Was zuletzt geschah:
Aufregende Tage liegen hinter Marco und Erik. Ein Umzug, ein mehr oder minder unerwartetes Aufeinandertreffen, die lange ausstehende Aussprache. Erik stärkt alte Bande in Stuttgart, lernt aber auch, seine neue Heimat und den mit ihr verbundenen Neuanfang umso mehr zu schätzen. Für Marco stehen die Zeichen ebenfalls auf Neubeginn, doch er zögert, ob er seine zunehmend stärker werdenden Gefühle Drago gegenüber wirklich ergründen möchte. Sein eigenes Leben läuft bereits chaotisch genug und Drago, emotional abgeschottet, nicht geoutet und aufgrund der schwierigen Situation in seiner WG derzeit bei seinem Onkel untergekrochen, bringt eher mehr als weniger Unruhe hinein. Wenn nur dieses verfluchte Herzklopfen nicht wäre.
Kapitel 39
Vier Einkaufstüten balancierend, schlug Marco die Wohnungstür mit der Ferse zu. Eventuell hatte er beim Einkaufen übertrieben, aber es war Samstag und sein einziger Plan bestand daraus, sich ein opulentes Essen zu kochen, das zu der Flasche Wein passte, die Drago ihm vor einigen Wochen zum Dank für eine Nacht Unterschlupf geschenkt hatte.
Lieber hätte er den Wein mit Drago geteilt, doch der verbrachte den Abend mit seinem Onkel. Offenbar gab es etwas zu besprechen – vermutlich, wie es für Drago nach seinem Master weitergehen sollte und wie Dragos Onkel ihn dabei unterstützen konnte.
Dann kochte Marco eben für sich allein. Er musste ohnehin lernen, seine Pläne nicht von anderen diktieren zu lassen.
Marco rollte gerade den Nudelteig für seine selbstgemachten Ravioli aus, als sein Handy klingelte. Dragos Klingelton. Nun, der würde sich gedulden müssen. Nudelteig trocknete schnell aus und so weit würde Marco es nur in absoluten Notfällen kommen lassen. Bei einem Vulkanausbruch, zum Beispiel.
Sehr viel wahrscheinlicher, als dass in dieser Sekunde ein Ascheregen auf Drago herabging, war jedoch, dass er einen ruhigen Moment nutzte, um zu fragen, wann Marco kommende Woche Zeit für ein Treffen hatte – sei es gemeinsam mit Daniel, oder nur zu zweit.
Das Nudelwasser kochte mit perfektem Timing: Marco hatte eben mithilfe einer Gabel die letzte Teigtasche rund um ihre Kräuter-Ricotta-Füllung versiegelt. In einem weiteren Topf blubberte derweil die Lammbouillon mit frischem Frühlingsgemüse und verströmte ihren verführerischen Duft. Sorgsam verfrachtete Marco die Ravioli ins heiße Wasser, wo sie einige Minuten würden ziehen müssen. Zeit genug, Drago zurückzurufen. Kurz bevor Marco aufgab, nahm dieser sogar ab. „Hallo.“
Marco stutzte über den eigenartigen Klang von Dragos Stimme, entschied jedoch, nicht zu viel in ein einzelnes Wort zu interpretieren, vor allem nicht übers Handy. „Scusa, dass ich erst jetzt zurückrufe. Ich habe eben noch gekocht. Oder bin noch mittendrin, aber ein paar Minuten habe ich übrig. Was gibt’s denn?“
„Kann ich vorbeikommen?“
„Klaro. Wann?“
„Jetzt.“
Nun erlaubte sich Marco, stutzig zu werden. Irgendetwas lag im Argen. Das fand er allerdings am einfachsten heraus, wenn er Drago in die Augen sehen konnte. „Klaro, komm vorbei. Ich bin zuhause.“
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Eine halbe Stunde später stand Drago vor Marcos Tür. Über der Schulter trug er seine Laptoptasche und die Schutzhülle für sein Grafiktablett, in der Hand seine Sporttasche. Kehrte er etwa schon heute in die WG zurück? Soweit Marco wusste, zog Patrick nicht vor Ende des Monats aus. Egal, Fragen konnte er nachher noch stellen.
„Komm rein. Essen ist fertig, greif gerne zu.“ Das hatten sie in den vergangenen Wochen erarbeitet. Während sich Marco nicht daran störte, dass Drago zu den eher heiklen Essern zählte, fand dieser seine Eigenart oft unangenehm, weshalb er Restaurants und Essenseinladungen unter Freunden mied wie der Teufel das Weihwasser. Das galt auch für Marcos Kochkünste, ganz egal, wie oft er Drago versicherte, es nicht persönlich zu nehmen, sollte ihm etwas nicht schmecken.
Also hatte Marco die Taktik gewechselt. Er kochte ausreichend, um sie beide satt zu bekommen, und achtete dabei darauf, keine Zutaten zu verwenden, die Drago definitiv nicht mochte, tischte jedoch nicht auf.
Stattdessen informierte er Drago, dass er sich bedienen durfte, was diesem wiederum die Möglichkeit gab, sich zu überlegen, ob und wie viel er kosten wollte. Sagte ihm das Essen nicht zu, verzichtete er, ohne einen anklagend vollen Teller vor sich stehen zu haben, und hielt sich an Snacks, die Marco regelmäßig aufstockte.
Das nahm Druck von Drago und gab gleichzeitig Marco die Gelegenheit, auch mal Gerichte zu testen, von denen er glaubte, dass sie Drago schmecken könnten, ohne sich ganz sicher zu sein. Oft klappte das, manchmal griff er daneben, niemals gab es deshalb Stress.
Heute ignorierte Drago den Suppentopf allerdings komplett. Er stellte seine Sachen neben Marcos Schreibtisch und stand danach verloren im Raum herum.
So hatte Marco ihn noch nie erlebt. Er wollte ihn schütteln und fragen, was zur Hölle passiert war, riss sich jedoch zusammen und fragte stattdessen: „Willst du Wein? Immerhin hast du ihn damals gekauft.“
Wortlos nahm Drago das angebotene Glas entgegen und leerte es mit einem Zug zur Hälfte. Dann setzte er erneut an und trank aus.
Okay, dieses Verhalten trug nicht zu Marcos Beruhigung bei. Er hatte durchaus schon das eine oder andere alkoholische Getränk mit Drago genossen, dabei beschränkte sich dieser in der Regel jedoch auf kleinere Mengen über einen längeren Zeitraum. Ein volles Glas runterzukippen, wich definitiv von seinem üblichen Verhalten ab. Möglicherweise half es aber, seine Zunge zu lösen.
Marco stellte die Weinflasche auf den Couchtisch, bevor er sich in die weichen Polster sinken ließ, in der Hoffnung, Drago würde seinem Beispiel folgen. Was dieser nach einigen Augenblicken tat.
Schweigend saßen sie nebeneinander, Dragos leeres und Marcos unangetastetes Weinglas vor sich. „Äh, soll ich den Fernseher anmachen?“, fragte Marco, nachdem sich die Stille mehrere Minuten gezogen und Drago keine Anstalten gemacht hatte, sie zu brechen. Drago antwortete mit einem Schulterzucken. Im Gegensatz zu sonst, fühlte sich das Schweigen zwischen ihnen heute aufgeladen an. Wie angehaltener Atem, bevor der Blitz einschlug.
Ohne wirklich hinzusehen, zappte Marco durch das Programm und blieb bei irgendeiner Billard-Meisterschaft hängen. Nicht, dass sie ihn interessierte – abgesehen vom gelegentlichen Spiel mit Freunden hatte er keine Ahnung von diesem Sport – aber sie sorgte für ein gewisses Hintergrundrauschen, ohne viel Aufmerksamkeit zu erfordern. Er trank einen Schluck Wein und schenkte Drago nach.
Es brauchte eine gute halbe Stunde und die ganze Weinflasche, bis Drago den Mund öffnete. Zurückgelehnt, den Kopf über der Couchlehne hängend, starrte er an die Decke. „Mein Onkel weiß Bescheid.“
Weder musste Marco fragen, worüber, noch, ob sich Drago freiwillig für ein Comingout entschieden hatte. „Fuck. Woher?“ Es kostete Überwindung, diese Frage zu stellen, denn Marco fürchtete, die Antwort zu kennen. Drago hatte es im Prinzip schon vor einer Weile zugegeben. Seine Freundschaft mit Marco barg das größte Risiko, das er je eingegangen war.
„Hat er nicht gesagt“, erwiderte Drago, was vielleicht stimmte oder vielleicht Marcos Gewissen schonen sollte. „Nur, dass ihm ein paar Dinge über mich zu Ohren gekommen seien. Spätestens meine Reaktion muss seine Vermutungen dann bestätigt haben.“
„Brauchst du heute Nacht einen Platz zum Schlafen?“
Stumm nickte Drago.
„Hast du.“
Langsam sackte Drago nach vorne, stützte die Arme auf die Ellenbogen und barg das Gesicht in den Händen. „Morgen gehe ich in die WG zurück. Nur heute schaffe ich das nicht.“
„Ist Patrick schon weg? Ich dachte, er zieht erst in drei Wochen aus?“
„Das muss ich aushalten.“
„Nah, red keinen Blödsinn. Du kannst natürlich mehr als die eine Nacht bei mir pennen, das ist doch klar. Wir überlegen uns auch was Bequemeres als diese Couch.“
Drago nahm das kommentarlos hin, aber Marco bildete sich ein, seine Schultern einige Millimeter nach unten sacken zu sehen.
„Hast du alles dabei, was du brauchst?“, fragte Marco. „Oder ist noch was bei deinem Onkel?“ Zu gut stand ihm sein eigener Rausschmiss vor Augen. Ohne Schlüssel, ohne Ausweis, nur mit den Klamotten am Leib, die er an diesem Abend getragen hatte. Es hatte jedes Quäntchen von Mannis Geduld und Überzeugungskunst erfordert, Marcos Vater zu überreden, ihm wenigstens seine wichtigsten Papiere zu überlassen.
„Es ist alles hier. Ich bin freiwillig gegangen.“
„Er hat dich gar nicht rausgeworfen?“ Färbte möglicherweise Dragos Scham seine Wahrnehmung, und in Wirklichkeit sah die Situation weniger düster aus? Marco hoffte, dass er damit richtig lag. „Was genau hat dein Onkel denn gesagt?“
Es dauerte, bis Drago antwortete. „Er hat mir“, eine erneute Pause, „Hilfe angeboten.“
„Hilfe?“
„Einen Therapeuten, der sich mit ‚Menschen wie mir‘ auskennt.“
Ein kalter Schauer kroch über Marcos Rücken. „Bitte sag mir, dass du abgelehnt hast.“ In der Phase, in der Marco selbst mit seiner Sexualität gehadert hatte, hatte er sich ebenfalls mit dem Thema beschäftigt – damals in der Hoffnung, eine Lösung zu finden – und der Horror einiger Erfahrungsberichte hing ihm heute noch nach. „Drago?“
„Ich mag diesen Teil von mir verheimlichen, aber ich habe mich damit abgefunden, dass er so unveränderlich zu mir gehört wie meine Augenfarbe. Also bin ich gegangen.“
Etwas mehr Selbsthass als Marco gefiel, aber besser als die Alternative. Was nicht bedeutete, dass damit die drängendsten Probleme gelöst waren. Dragos Onkel hatte ihn bisher finanziell unterstützt und bei einem engen Budget machte jeder Euro einen Unterschied, ob man sich am Ende des Monats Lebensmittel leisten konnte oder abends der Magen knurrte. „Wie sieht‘s mit Geld aus? Hilft er dir da wenigstens weiter, bis du dein Studium fertig hast?“
„Ich konnte ihm abringen, meiner Mutter gegenüber Stillschweigen zu wahren. Mehr als das darf ich nicht erwarten.“
Marco ersparte sich jeden Kommentar darüber, wohin sich Dragos Onkel dieses Stillschweigen seiner Meinung nach schieben durfte. Obwohl er es am eigenen Leib erfahren hatte, würde er nie verstehen, wie man so mit Menschen umgehen konnte, von denen man fünf Minuten zuvor geschworen hätte, sie von ganzem Herzen zu lieben. Warum ließ sich Drago das gefallen? Er sollte zornig sein! Stattdessen kauerte er wie ein betrunkenes Häuflein Elend auf der Couch.
Porco dio, Marco war ein Idiot. Als kümmerten Drago gerade potenzielle Geldprobleme oder auch nur die Frage, wo er die Nacht verbrachte. Das hatte Marco damals ebenfalls höchstens am Rande beschäftigt. Dragos Onkel, der Mann, von dem er in den höchsten Tönen sprach, der Mann, der ihn und seine Familie nach der Flucht vor seinem gewalttätigen Vater aufgenommen und ihm anschließend den Traum vom Architekturstudium ermöglicht hatte, der Mann, der ihm Halt und Sicherheit und Liebe gegeben hatte, hatte ihn vor die Tür gesetzt. „Du hast nichts falsch gemacht, das weißt du hoffentlich? Wie dein Onkel gerade mit dir umgeht, ist ganz allein seine Verantwortung und ehrlich gesagt ziemlich beschissen.“
Doch noch während er redete, spürte Marco, dass diese Argumentationslinie nicht weiterhalf. Was auch immer Drago im Augenblick brauchte, es waren keine schönen Worte, zumindest nicht die, die Marco aus seinem Hirn kramen konnte. Sein Instinkt wollte ihn dazu verleiten, Drago in eine feste Umarmung zu ziehen, ihn zu halten und zu trösten, aber er zögerte.
Irgendwann, der Übergang fühlte sich zu fließend an, um einen klaren Zeitpunkt zu definieren, hatten sie begonnen, nach dem Sex zu kuscheln. Allerdings nicht immer und Marco scheiterte bisher daran, vorherzusagen, an welchen Abenden Drago Freiraum bevorzugte, und an welchen er sich zur Seite rollte, Marcos Arm um seine Taille schlang und mit einem zufriedenen Seufzen liegenblieb.
Es gab jedoch eine Berührung, die Drago von Beginn an zugelassen hatte.
Darauf gefasst, zurückgewiesen zu werden, legte Marco eine Hand in Dragos Nacken und kreiste mit den Fingerkuppen über verspannte Muskeln und fedriges Haar. Er spürte das kurze Zucken, das durch Drago ging und hielt inne, doch es kam kein Protest. Stattdessen sank Drago zur Seite, bis sein Kopf schwer auf Marcos Schoß fiel.
Still verharrten sie in dieser Position, der Kommentator der Billard-Meisterschaft als stetes Hintergrundrauschen, Marcos Fingerspitzen an Dragos Nacken eine Erinnerung, dass er nicht allein war.
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Als die Billard-Meisterschaft ihr Ende fand und dafür leicht bekleidete Frauen zu nichtssagender Musik halbherzig versuchten, ein Auto aus dem Schlamm zu schieben, schaltete Marco den Fernseher aus. Noch immer lag Drago in seinem Schoß, so still, dass sich Marco fragte, ob er eingeschlafen war. Das hätte er mit Marcos Beinen gemein.
Wie aufs Stichwort richtete sich Drago auf und rieb sich übers Gesicht. Es schien einen Moment zu dauern, bis er realisierte, wo er sich befand, dann erhob er sich mit wackligen Beinen und wankte ins Badezimmer.
Marco nutzte seine Abwesenheit, um Bettzeug bereitzulegen. Er drapierte ein sauberes Laken über der Couch, schüttelte Kissen und Decken auf und gab sich Mühe, die improvisierte Schlafstätte gemütlich aussehen zu lassen, wobei auch die schönste Präsentation nicht darüber hinwegtäuschte, dass Drago darauf kaum die Beine würde ausstrecken können. Egal, für eine Nacht genügte es und morgen überlegten sie sich eine bessere Lösung.
Während Marco die Decken glattstrich, kehrte Drago aus dem Bad zurück, fahl und sichtlich fertig mit dem Tag. Sein Blick streifte die vorbereitete Couch. Er murmelte: „Danke.“
„Nah, nicht dafür.“ Marco richtete sich auf. „Brauchst du sonst noch was?“
Anstelle einer Antwort trat Drago einen Schritt näher, verringerte den Abstand zwischen ihnen auf wenige Zentimeter. Die Augenlider schwer, die Lippen einen Spalt geöffnet, beugte er sich nach vorne.
Im letzten Augenblick drehte Marco den Kopf zur Seite; Dragos Mund streifte sein Ohr, seinen Hals und stoppte an seiner Schulter. Weiches Haar kitzelte Marcos Nase, duftete nach frisch gewaschener Wäsche, überlagert vom säuerlichen Geruch des Weins. „Zeit fürs Bett“, flüsterte er in Dragos Ohr.
Widerstandslos ließ sich dieser auf die Couch bugsieren und zudecken. Marco spülte die Weingläser aus, verfrachtete die Reste seines Abendessens in den Kühlschrank und füllte ein sauberes Glas mit Wasser, das er vor Drago auf den Couchtisch stellte.
Behutsam kämmte er ihm einige Strähnen aus der Stirn, sagte: „Schlaf gut“, und meinte: „Warte, bis du nüchtern bist und dich nicht mehr in einem emotionalen Ausnahmezustand befindest. Wenn du mich dann noch immer küssen willst, steige ich mit Freuden darauf ein.“
Anschließend löschte er das Licht und ging ins Bett.
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Marco erwachte mit der dumpfen Gewissheit, seine Wohnung verwaist vorzufinden. Er hatte den Vorhang vor seinem Bett bewusst einen Spalt geöffnet gelassen, um die ersten Strahlen der Morgensonne mitzubekommen, die ihm nun fröhlich direkt in die Augen schien. Genug Zeit für Drago, sich – mal wieder – klammheimlich davonzustehlen.
Umso mehr überraschte Marco das fest in die Bettdecke gewickelte Bündel auf seiner Couch, das sich beim Klang seiner Schritte langsam entfaltete. Drago sah keinen Deut besser aus als am Vorabend, mit dem einzigen Unterschied, dass seine bleiche Haut anstatt roter Flecken nun einen milden Grünstich zeigte.
„Du siehst aus, als könntest du ein ordentliches Frühstück vertragen.“
Ohne diese Feststellung mit einer Antwort zu würdigen, stand Drago auf, kramte ein paar Dinge aus seiner Sporttasche und schlurfte ins Bad. Als er wieder herauskam, wirkte er minimal fitter. Was möglicherweise mit der engen Laufkleidung zusammenhing, in die er zwischenzeitlich geschlüpft war, und die die Vorzüge seines trainierten Körpers nur allzu auffällig betonte. Zielgerichtet ging er erneut zu seiner Sporttasche und holte seine Laufschuhe heraus.
„Du willst nicht wirklich Joggen gehen?“
„Wenn ich abends trinken kann, kann ich morgens trainieren.“ Drago wandte sich zu Marco, zögerte, und fragte schließlich: „Steht dein Angebot noch?“
„Das Frühstück? Klaro.“
„Ich meinte, dass ich ein paar Tage bei dir schlafen kann.“
Machte sich Drago Sorgen wegen vergangener Nacht? Hoffentlich deutete er Marcos Reaktion auf seinen Kussversuch nicht als pauschale Zurückweisung; nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Marco wollte ihn küssen, porco dio, und wie er das wollte. Nur nicht so. Nicht, solange Drago ein Dach über dem Kopf und Trost brauchte.
„Du hast hier immer einen Platz“, versicherte Marco und ergriff dabei instinktiv Dragos Hand.
Stumm blickte Drago auf ihre ineinander verschlungenen Finger, denselben undeutbaren Ausdruck im Gesicht, den Marco seit Silvester gehäuft an ihm beobachtete. Abrupt wandte er sich ab und verließ die Wohnung.
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Drago ließ auf sich warten, bis sich Marco fragte, ob er seinem Freund Jo umsonst dessen Feldbett abgeschwatzt hatte. Nun stand es zusammengeklappt neben der Couch und mahnte Marco, endlich den Mumm aufzubringen sich seinen Gefühlen zu stellen, bevor er sich endgültig verrannte.
Obwohl er weiterhin mit einigen seiner Entscheidungen haderte, lösten sich die Schuldgefühle, die ihn seit seiner Trennung von Erik quälten, allmählich auf. Ihre Aussprache hatte einen Frühjahrsputz in seinem Inneren eingeläutet, der ihn jeden Tag etwas mehr mit sich selbst versöhnte. Zumal ihr vorsichtig geknüpfter Kontakt seither nicht abgerissen war.
Im Augenblick beschränkten sie sich auf kurze Nachrichten. Eine SMS, mit der Erik Marco informierte, gut in Berlin angekommen zu sein, eine weitere, in der Marco Erik schöne Grüße von Giulia und Giovanni ausrichtete. Oberflächlichkeiten, die halfen, die Brücke zwischen ihnen Stück für Stück neu aufzubauen.
Marco erlaubte sich, Erik zu vermissen, weil er endlich verstand, dass dieser Schmerz ihre Trennung nicht infrage stellte. Erik hatte es neulich selbst gesagt: Sie waren als Freunde gestartet. Durch die Trennung hatten sie nicht nur ihre Beziehung verloren, sondern auch diese Freundschaft; letztere vielleicht sogar schon lange zuvor. Natürlich trauerte Marco darum.
Doch sie konnten dahin zurückfinden. Weder brauchten sie eine feste Beziehung, um Teil im Leben des anderen zu sein, noch einen harten Schnitt, wenn keiner von ihnen diesen wollte. Sie durften Zeit miteinander verbringen, einander schätzen und unterstützen. Eben Freunde sein.
Im Nachhinein mochte diese Erkenntnis trivial erscheinen, aber Marco hatte lange damit gerungen, seine scheinbar widersprüchlichen Gefühle zu akzeptieren. Nun, da er es tat, füllten sie den nach der Trennung entstandenen Hohlraum in seiner Brust mit angenehmer Wärme, ohne Platz für Neues wegzunehmen.
Nur, dass dieses ‚Neue‘ Marco ziemliche Sorgen bereitete, denn es formte zunehmend ein konkretes Gesicht. Eines, das derzeit niemanden brauchte, der noch mehr Probleme in sein Leben trug. Oder ihm das Gefühl gab, seine Gastfreundschaft sei an Bedingungen geknüpft. Marco brauchte wiederum niemanden, der nicht plante, jemals offen zu seiner sexuellen Orientierung zu stehen.
Dennoch erkannte Marco die Zeichen. Die Sehnsucht nach Drago, sobald dieser aus der Tür verschwand, egal wie viel Zeit sie davor miteinander verbracht hatten. Das Bedürfnis, ihn zum Lachen zu bringen, ihm zuzuhören, herauszufinden, was in ihm vorging und wie er seinen Tag versüßen konnte. Das Herzklopfen, wann immer sie sich berührten.
Es war zum Haareraufen.
So ungern Marco es sich eingestand, Philipp hatte damals durchaus einen Punkt gehabt. Er neigte tatsächlich dazu, sich ausgerechnet in die emotional unzugänglichsten Männer zu vergucken, die er finden konnte. Erst Erik, nun Drago. Mit dem Unterschied, dass mit Erik immerhin der Hauch einer Chance bestanden hatte, eine Beziehung zu führen, unabhängig davon, wie diese letztlich geendet hatte.
Drago dagegen? Marco sah keinen Weg, wie das jemals funktionieren sollte. Angenommen, bei Drago bestand überhaupt Interesse, wie würde ihre Zukunft aussehen? Heimliche Dates, keine Fotos, kein gemeinsames Leben, sich niemals verplappern dürfen. Das schaffte Marco nicht. Das wollte er nicht. Er hatte sich nicht vor Jahren geoutet, mit allen Konsequenzen, nur um sich nun erneut zu verstecken.
Außerdem tat er gut daran, nicht zu viel in Dragos Verhalten zu interpretieren, nicht einmal in den Kussversuch. Ganz besonders nicht in den Kussversuch.
Vor einer Weile hatte Marco Drago gefragt, weshalb er Küsse auf den Mund ablehnte und die erwartete Antwort erhalten: Zu intim. Drago räumte ein, dass es objektiv betrachtet wenig Sinn ergab, ausgerechnet dort die Grenze zu ziehen, aber so fühlte es sich für ihn eben an. Dass er dieses Tabu am Vorabend beinahe gebrochen hätte, musste dennoch nichts bedeuten, schon gar nicht, wenn man bedachte, in was für einem Ausnahmezustand er sich befunden hatte.
Porco dio, Marco selbst wusste ja nicht einmal, ob er mehr wollte oder lieber nicht. Ja, Drago löste Herzflattern bei ihm aus. Ja, Marco hatte einen großen Schritt nach vorne gemacht, seine Trennung von Erik zu verarbeiten. Bedeutete das, dass er grundsätzlich bereit war, sich auf die nächste Beziehung einzulassen? Egal, ob nun mit Drago oder einem anderen. Er hasste es, sich den Kopf über Dinge zu zerbrechen, anstatt sie einfach auf sich zukommen zu lassen, aber … Drago. Gott verdammt, von allen Männern, die sein Herz zum Schlagen hätten bringen können, musste es ausgerechnet Drago sein?
Nein. Marco hatte absolut keine Lust, sich auf dieses Drama einzulassen. Sein Pensum an Liebeskummer war eindeutig erfüllt, mindestens für das nächste Jahr, besser noch für den Rest seines Lebens. Er mochte Drago, wollte an ihrer Freundschaft festhalten, und wenn sie gelegentlich miteinander ins Bett gingen, beschwerte er sich nicht. Seine Gefühle würde er dabei allerdings feinsäuberlich unter Verschluss halten, bis sie einsahen, dass niemand sie brauchte, ganz besonders er nicht, und verschwanden.
Wenn das nicht nach einem ausgezeichneten Plan klang.
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„Du warst lange weg.“ Oh gut, das hatte überhaupt nicht vorwurfsvoll geklungen.
Drago stoppte auf dem Weg von der Eingangstür zum Badezimmer und drehte sich zu Marco. „Ich habe mich spontan mit Daniel getroffen, um zu besprechen, wie es weitergeht. Wir hatten gehofft, nach Patricks Auszug keinen neuen Mitbewohner suchen zu müssen, aber in der aktuellen Situation ist das finanziell nicht machbar. Also werden wir das Zimmer ausschreiben.“ Er wirkte unangenehm berührt. „Daniel hat angeboten, den Hauptteil der Miete zu übernehmen, bis wir jemanden haben.“
Wenn man bedachte, dass Drago die letzten zwei Monate nicht in der WG gewohnt hatte, klang das durchaus fair für Marco. „Hast du sein Angebot angenommen?“
„Natürlich nicht. Abgesehen davon, dass er sich das auf Dauer nicht leisten kann, möchte ich nicht auf Almosen angewiesen sein.“
Obwohl Marco an Dragos Stelle exakt dieselbe Entscheidung getroffen hätte, sagte er: „Daniel hat sich sicher etwas dabei gedacht. Wenn es für ihn okay ist, und deine Situation entspannt, solltest du darüber nachdenken.“ Er zögerte, entschied sich aber letztlich dazu, die Frage zu stellen, die ihm auf der Zunge brannte. „Hast du ihm erzählt, warum dein Onkel dich nicht mehr unterstützt?“
„Nein.“ Ohne Marco die Chance zu lassen, genauer nachzuhaken, verschwand Drago ins Bad und zog die Tür hinter sich zu. Kurz darauf erklang das Gluckern der anspringenden Dusche.
Geduldig wartete Marco, bis Drago das Bad verließ, ein Handtuch um die Hüften und die grob trockengerubbelten Haare zu allen Seiten abstehend.
„Ich habe dir den Zweitschlüssel rausgelegt und den Schreibtisch freigeräumt, falls du den Platz zum Arbeiten brauchst“, sagte er. „Das Feldbett hast du wahrscheinlich schon gesehen. Kein Luxus, aber allemal besser als die Couch.“ Sollte Marco anbieten, Drago alternativ in seinem Bett schlafen zu lassen? Lieber nicht, das konnte fast nur falsch rüberkommen. „Und, äh, bloß um das grundsätzlich aus dem Weg zu räumen. Ich erwarte keinerlei … ‚Gefälligkeiten‘ dafür, dass ich dich hier wohnen lasse.“
Drago stand über den Küchentresen gebeugt, damit beschäftigt, den Zweitschlüssel an seinen Schlüsselbund zu fummeln, blickte beim letzten Satz jedoch ruckartig auf. „Habe ich dir das Gefühl gegeben, das zu denken?“
„Äh, nicht direkt? Ich dachte nur, ich stelle es nochmal klar, weil …“ Die Situation zwischen uns kompliziert ist. Weil ich nicht weiß, ob ich mehr von dir möchte, als du zu geben bereit bist. Weil ich nicht weiß, ob du mehr von mir erwartest, als ich dir derzeit bieten kann. Nichts davon sprach Marco aus. „Als ich zuhause rausgeflogen bin, wäre ich komplett aufgeschmissen gewesen, wenn Manni und Hugo mich damals nicht bei sich aufgenommen hätten. Das werde ich ihnen nie vergessen und wenn ich auch nur ein kleines Bisschen zurückgeben kann von dem, was ich damals bekommen habe, tue ich das ohne Wenn und Aber. Was ich damit sagen will, ist einfach … Du bist mein Gast, solange du ein Dach über dem Kopf brauchst, und ich werde niemals irgendwelche Bedingungen daran knüpfen.“
Drago nahm sich Zeit mit seiner Erwiderung, bis der Zweitschlüssel erfolgreich am Ring seines Schlüsselbunds baumelte, doch Marco sah sein Gesicht arbeiten. Emotionen wechselten sich darauf ab wie Schatten und Sonnenlicht an einem bewölkten Tag. Schließlich rutschte der Schlüssel an die richtige Stelle und er legte ihn zur Seite, hielt den Blick aber weiterhin gesenkt.
„Ich habe dir neulich schon gesagt, dass ich nicht besonders gut darin bin, meine Gefühle auszudrücken. In meiner Muttersprache nicht und erst recht nicht auf Deutsch.“ Seine Finger trommelten auf die Küchentheke. „Deshalb fällt es mir schwer, in Worte zu fassen, wie viel es mir bedeutet, mich auf dich verlassen zu können. Du hast mich dabei nie unter Druck gesetzt oder mir das Gefühl gegeben, mich revanchieren zu müssen. Alles, was ich dir im Gegenzug angeboten habe, war meine freie Entscheidung.“ Für einen kurzen Augenblick sah er aus, als wollte er mehr sagen, dann presste er seine Lippen auf eine Art zusammen, die Marco zeigte, dass er sich für Schweigen entschieden hatte. Ohnehin nicht nötig, laut auszusprechen, was sich relativ leicht zwischen den Zeilen lesen ließ: Das gilt auch für den Kussversuch gestern.
Vermutlich besser so. Marco wollte nicht testen, wie stark sein Herz hämmern konnte. „Solange du mich wissen lässt, falls ich irgendwas tue, womit du dich unwohl fühlst, ist für mich alles gut. Das ist so das Einzige, was mir echt wichtig wäre.“
„Sofern du mir dafür ehrlich sagst, wann ich dir auf die Nerven falle. Ich weiß, dass ich in einigen Dingen ziemlich speziell bin. Das kann schnell anstrengend werden.“
„Das kriegen wir schon hin. Ich finde, speziell zu sein ist nicht tragisch, wenn die jeweiligen Eigenarten zusammenpassen. Da sehe ich bei uns bisher wenig Probleme.“ Im Gegensatz zu ihm und Erik.
Stopp. Abgesehen davon, dass sich der Vergleich Erik gegenüber unfair anfühlte, sollte sich Marco verkneifen, darüber zu sinnieren, wie gut oder schlecht er und Drago zusammenpassten. Nicht, nachdem er eben erst entschieden hatte, auf keinen Fall mehr als eine Freundschaft mit eventuellen Extras zu wollen.
So mit sich selbst beschäftigt, hätte Marco beinahe Dragos Reaktion auf seine Aussage verpasst. Oder vielmehr seine Nichtreaktion. Er hielt völlig still, als stünde er unerwartet einem aus dem Zoo ausgebüchsten Tiger gegenüber. Gingen seine Gedanken etwa in eine ähnliche Richtung? Oder fürchtete er, Marco machte sich Hoffnungen?
Machte sich Marco Hoffnungen?
Am besten, sie kamen einfach komplett von diesem Thema ab. Marco räusperte sich. „Wie sieht’s aus? Ist dein Magen bereit für Frühstück?“
Leise stöhnend ließ Drago den Kopf auf die Thekenplatte sinken. „Nein.“
Amüsiert lehnte sich Marco an die gegenüberliegende Seite der Theke, widerstand allerdings der Versuchung, Dragos nasses Haar aus seinem Nacken zu kämmen. „Wie jetzt? Joggen geht, aber Nahrungsaufnahme nicht?“
„Joggen ging auch nicht“, murmelte Drago in seine Arme. „Nach ein paar Minuten habe ich aufgegeben und stattdessen Daniel gebeten, sich spontan mit mir zu treffen.“
Ah, so war das also abgelaufen. Nun gab Marco der Versuchung doch nach, zumindest teilweise, und tätschelte Dragos Kopf, was Drago grummelnd hinnahm. „Ich bereite jetzt einfach ein paar Sachen zu und du bedienst dich, wenn dir danach ist. Klingt gut?“
„Im Moment nicht, aber ich bin bereit, meinen Fehler einzugestehen, sollte ich mich irren.“
Das tat er dann auch fünfzehn Minuten und die zweite Portion Rührei später. Insgeheim dachte Marco, dass er sich trotz der unglücklichen Umstände, die zu dieser Situation geführt hatten, ziemlich auf die kommenden Wochen freute.