Was zuletzt geschah:
Eriks letzte Begegnung mit Tyler hat einiges in ihm in Aufruhr versetzt. Er denkt über seine Zukunft nach, über die Freiheit, sich auszuprobieren, herauszufinden, wer er ist und was er möchte. Doch um der Zukunft entgegenzublicken, muss man sich häufig auch seiner Vergangenheit stellen.
Kapitel 44
Erik lieferte sich ein Blickduell mit seiner Schreibtischschublade. Die wiederum tat nicht viel, außer zu existieren, was erheblich zu seinem Frust beitrug. Zu gerne hätte er sie angemeckert, aber dann käme er sich nicht mehr nur feige vor, sondern fürchtete, dass endgültig eine Schraube weniger fest saß, als sie sollte.
„Ah verflucht, jetzt stell dich nicht so an.“ Entschlossen öffnete er die Schublade und holte den in der hintersten Ecke versteckten Briefstapel hervor. Dabei stießen seine Finger gegen das ebenfalls darin verstaute Foto, das ihn und seine Eltern bei einem ihrer letzten Ausflüge zeigte. Zögerlich brachte er auch das ans Tageslicht.
Himmel, wie sehr sie ihm fehlten.
Erik legte das Bild zur Seite, widerstand jedoch der Versuchung, es zurück in die Schublade zu verbannen. Er vermisste seine Eltern an jedem einzelnen Tag und egal, wie viel Zeit verging, der Schmerz flaute nie ab. Über die Jahre hatte Erik lediglich gelernt, besser damit umzugehen. Zeiträume einzurichten, in denen er sich ihm hingeben konnte, ohne im Alltag komplett gelähmt zu sein. Aber er hatte es satt, sich von ihm die Erinnerungen an seine Eltern nehmen zu lassen.
Erik nahm den Briefstapel in die Hand, stellte fest, dass seine Tante ihn bereits säuberlich nach Datum des Poststempels sortiert hatte, und öffnete vorsichtig den ältesten Brief. Fast fünfunddreißig Jahre waren vergangen, seit seine Mutter ihn abgeschickt hatte.
Schon jetzt blinzelte Erik gegen Tränen an. Mit zitternden Fingern fuhr er die einzelnen Buchstaben nach, all die kleinen Unregelmäßigkeiten, die eine Handschrift ausmachten. Den ausladenden Schwung des Hs seiner Mutter, den er als Kind so mochte, dass er versucht hatte, ihn zu kopieren. Noch heute entdeckte man die Überreste dieser Bemühungen in seiner eigenen Handschrift.
Er atmete tief durch und begann zu lesen.
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Eine Stunde später hatte sich Erik durch sämtliche Briefe und zwei Packungen Taschentücher gearbeitet. Tränen rollten über seine Wangen, gleichzeitig lag ein Lächeln auf seinen Lippen.
Aus jeder Zeile sprach die Stimme seiner Mutter, jünger und ungefilterter, als er sie je erlebt hatte. Sie erzählte ihrer Schwester von ihrem ersten Eindruck von Berlin, dem winzigen Zimmer im Studentenwohnheim, in dem sie lebte, und von ihren Flurnachbarn. Von ihrem Studium, den Partys, die sie gefeiert hatte. Und später, von Eriks Vater.
Liebevoll strich er den Brief vor ihm glatt. Darin schrieb seine Mutter von einem Badesee ein Stück außerhalb Berlins, den sein Vater ihr gezeigt hatte. Zusammen hatten sie in der Sonne gelegen, das Wasser genossen und sich bei einem nahegelegenen Imbiss mit Eis versorgt.
Erik schielte nach draußen. Der Himmel erstrahlte in wolkenlosem Blau und die Sonne reflektierte auf den gegenüberliegenden Häuserdächern. Nur ein minimaler Luftstrom kam durch sein weit geöffnetes Fenster, brachte den Geruch nach Abgasen, heißem Asphalt und Gras – nicht die Sorte, die für gewöhnlich auf Wiesen wuchs – mit sich. Ein Ausflug an den See klang nach gar keiner so schlechten Idee, selbst wenn er seinen Ohrlöchern noch keinen Gang ins Wasser zumuten durfte. Abgesehen von einer Schicht im Tix am Abend, hatte er für diesen Samstag ohnehin keine Pläne.
Noch einmal überflog Erik sämtliche Briefe, suchte nach Anhaltspunkten, um welchen See es sich handeln könnte, während er zwischen den Worten seiner Mutter und der auf seinem Laptop aufgerufenen Karte hin und her blickte. Schließlich grenzte er seine Auswahl auf zwei Möglichkeiten ein. Vielleicht lag er mit beiden daneben, die Informationen, die er hatte, waren dürftig und über ein Vierteljahrhundert alt, aber dann verbrachte er seinen Tag eben schlimmstenfalls an einem See, der nichts mit seinen Eltern zu tun hatte.
Nun musste er nur noch herausfinden, wie er hinkam.
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Genüsslich streckte sich Erik auf seinem Badetuch aus. Die Erde darunter kühlte seinen Bauch, über ihm wärmte die Sonne seinen Rücken. Vögel zwitscherten und Kinder lachten und der See verbreitete einen Duft, der sich kaum beschreiben ließ. Weniger beißend als Meerwasser, dafür schwerer, voller, fast schon erdig. Erik könnte ewig hier liegen und seine Lungen damit füllen.
Leider blieben ihm nur noch wenige Minuten, bis er den Rückweg antreten musste. So schön dieser See sein mochte, er lag ein gutes Stück außerhalb der Stadt und die Verbindung mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ließ sich bestenfalls als ‚mittelmäßig‘ beschreiben, sofern man sehr höflich sein wollte. Was Erik darauf brachte, dass er sich endlich ein Fahrrad zulegen sollte. Wobei selbst das in diesem Fall kaum helfen würde, seine Fahrzeit merklich zu verringern. Dafür bräuchte er schon ein Auto.
Überrascht registrierte Erik, dass ihn dieser Gedanke nicht länger in Panik versetzte. Nervosität vielleicht, aber ging das nicht jedem Fahranfänger so? Oder jedem, der plante, Fahranfänger zu werden. Himmel, plante er, Fahranfänger zu werden?
Sah fast danach aus.
Es gäbe durchaus Sinn. Nicht nur, weil er damit abgeschiedene Orte wie diesen See schneller erreichte – tatsächlich gehörte das zu den vernachlässigbaren Gründen – sondern, weil es ihm Nachtschichten erleichtern würde. Das galt schon jetzt für die Arbeit im Tix und umso mehr, wenn er später in seinem Studium im Krankenhaus eingesetzt wurde. Dabei nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen zu sein, oder sich am Ende einer langen Schicht noch aufs Fahrrad schwingen zu müssen, hätte definitiv Vorteile.
Schon seltsam, wie sehr sich Erik seit seinem Umzug verändert hatte. Seine letzte Panikattacke lag Monate zurück, und obschon der Drang nach Selbstverletzung weiterhin unter der Oberfläche schwelte, und das vermutlich für den Rest seines Lebens tun würde, hatte er ihn derzeit so gut im Griff, dass er an den meisten Tagen keinen Gedanken daran verschwendete. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sich Erik wohl in seinem Körper. Und jetzt schmiedete er offenbar Pläne, eine seiner größten Ängste zu konfrontieren.
Einen Ort zu haben, der ganz ihm gehörte und an dem er seine Zukunft gestalten konnte, ohne permanent von Geistern seiner Vergangenheit verfolgt zu werden, tat ihm gut. Die Freiheit, neue Facetten seiner selbst zu erforschen, tat ihm gut. Berlin tat ihm gut.
Erik rappelte sich hoch und schlüpfte in seine Straßenkleidung. Zu gerne hätte er seine nackte Haut länger von der Sonne bescheinen lassen, aber es half nichts, er musste nach Hause, eine Kleinigkeit essen, sich umziehen und dann weiter zur Arbeit. Die Aussicht, in ein paar Tagen wieder hier liegen zu können – sofern das gute Wetter anhielt – hellte seine Stimmung jedoch beträchtlich auf.
Völlig egal, ob seine Mutter in ihren Briefen von diesem See gesprochen hatte, so oder so hatte er einen weiteren Ort für sich erobert. Und obwohl er derzeit weder eine feste Beziehung wollte noch wirklich daran glaubte, jemals wieder eine zu führen, regte sich in ihm die Hoffnung, diesen Ort irgendwann einmal mit jemandem teilen zu können, den er mit demselben Blick sah, mit dem seine Mutter damals seinen Vater beschrieben hatte.
Autorenkommi:
Sorry, spätes Kapitel und dann auch noch superkurz. Das nächste wird dafür wieder deutlich länger!