaut ist durch das Frenulum preputii befestigt.“ Gemächlich leckte er über das schmale Bändchen, massierte es mit seiner Zunge und lauschte dem Keuchen über ihm. „Die Furche und Erhebung zwischen Schaft und Eichel nennt man Collum glandis beziehungsweise Corona glandis.“
Erik achtete darauf, beim Sprechen den Mund nie vollständig von Marcos Erektion zu lösen. Nun umschloss er die Eichel, schmiegte seine Lippen an die eben beschriebene Furche. „Bei den Schwellkörpern“, nuschelte er, „unterscheidet man zwischen–“ Der Rest seines Satzes blieb selbst mit viel Fantasie unverständlich, als Marco sein Becken nach vorne drängte und tief in Eriks bereitwilligen Mund glitt. Dennoch redete Erik weiter, erzählte von Schwellkörpern und Faszien, von Gefäßen und dem Aufbau der Harnröhre, mehr darauf bedacht, seine Stimme in ein sattes Brummen zu verwandeln, das durch Marcos Erektion vibrierte, als inhaltlich Sinn zu geben.
Bald versagte seine Konzentration und sein Körper widmete sich der Aufgabe, Marco in sich aufzunehmen, ohne an Sauerstoffmangel einzugehen, bis salzig-mineralische Flüssigkeit seine Zunge flutete. Erik schluckte, befreite Marcos Glied von sämtlichen Resten seines Höhepunkts und blickte auf. „Na? Wie war meine Anatomielektion?“
„Deshalb wolltest du also unbedingt Medizin studieren.“
„Diese Behandlung erhalten nur ganz besondere Patienten.“
„Privatversicherte?“ Marcos Finger wanderten von Eriks Schulter zu seinem Haar, kämmten behutsam durch seine Strähnen.
Die Intimität dieser Geste schnitt durch Erik wie ein Skalpell und durchtrennte die Membran, hinter der er sorgfältig seine Gefühle verstaut hatte. Nun flossen sie aus ihm heraus, eiskalt und überwältigend. Marco fehlte ihm so sehr. Seine Stimme, die rauen Hände, die für Erik nichts als Zärtlichkeit kannten. Sein Lachen, sein Geruch, die Wärme in seinen Augen. Seine ganze Präsenz, bodenständig und erdend.
Erik wollte Marco sehen, mit ihm reden, neben ihm einschlafen. Nicht an ein paar Wochenenden im Jahr, sondern jeden Tag!
Während Erik gegen aufsteigende Tränen kämpfte – auf keinen Fall wollte er das Drama ihres letzten Abschieds wiederholen – gähnte Marco herzhaft.
„Willst du Schlafengehen?“ Erik hoffte, dass man ihm seine aufgewühlten Gefühle nicht anhörte. „Du hast die erste Hälfte vom Tag gearbeitet und die zweite im Zug verbracht. Du musst total erschöpft sein.“ Er selbst war nach der Uni auf der Couch eingedöst und hatte sich erst eine knappe Stunde vor Marcos Ankunft unter die Dusche und anschließend an den Schreibtisch geschleppt. Immerhin sah die Wohnung blitzblank aus.
Erik störte sich nicht an ein wenig Chaos – nichts schimmelte, er fand alles, was er brauchte, und am Montag hätte er ohnehin eine Fuhre Wäsche in die Maschine gestopft – Marco reagierte darauf allerdings empfindlich. Daher hatte Erik den Vorabend damit verbracht, verstreute Klamotten und Bücher zusammenzusammeln, Teetassen abzuspülen und sämtliche Oberflächen von mehr Staub zu befreien, als sich innerhalb von zwei Wochen ansammeln sollte.
Marco schüttelte auf Eriks Frage mit dem Kopf. „Wir haben eh so wenig Zeit miteinander, da will ich so viel wie möglich mit dir verbringen. Sofern du nicht wieder Pappkärtchen vollschreiben musst.“
„Muss ich nicht“, versicherte Erik. Jetzt, da er sich eingestand, wie sehr ihm Marco fehlte, begriff er, dass er sich zuvor von seinen eigenen Gefühlen abgekapselt hatte. Marco direkt nach dessen Ankunft zu ignorieren, war sein Versuch gewesen, den anstehenden Trennungsschmerz zu minimieren. Eine gemeinsame Stunde, unwiderruflich verloren. „Ich verspreche, dass sich das nicht wiederholt. Das Pensum an der Uni hat mich einfach überrollt.“
„Jetzt schon so übel? Wie krass muss das dann für den durchschnittlichen Studi sein? Du brauchst ja nebenbei nicht mal arbeiten.“
Tausend Proteste sammelten sich auf Eriks Zunge und er schluckte sie alle herunter. Es war die erste richtige Studienwoche und er hatte Marco vernachlässigt, um seine Vorlesungen nachzuarbeiten, total egal, dass die Gründe dafür tiefer reichten als miserables Zeitmanagement. Und es stimmte ebenfalls, dass er dank der Lebensversicherung seiner Eltern sein Studium ohne zusätzlichen Job finanzieren konnte. Marcos harmlose – und wahre – Feststellung sollte ihn nicht so verletzen.
„Warum hockst du eigentlich da auf dem Boden rum?“, fragte Marco. Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er Erik nach oben, bis dieser halb auf der Couch und halb auf ihm lag. „Viel besser.“
Erik drückte die Nase in Marcos Haar, sog den Duft nach Shampoo und Sägespänen ein. Marcos Körper, die Art, wie er ihn festhielt, der Atem, der über seine Haut strich wie die erste milde Brise am Ende eines langen Winters. Die Vertrautheit daran bohrte sich in sein Herz. Ihnen blieb so wenig gemeinsame Zeit, bis die nächsten zwei Wochen sie trennten. „Bist du sicher, dass du nicht gleich ins Bett willst?“
„Sì.“
„Gucken wir dann noch eine DVD?“
„Du suchst aus.“
Erik wählte einen Film, von dem er hoffte, dass Marco ihn nicht sterbenslangweilig fand, und kuschelte sich fest an seinen Freund. Es dauerte keine halbe Stunde, bis das erste Schnarchen sein Ohr erreichte.
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Unheiliges Geklapper riss Erik aus seinen Träumen. Er öffnete sein rechtes Auge einen Spalt weit, erkannte verschwommene Umrisse, blinzelte und gab seinen Aufwachversuch auf. Lieber eine halbe Stunde länger schlafen. Dank der Zeit, in der er sich eine WG mit Charlotte geteilt hatte, hielt ihn ein wenig Krach am Morgen kaum wach.
Der Duft nach Waffeln dagegen …
Erik purzelte aus dem Bett und in die Küche. Beim dortigen Anblick kniff er sich in den Unterarm, um sicherzugehen, dass er nicht träumte. Vor ihm stand Marco, mit Shorts und Unterhemd bekleidet, und schaufelte goldbraune Waffeln aus dem Waffeleisen auf einen Teller. Als er Eriks Schritte hörte, drehte er sich um, strahlend wie die Morgensonne, die durchs Küchenfenster fiel. „Buongiorno, cuore mio.“
„Morgen“, krächzte Erik. „Du bist früh wach.“
„Kann ja nicht jeder bis mittags pennen.“
„Es ist nicht mal zehn.“
„Und?“
Erik hielt sich an seine goldene Regel: Solange die Uhr eine einstellige Stundenzahl zeigte, ließ er sich nicht auf unnötige Diskussionen ein. „Sind das Waffeln?“
„Nah, Putzlappen. Klaro sind das Waffeln! Ich wusste, dass ich dich damit aus dem Bett kriege.“
„Bist du dafür etwa extra einkaufen gegangen?“ Erik erinnerte sich nicht, Eier im Kühlschrank gehabt zu haben und sollte sich darin noch eine Packung Milch befunden haben, taten sie gut daran, sie nicht zu trinken.
„Musste ich. Deine Vorratskammer war leerer als mein Sparschwein.“
„Entschuldige. Sag mir, was du bezahlt hast, dann gebe ich dir das Geld.“
Marco winkte ab und goss eine weitere Kelle Teig ins Waffeleisen. Der Duft nach karamellisierendem Zucker streichelte Eriks Nase. „Wenn du mir einen Gefallen tun willst, räumst du deine Bude auf, bis ich fertig bin. Hier schauts aus als hätte eine Bombe eingeschlagen.“
Ratlos sah sich Erik in seiner frischgeputzten Wohnung um. Okay, seine Schuhe lagen kreuz und quer unter der Garderobe verteilt, aber das sah man vom Wohnzimmer – geschweige denn der Küche – aus kaum. Seine Staubwischkünste musste er ausbauen, in den Ecken fand sich doch noch das eine oder andere Staubkorn, und auf dem Couchtisch lag ein wenig verstreuter Kleinkram. Das Wort ‚Bombeneinschlag‘ wollte ihm dabei dennoch nicht in den Sinn kommen.
Ohne konkreten Plan zupfte Erik an Sofakissen, wischte über Oberflächen und rückte bereits in Regale eingeräumte Bücher zurecht. Er kam sich gleichzeitig nutzlos und verarscht vor. „Bald fertig mit den Waffeln?“
„Sì.“ Marco trug einen duftenden Teller ins Wohnzimmer – sogar einen dicken Überzug aus Puderzucker hatte er ihnen spendiert. „Jetzt, um genau zu sein. Wolltest du nicht aufräumen?“
Mit offenem Mund starrte Erik Marco an. Um nicht laut auszusprechen, was ihm durch den Kopf schoss, schnappte er den Teller aus Marcos Hand und stopfte sich mit Waffeln voll. Der zuckrige Geschmack auf seiner Zunge – außen kross, innen fluffig – versöhnte ihn. Geringfügig.
„Gut geschlafen?“, fragte Marco.
„Mhm.“
„Wie war deine Woche? Abgesehen von stressig, meine ich. Hast du was Spannendes gemacht?“
„Gelernt, hauptsächlich.“ Erik nahm sich eine zweite Waffel. „Und mich im Unigebäude verlaufen.“ Glücklicherweise fand man problemlos andere verwirrte Erstsemester und konnte sich ihnen bei der Suche nach dem richtigen Raum anschließen.
„Neue Leute kennengelernt?“, fragte Marco weiter. „Irgendwas unternommen? Du büffelst doch nicht nur den ganzen Tag und verbringst den Rest der Zeit im Bett, oder?“
Den Mund zu einer Antwort geöffnet, schloss Erik ihn, als er verstand, in welche Richtung Marcos Fragen abzielten. Er horchte ihn nicht aus, um herauszufinden, ob Erik in seiner Abwesenheit Blödsinn anstellte. Oder ein Langweiler war. Marco machte sich Sorgen.
Nicht unbegründet, wenn man bedachte, wie ihr Abschied vor zwei Wochen ausgesehen hatte. Erik komplett verheult in Marcos Armen; ein Häuflein Elend anstelle eines erwachsenen Mannes. Kein Wunder, dass Marco abklopfte, ob Erik mal wieder zu nahe an einem Abgrund stand.
Trotzdem ärgerte sich Erik. Hauptsächlich über sich selbst. Marco sollte einen Partner in ihm sehen. Jemanden, auf den er sich freute und mit dem er gerne Zeit verbrachte. Nicht jemanden, für den er sich verantwortlich fühlte.
„Meine Woche war gut“, sagte Erik bestimmt.
Vielleicht spürte Marco, dass er sich auf dünnem Eis bewegte – selbstverständlich spürte er das, er war Marco, der andere oft durchschaute, als wären sie aus Glas – denn er entschied sich für einen Themenwechsel. „Ich finde immer noch, dass da drüben“, er deutete auf das Eck neben der Küchentür, „wunderbar ein Esstisch hinpassen würde.“
„Das ist meine Yogaecke. Ich würde mich nur überzeugen lassen, mir einen anderen Platz zu suchen, wenn du häufiger hier essen würdest.“ Keine Reaktion, außer, man zählte Schweigen als solche. Erik versuchte einen anderen Ansatz. „Du hast kaum Sachen mitgebracht. Klamotten und so, meine ich.“
„Wozu auch? Bin ja nur zwei Tage hier.“
„Ich dachte nur, du willst vielleicht ein paar Dinge hierlassen, damit du nicht jedes Mal eine Reisetasche packen musst. Im Schrank ist genug Platz.“
„Für zwei Tage alle paar Wochen lohnt sich das kaum.“
Erik verkniff sich den Hinweis, dass alle paar Wochen über mehrere Jahre hinweg keine unwesentliche Anzahl an Tagen ausmachte. Marco mochte sich noch so sehr darum sorgen, welche Auswirkungen ihre Fernbeziehung auf Eriks Psyche hatte – die Konsequenz ziehen und etwas an ihrer Situation ändern, wollte er offensichtlich nicht.
Anstatt auf dem Thema herumzureiten, fragte Erik: „Wollen wir heute Nachmittag ins Kino? Es gibt eins gleich in der Nähe. Und später, zum Abendessen, könnten wir vielleicht das persische Restaurant ausprobieren, das ich ein paar Straßen weiter entdeckt habe.“ So, damit sollte für Marco klar sein, dass Erik nicht nur den ganzen Tag zuhause rumhockte und die Stunden vorbeiziehen ließ. Er lernte die Stadt kennen und schmiedete Pläne. Dass er für deren Umsetzung auf Marco wartete, konnte man ihm kaum vorwerfen, oder?
„Gegenvorschlag. Wir gehen ins Kino und im Anschluss koche ich uns was Leckeres.“
„Magst du nicht ins Restaurant?“ Seine Enttäuschung klang ohnehin deutlich heraus, also konnte Erik gleich mit der vollen Wahrheit rausrücken. „Ehrlich gesagt habe ich mich schon die ganze Woche darauf gefreut, mit dir hinzugehen.“
Beschwichtigend hob Marco die Hände. „Okay, okay. Wir gehen essen. Aber dafür kommst du im Anschluss mit in einen Club.“
„Welchen?“ Für diese Frage erntete Erik ein Lachen, tief und brummig, mit der Lockerheit, die der Morgen bisher hatte vermissen lassen.
„Woher soll ich das wissen? Wähl einen aus, du wohnst schließlich hier. Hauptsache, ich verbringe kein ganzes Wochenende in Berlin, ohne ordentlich feiern gegangen zu sein.“
„Hmm …“ Erik zerbrach sich den Kopf, hatte aber beim besten Willen keine Idee. Seine Kommilitonen hatten erst neulich Tipps ausgetauscht, die allesamt unbeachtet an ihm vorbeigezogen waren. Clubs standen ziemlich weit unten auf seiner Prioritätenliste, aber wenn sich Marco auf diesem Weg mehr für Berlin erwärmen konnte, feierte Erik freudig ganze Nächte durch. „Ich recherchiere mal.“
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Zunächst registrierte Erik die dröhnende Musik, dann den Geruch nach Schweiß und Alkohol. Auf der Website hatte sich die Beschreibung mehr nach Bar als Club angehört, nun fürchtete er, sich getäuscht zu haben. Um ihn herum wuselten Menschen, Männer hauptsächlich. Ohne Marcos stete Präsenz im Rücken, wäre Erik sehr wahrscheinlich auf dem Absatz umgekehrt und nach Hause geflüchtet.
Im Grunde störten ihn viele Menschen auf wenig Raum nicht; sie lösten keine Panikattacken bei ihm aus, und zu manchen Gelegenheiten – zum Beispiel bei einer ausgiebigen Shoppingrunde auf der Jagd nach neuen Klamotten – genoss er das Gewusel um sich herum sogar.
Es war die Sichtbarkeit, die ihn verschreckte. Das Wissen, abgeschätzt und ausgemessen zu werden. Bemerkten die Leute die Narben auf seinen Unterarmen? Hielten sie ihn für gestört? Fanden sie ihn attraktiv? Wollte er attraktiv auf andere wirken? Er hasste die Vorstellung, Ziel des sexuellen Interesses fremder Männer zu sein, paradoxerweise hob sie gleichzeitig sein Selbstbewusstsein.
„Brauchst du eine Pause?“, fragte Marco hinter ihm und meinte damit ‚willst du lieber wieder verschwinden?‘.
„Ah, nein.“ Der vor Monaten zwischen ihnen vereinbarte Code und Marcos Bereitschaft, ihn jederzeit ernst zu nehmen, gaben Erik die Sicherheit, die er in dieser Situation benötigte. Er schmiegte sich an seinen Freund. „Alles gut. Holen wir uns was zu trinken?“
„Klaro. Cola für dich?“
„Mhm. Danke.“ Mit einem Getränk, das seinen Händen etwas zum Festhalten gab, fühlte sich Erik gleich deutlich wohler. Dazu ein sicherer Platz im hinteren Bereich des Clubs, entfernt vom Gedränge an Theke und Tanzfläche, und schon fiel ihm auf, dass er die Musik gar nicht übel fand. Ziemlich okay sogar.
Sich der Ironie voll bewusst, begutachtete er die anderen Gäste. Man konnte sie kaum als bunte Mischung bezeichnen. Größtenteils männlich und irgendwo zwischen Anfang und Ende Zwanzig, eben so, wie Marco und er selbst. Hier und da ein paar Ausreißer, aber der einzige, der ihm wiederholt auffiel, war ein Typ mit einem ungebändigten Schopf blonder Haare auf dem Kopf und mehr Piercings im Gesicht als Erik im dämmrigen Licht zählen konnte.
Als spürte er Eriks Blicke, drehte er sich um und schenkte ihm ein kokettes Lächeln, das das Piercing in seiner Unterlippe aufblitzen ließ. Ertappt wandte sich Erik ab.
„Hast du gut ausgesucht“, raunte Marco ihm ins Ohr. „Wie heißt der Laden? Hab beim Reingehen nicht drauf geachtet.“
„Duo.“ Küsse prickelten auf Eriks Hals und dem Ansatz seines Schlüsselbeins. „Willst du tanzen?“
Ohne seine Lippen von Eriks Schultern zu lösen, musterte Marco ihn amüsiert von unten herauf „Willst du?“
„Du weißt, dass ich zwei linke Füße habe. Aber dir zuliebe würde ich’s trotzdem versuchen.“
„Aww, cuore mio, wie süß von dir!“
„Außer natürlich, du machst dich weiter über mich lustig.“
„Würde ich nie!“ Breit grinsend schlang Marco einen Arm um Eriks Taille und zog ihn auf die Tanzfläche.
Die Fläche war klein und so voll, dass Erik rasch seine erfolglosen Versuche aufgab, Körperkontakt mit anderen Gästen zu meiden. Stattdessen konzentrierte er sich auf Marco und dessen Hände an seinen Hüften. Sie küssten sich; ausgiebig und ohne jede Furcht vor negativen Reaktionen. Sie tanzten (in Eriks Fall lausig) und sie gaben ein Vermögen für Getränkenachschub aus (alkoholfrei, Erik trank nicht und Marco hielt sich ihm zuliebe meist ebenfalls zurück). Track um Track zog an ihnen vorbei, so wie die Körper, die sie umgaben.
„Himmel, es ist nach zwei!“ Erik musste die Augen zusammenkneifen, um das Ziffernblatt seiner Armbanduhr zu erkennen. „Sollen wir langsam heim?“
„Einen Song noch!“, verlangte Marco. „Und einen Kuss!“
Erik gewährte ihm beides. Erleichtert, den Samstag nach einem ruckeligen Start zu einem guten Ende gebracht zu haben. Tieftraurig, dass ihre gemeinsame Zeit morgen schon wieder endete. Beschämt, dass er die Schuld daran trug.
Fest presste er seinen Kopf gegen Marcos Schulter und sog alle Wärme auf, die er kriegen konnte. Hoffentlich reichte sie für die kommenden zwei Wochen.