Was zuletzt geschah:
Nach Marcos Bitte, an Heiligabend nicht ins Tässchen zu kommen, beschließt Erik kurzerhand, Stuttgart lieber komplett zu meiden und sich in seinem neuen Nebenjob zu vergraben. Marco hat die Stadt also für sich allein, doch wird ihn das glücklich machen?
Kapitel 26
Es funktionierte nicht. Völlig egal, wie viel Kinderpunsch Marco in sich reinkippte und wie lange er die blinkenden Lichtergirlanden an den Wänden anstarrte, er kam nicht in Weihnachtsstimmung. Um ihn herum herrschte ausgelassenes Geschnatter, untermalt von festlicher Musik, doch keine der Stimmen richtete sich an ihn, keines der Gesichter hatte er je mehr als flüchtig wahrgenommen. Manni zog seine Kreise bei seinen Schützlingen, Hugo stockte Punsch und Plätzchen auf und Philipp ließ, trotz seines Versprechens vorbeizuschauen, auf sich warten.
Hoffentlich genoss Erik sein Weihnachten mehr, als Marco das gerade tat. Noch immer haderte er mit seiner aus purer Panik heraus geborenen Antwort. Hatte er nicht bei ihrem Trennungsgespräch angeboten, Freunde zu bleiben? Die Worte sogar ernst gemeint. Und dann reagierte er so?
Doch die Vorstellung, sich tatsächlich mit Erik im selben Raum aufzuhalten; ihn reden und lachen zu hören, oder schlimmer noch, die Sorgenfalte zwischen seinen Brauen zu entdecken … Marco konnte es einfach nicht. Nicht, solange er nachts wach lag und den Jungen neben sich vermisste. Die ständig kalten Hände und Füße, das lange Haar, das seine Nase kitzelte. Den Mund, der liebevolle Worte in sein Ohr flüsterte.
„Du siehst etwa so fröhlich aus, wie ich mich fühle.“
Ertappt aber erleichtert drehte sich Marco zu Philipp. „Buon natale. Hatte schon befürchtet, du kommst nicht mehr.“
„Gibt nicht viel, wohin wir sonst könnten. Charlotte hat den Kontakt mit ihrer Mutter weitestgehend abgebrochen und je seltener ich meine sehe, umso besser ist es im Moment.“
„Ist zwischen euch was passiert?“ Himmel, Marco ließ sich so von seinen eigenen Problemen vereinnahmen, dass er kaum mitbekam, was im Leben seiner Freunde vorging.
„Ist gerade einfach allgemein schwierig mit ihr. Ihr neuer Kerl ist ein Arsch, aber damit könnte ich umgehen. Das Problem ist, dass er auch alle ihre schlechteren Seiten zum Vorschein bringt. Ich dachte eigentlich, sie hätte die letzten Jahre ein besseres Verständnis dafür entwickelt, was in mir vorgeht und jetzt … fangen wir wieder bei Null an.“
„Wenn ich irgendwas tun kann, lass es mich wissen“, sagte Marco. „Ich bin immer für dich da.“ Sofern er nicht mit seinem Kopf so tief in seinem eigenen Arsch steckte, dass er sein komplettes Umfeld vergaß.
„Tatsächlich gäbe es da was. Nach den Feiertagen werde ich anfangen, nach einer Wohnung zu suchen. Was Tolles ist finanziell nicht drin, aber ich würde es trotzdem vorziehen, nicht in einer völlig versifften Schimmelbude zu wohnen. Blöderweise kenne ich mich mit sowas null aus und Charlotte auch nicht wirklich. Wärst du bereit, uns zu unterstützen? Einfach mal, keine Ahnung, Fotos ansehen? Uns sagen, ob dir irgendwas verdächtig vorkommt. Du bist der Einzige, den ich kenne, der handwerklich fit ist.“
„Klaro“, erwiderte Marco sofort. „Keine Ahnung, wie viel ich da wirklich helfen kann, aber ich unterstütze euch auf jeden Fall so gut wie möglich.“ Eventuell konnte er Drago dazu ins Boot holen. Ein angehender Architekt sollte sich mit sowas doch auskennen. „Das bedeutet, du ziehst definitiv aus?“
„Ist die einzige Möglichkeit, die ich sehe, um das Verhältnis zu meiner Mutter nicht komplett zu ruinieren. Wir brauchen dringend Abstand voneinander. Ich hoffe, das sieht sie genauso und macht kein Drama daraus. Ich bin ja trotz allem auf ihre finanzielle Unterstützung angewiesen. Wenn sie mir die verweigert, wirds richtig schwierig.“
„Und Charlotte?“
„Zieht mit ein, hoffentlich. Sie verdient in ihrer Ausbildung zwar auch nicht gerade viel, aber zu zweit können wir uns einfach mehr leisten als jeder für sich. Außerdem geht ihr die WG allmählich auf die Nerven.“
„Ärger mit der neuen Mitbewohnerin?“ Marco hatte Eriks Ersatz, nachdem dieser in seine eigene Wohnung umgezogen war, nie persönlich kennengelernt. Kaum zu fassen, dass das schon fast zwei Jahre her sein sollte.
„Kein Ärger. Ich habe nur Bock auf was Neues. Schätze, das Gefühl kennst du ganz gut.“
Wenn man vom Teufel sprach. „Buon natale, Charlotte. Schön dich zu sehen.“
„Klar doch.“ Charlotte versuchte gar nicht erst, Marco mit Neutralität zu begegnen. Man musste ihr die Ehrlichkeit wohl zugutehalten. „Da. Punsch.“ Sie drückte Philipp eine der beiden Tassen, die sie trug, in die Hand. „Setzen wir uns da drüben hin.“
‚Da drüben‘ meinte einen der Bistrotische nahe am Fenster, die gerade genug Platz für zwei Personen boten. Sag mir, dass ich mich verpissen soll, ohne mir zu sagen, dass ich mich verpissen soll. So viel zu der Idee, Heiligabend gemeinsam zu verbringen.
Um Philipp den peinlichen Moment zu ersparen, sich für eine Seite entscheiden zu müssen, winkte Marco zum Abschied und schlenderte Richtung Manni und Hugo, die sich eben am Tresen eine kurze Pause gönnten. Offensichtlich hatten die beiden alle Hände voll zu tun. Es stimmte Marco traurig, wie viele junge Menschen Heiligabend aus verschiedensten Gründen nicht mit ihrer Familie verbrachten und es stimmte ihn noch trauriger, selbst zu dieser Gruppe zu gehören.
„… es richtig schade, dass Erik heute nicht hier ist. Er fehlt mir.“
Marco stoppte. Hugos Worte trafen ihn hart, dabei waren sie nicht einmal an ihn gerichtet, sondern an Manni, der verständnisvoll nickte. Bisher hatte keiner von beiden Marco bemerkt.
„Ich hätte ihn auch gerne gesehen“, sagte Manni. „Aber ich verstehe auch, dass er seinem neuen Job den Vorzug gibt.“
„Schon klar, ich auch. Als Neuling hat man da ja oft gar nicht wirklich die Wahl, das weiß ich ja aus eigener Erfahrung. Da übernimmt man eben die Schichten, die sonst keiner will. Und die letzten Male klang es immerhin so, als hätte Erik wirklich Spaß an seinem Job. Trotzdem ärgerlich, dass die Zeiten so blöd fallen, dass es sich nicht für ihn lohnt, überhaupt nach Stuttgart zu fahren. Aber klar, für einen einzelnen Tag würde ich mich auch nicht stundenlang in die Bahn hocken wollen.“
Zu gerne hätte Marco dieser Erklärung Glauben geschenkt, stattdessen sank eine Befürchtung schwer auf ihn herab. Hielt seine Bitte Erik nicht nur aus dem Tässchen, sondern von der ganzen Stadt fern? Quatsch. Sicher würde Erik nicht seine kompletten Pläne umkrempeln, bloß weil Marco um ein wenig Abstand gebeten hatte. Seine Antwort auf Marcos Nachricht hatte sich schließlich recht entspannt gelesen.
Genau. Erik sagt nämlich immer, was er denkt. Und überspielt niemals, wie er sich wirklich fühlt.
Cazzo!
„Marco! Dich sehe ich ja jetzt erst.“ Mannis Lächeln blieb bestehen, doch sein Blick schärfte sich. „Beschäftigt dich etwas?“
Nichts, wovon er erzählen wollte. „Nah, nur k. o. Ich denke auch, ich packe es so langsam.“
„Jetzt schon?“, fragte Hugo. „Die Feier hat noch gar nicht richtig angefangen.“
„Meine Geschenke habe ich schon in die Wichteltüte gelegt.“
Hugo ersparte sich den Hinweis, dass das keine Antwort auf seine Frage war. „Hoffentlich hast du dir nichts eingefangen. Ruh dich auf jeden Fall gut aus.“
„Und komm zwischen den Feiertagen zum Abendessen vorbei, hm?“, fügte Manni hinzu. „Du hast dich lange nicht mehr blicken lassen.“
„Klaro. Also dann … wir sehen uns.“ In seiner Eile wegzukommen, vergaß Marco die sonst übliche Abschiedsumarmung. Kein Wunder, dass sich der Wind, der ihm draußen entgegenschlug, doppelt eisig anfühlte.
Die Vibration seines Handys kündigte eine eingehende SMS an. Erik? Rasch fischte Marco das Gerät aus seiner Hosentasche und entzifferte die Nachricht auf dem Display. Nicht von Erik, sondern von Drago. Untypisch für ihn, nicht direkt anzurufen.
‚Frohe Weihnachten.‘
Anstatt eine Antwort zu tippen, wählte Marco Dragos Nummer und wartete, bis am anderen Ende abgehoben wurde. „Ich dachte du feierst kein Weihnachten. Oder zumindest heute nicht.“
„Ist es mir deshalb verboten, dir schöne Feiertage zu wünschen?“
„Sì. Jetzt muss ich leider Anzeige erstatten. Zum Glück hast du eine SMS geschickt, das erleichtert die Beweisführung.“
Drago lachte. „Du feierst mit Freunden. Ich wollte nicht unterbrechen.“
„Hättest du nicht. Eigentlich bin ich gerade auf dem Heimweg.“ Bevor Drago hier einhaken konnte, fragte Marco: „Was treibst du heute? Ist Daniel zuhause?“
„Ich bin allein. Daniel und Patrick sind bei ihren Familien.“
Drago machte es seinem Gegenüber grundsätzlich schwer, seine Gefühle abzuschätzen, und Marco grübelte, ob tatsächlich ein betrübter Unterton in dessen Worten mitschwang, oder er ihn sich einbildete.
„Willst du vorbeikommen?“
Überrascht blieb Marco stehen. Mit einer Einladung hatte er nicht gerechnet. Den restlichen Abend mit Drago zu verbringen, klang allerdings deutlich erfreulicher, als allein rumzusitzen und wider besseres Wissen darauf zu hoffen, dass sich seine Familie bei ihm meldete. Oder sich auszumalen, was gerade in Erik vorging. „Soll ich irgendwas mitbringen?“
„Nein. Bis gleich.“ Drago legte auf. Das ‚Ich freue mich auf dich‘ ergänzte Marco einfach in Gedanken.
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„Buon natale“, begrüßte Marco Drago, als dieser ihm etwa dreißig Minuten nach ihrem Telefonat die Tür öffnete.
„Lass die Jacke an und nimm dir Hausschuhe.“ Drago deutete auf das Schuhregal neben ihm. „Die grünen.“
Verwirrt schlüpfte Marco in die flauschig gefütterten Pantoffeln. „Ist eure Heizung ausgefallen?“
„Nein.“ Ohne weitere Erklärung führte Drago ihn durchs Wohnzimmer, vorbei an Sofa und Sesseln, bis in den Wintergarten. Dort standen, umringt von Pflanzen, zwei Gartenstühle, jeder mit einer dicken Wolldecke ausgestattet. Die Decke auf dem linken Stuhl lag ordentlich gefaltet auf dem Sitz, auf dem rechten war sie ausgebreitet und zerwühlt. Drago musste bereits vor Marcos Ankunft hier gesessen haben.
Zwischen den beiden Stühlen hatte er ein Tischchen platziert, das genug Fläche für eine Thermoskanne und zwei Tassen bot. Als einzige Lichtquelle dienten mehrere Kerzen, die sich bei näherer Betrachtung als batteriebetrieben herausstellten. Es wirkte … im letzten Augenblick wechselte Marco von ‚romantisch‘ zu ‚behaglich‘.
„Daniel hat mir selbstgemachten Glühwein hiergelassen“, sagte Drago, während er die beiden Tassen mit dem süß duftenden Inhalt der Thermoskanne füllte.
„Nett von ihm.“ Marco sank auf den für ihn vorgesehenen Stuhl und wickelte die Decke fest um seine Schultern. Er hielt sich nicht für verfroren – eher im Gegenteil – aber die Temperatur im Wintergarten lag höchstens ein paar Grad über der außerhalb. Umso dankbarer nahm er die dampfende Tasse entgegen, die Drago ihm reichte. „Grazie.“
Im Stuhl zurückgelehnt, blickte er durch die Glasfront in die Nacht. Der pünktlich zum dritten Advent gefallene Schnee hatte sich über die vergangene Woche in unansehnliche, grau-braune Klopse am Straßenrand verwandelt und das Wetter machte keine Anstalten, für Nachschub zu sorgen. Dafür spendierte es ihnen eine wolkenfreie Nacht, mit Sicht auf die am Himmel glitzernden Sterne. Jedenfalls die wenigen, die man in der grell erleuchteten Großstadt eben zu sehen bekam. „Machst du das öfter?“, fragte Marco. „Hier sitzen?“
„Gelegentlich“, antwortete Drago. „Sofern ich nichts anderes zu tun und die Wohnung für mich habe. Beides ist selten.“
„Nervt dich das WG-Leben?“ Wenn jemand den Eindruck des einsamen Wolfs erweckte, dann Drago.
„Ich kenne es nicht anders. Bevor ich nach Deutschland gezogen bin, habe ich mit meiner Mutter und meinen Schwestern zusammengelebt. Die Älteren sind zwar irgendwann ausgezogen, aber Jovana ist ein paar Monate später wieder zurückgekommen. Sie war schwanger, ungeplant, und ihr damaliger Freund hat sie verlassen.“ Die Art, wie Drago die Decke verdrehte, ließ Marco vermuten, dass er gerade lieber den Hals besagten Exfreunds zwischen den Fingern hätte.
„Das heißt, ihr wart“, Marco rechnete, „zu sechst? Beziehungsweise dann zu fünft plus Baby?“ Er versuchte sich Drago mit einem Säugling auf dem Arm vorzustellen und scheiterte kläglich. „Hast du nicht neulich gesagt, dass die Wohnung nicht besonders groß war?“
„Ein Wohnzimmer und zwei Schlafzimmer. Meine Schwestern haben sich je ein Zimmer geteilt und meine Mutter hat auf dem Sofa im Wohnzimmer geschlafen.“
„Und du?“
„In der Küche, auf einem Feldbett, das wir tagsüber weggeräumt haben. Dann hatte ich kurz das Zimmer meiner älteren Schwestern, bis Jovana zurückkam.“ Drago nippte an seiner Tasse, ohne die Augen vom Sternenhimmel abzuwenden. „Mein eigenes Zimmer zu haben, gelegentlich allein zu sein, ist ein Luxus, an den ich mich erst gewöhnen musste.“
„Ein Luxus, den ich dir gerade nehme“, scherzte Marco.
„Ich hätte dich nicht eingeladen, wenn ich dich nicht hier haben wollte.“
Die nüchterne Aufrichtigkeit, mit der Drago das sagte, kostete Marco für einen Moment die Stimme. Er räusperte sich, um sie wiederzufinden. „Würdest du lieber allein wohnen statt in einer WG?“
„Es fällt mir schwer, das zu beantworten, weil ich nicht weiß, wie es sich anfühlt, ganz allein zu leben. Die ersten Monate nach meinem Umzug nach Deutschland hat mich mein Onkel bei sich aufgenommen. Selbst wenn ich zu dem Zeitpunkt eine eigene Wohnung gewollt hätte, wer vermietet schon an einen ausländischen Studenten ohne Rücklagen und festes Einkommen.“
„Dein Onkel scheint ein guter Mann zu sein“, sagte Marco, der nicht zum ersten Mal die Veränderung in Dragos stimme hörte, wann immer dieser über seine Familie sprach. Im Falle seines Onkels klangen dabei Respekt und Zuneigung heraus.
„Ohne seine Unterstützung hätten wir es uns gar nicht leisten können, dass ich Abitur mache, geschweige denn studiere“, erwiderte Drago. „Erst recht nicht in Deutschland. Bis heute kommt er für einen Teil der Miete meiner Mutter auf, und mich unterstützt er nochmal zusätzlich. Alles, damit ich eine Chance habe.“
„Wie ging’s weiter?“, fragte Marco, nachdem Drago nicht geneigt schien, mehr als das zu sagen. „Wann habt ihr die WG gegründet?“
„Vor drei Jahren. Ich habe die Anzeige für die Wohnung am schwarzen Brett in der Uni entdeckt. Günstige Miete, dafür renovierungsbedürftig.“
„Ein Traum für jeden halbwegs handwerklich begabten Mieter.“ Auf ähnliche Weise war auch Marco an seine jetzige Bleibe gekommen. Es hatte ewig gedauert, sie wohnlich zu machen, doch dafür liebte er sie umso mehr, und die Miete riss kein unstopfbares Loch in seine Kasse.
„Eigentlich habe ich Daniel die Anzeige nur gezeigt, weil ich wusste, dass er eine Wohnung sucht. Die WG war seine Idee, aber sie klang schlüssig. Der Untermieter für das dritte Zimmer hat immer mal wieder gewechselt. Eine Weile waren wir nur zu zweit und Daniel hat das Zimmer für sich genutzt, bis er seinen Meister angefangen hat und sich den höheren Mietanteil nicht länger leisten konnte.“
„Weshalb Patrick eingezogen ist.“
Drago sah aus, als hätte er etwas Undefinierbares unter seinem Schuh entdeckt.
„Du magst ihn nicht besonders, was?“
„Ich mag nicht, wie er mit Melanie umgeht.“
Das überraschte Marco nicht im Geringsten. Zu gut erinnerte er sich an Dragos Gesichtsausdruck, als zwischen Patrick und Melanie die Fetzen geflogen waren. Er hob seine Tasse und prostete Drago zu. „Auf dass sich euer WG-Leben mit ihm einem baldigen Ende neigt.“
„Das wird so schnell nicht passieren.“ Dennoch stieß Drago mit Marco an.
Der Glühwein, gerade ausreichend abgekühlt, um ihm nicht die Zunge zu verbrennen, wärmte Marco wohlig von innen. Er hätte absolut nichts dagegen, einen Abend wie diesen zu wiederholen. „Was machst du an Silvester?“
„Ich fahre weg.“
Soviel dazu. „Nach Serbien?“
„Nein.“ Mit Verzögerung fragte Drago: „Du?“
„Weiß noch nicht. In irgendeinem Club feiern, wahrscheinlich.“
„Du scheinst keine Lust darauf zu haben.“
Ertappt. „Nah, mal gucken. Wird sicher ganz nett.“
Drago schwieg.
„Es ist nur“, sagte Marco, als ihm die Stille zu still erschien, „zu Partys gehört gute Laune, weißt du? Sobald einer mies drauf ist, zieht das alle anderen mit runter.“ Oft genug hatte er Erik exakt das vorgeworfen – meist schweigend. Nun lief er selbst Gefahr, diese Person zu werden. „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Fröhlich zu sein, meine ich. Jedenfalls nicht ohne mich zu besaufen und darauf habe ich eigentlich auch keinen Bock.“ Frustriert fuhr er sich durchs Haar, dann zwang er ein Lächeln auf sein Gesicht. „Naja, wird schon werden. Sind ja noch ein paar Tage.“
Drago nahm das mit einem Geräusch hin, das Widerspruch oder Zustimmung bedeuten konnte.
Dummerweise hingen Marcos Gedanken nun bei Erik, kreisten um die Frage, wie es diesem wohl gerade ging. Was er machte. Hatte er ebenfalls einen Freund, mit dem er den Abend verbringen konnte? Oder saß er in Berlin, entmutigt und mutterseelenallein, weil Marco nicht die Kraft besessen hatte, ihm heute gegenüberzutreten?
Sollte er sich bei ihm melden? Aber was konnte er schon sagen. ‚Sorry, dass ich dich nicht im Tässchen haben wollte. Ich habe einfach tierisch Schiss davor, dir unter die Augen zu treten, und bin egoistisch genug, meine Gefühle über deine zu stellen. Nimmst du mir nicht übel, oder? Frohe Weihnachten, übrigens.‘ Ja, Erik wäre bestimmt begeistert von Marco zu hören.
Fuck! Welche Möglichkeiten blieben ihm sonst? Erneut Charlotte und Aisha bitten, sich bei Erik zu melden? Auf diese Idee waren die beiden sicher allein gekommen. Sie kannten Erik gut genug, um zu wissen, was für ein schwieriges Verhältnis er zu den Weihnachtsfeiertagen hatte. Wenn sie schlau waren, zählten sie zudem eins und eins zusammen, weshalb Erik nicht nach Stuttgart kam, ohne dass dieser mit der Wahrheit rausrücken musste. Kein Wunder, dass Charlotte Marco hasste.
„Deine Weihnachtsfeier war heute früh vorbei.“
In Dragos nüchterner Bemerkung steckte eine Einladung, mehr zu erzählen. Marco lehnte sie dankend ab. Stattdessen stellte er eine Frage, die ihn schon seit Monaten beschäftigte, bisher jedoch zu persönlich erschienen war. „Warst du wirklich nie verliebt? Ich weiß, dass du noch keine feste Beziehung hattest und das im Moment auch gar nicht willst, aber gab es wirklich niemanden, bei dem du dir gewünscht hättest, es könnte anders sein?“
Die Antwort kam schneller als erwartet, vor allem, da Marco halb damit gerechnet hatte, überhaupt keine zu erhalten. „Das Wort ‚verliebt‘ fühlt sich nicht richtig an“, sagte Drago, „aber ich finde weder auf Deutsch noch auf Serbisch eines, das besser passt.“
Die Tatsache, dass er keinerlei Anstalten gemacht hatte, lange nach einer Alternative zu suchen, verriet Marco, dass Drago nicht zum ersten Mal über das Thema nachdachte.
„Es gab jemanden, für den ich Gefühle hatte, die ich normalerweise nicht für meine Sexualpartner entwickle. Ich weiß nicht, ob es ihm ähnlich ging und selbst wenn, hätte es keinen Unterschied gemacht. Trotzdem bedauere ich, wie es geendet hat. Und manchmal auch, dass es das tun musste.“
„Und du siehst keine Chance, vielleicht doch …“ Marco ließ offen, welche Chancen Drago möglicherweise sah. Dessen Antwort fiel ohnehin ziemlich eindeutig aus.
„Nein. Keine.“
Es gab so viel, das Marco fragen wollte. Wer dieser Mann war und was ihn von Dragos übrigen Partnern unterschied. Weshalb es zwischen ihnen geendet hatte. Ob Drago wirklich plante, seine Homosexualität auf alle Ewigkeit geheim zu halten und dafür akzeptierte, niemals jemanden zu finden, mit dem er sein Leben teilen konnte.
Doch Marco gewann den Eindruck, dass Dragos Bereitschaft auf diese Art Fragen zu antworten allmählich ausgeschöpft war. Jedenfalls, solange er selbst sich weigerte, zu erklären, weshalb er Weihnachten hier verbrachte statt im Tässchen.
Also sank erneut Schweigen auf sie herab. Kein unangenehmes – es mochten ungesagte Worte im Raum schweben, doch sie standen nicht zwischen ihnen. Nach einer Weile lehnte sich Drago im Gartenstuhl zurück und schloss die Augen.
Marco nutzte die Gelegenheit, ihn näher zu betrachten. Selbst im weichen Kerzenlicht stachen seine Wangenknochen markant hervor. Gerötet von Alkohol und Kälte, verliehen sie seinem Gesicht eine Härte, die ihn deutlich älter aussehen ließ, als er eigentlich war.
Zum ersten Mal bemerkte Marco zwei feine Narben. Sie maßen knapp einen Zentimeter, eine an Dragos Kinn, die andere durchschnitt seine linke Braue. Halt, ein Stück darüber, teilweise unter seinem Haaransatz verborgen, befand sich eine dritte. Länger und gezackt, aber so verblichen, dass Marco sie im schummrigen Licht kaum ausmachen konnte.
Als spürte Drago Marcos Blick auf sich, öffnete er die Augen, sagte jedoch nichts. Auch Marco schwieg. In der Stille entstand ein Prickeln, das wie ein Funke vom einen zum anderen sprang und Marcos Wirbelsäule hinunterfuhr, bis seine Haut vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen kribbelte.
Er beugte sich vor, verringerte den Abstand zwischen ihnen deutlich.
„Bist du sicher, dass du das willst?“ Drago klang nüchtern wie immer, keine Chance herauszulesen, was er dachte. Was er sich wünschte.
Jetzt war es an Marco, die Augen zu schließen. Ob er wollte, ließ sich leicht beantworten. Ob er sollte hingegen … Es machte alles komplizierter. Es machte ihn endgültig zu einem miesen Schwein, das seinen Ex von ihren gemeinsamen Freunden abschnitt, weil es seine eigenen Gefühle nicht in den Griff bekam, sich dann aber fröhlich mit dem nächstbesten Kerl vergnügte.
Nur, dass Drago weit mehr für ihn darstellte als den nächstbesten Kerl. Und Marco wollte, nein, er brauchte die Nähe von jemanden, dessen Vertrauen er noch nicht leichtfertig verspielt hatte. Den Trost eines anderen Körpers, der ihn für einen kurzen Moment alles vergessen ließ.
Egoistisch? Ja. Aber er konnte ohnehin kaum tiefer sinken, warum sich also diese winzige Freude verwehren.
Drago wich nicht zurück, und beinahe zu spät erinnerte sich Marco an dessen Tabu: Keine Küsse auf den Mund. Er schwenkte um, strich mit den Lippen über Dragos Unterkiefer, befreit von jeglichen Bartstoppeln, bis er sein Ohrläppchen erreichte. Dort biss er zu, fest genug, um ein überraschtes Keuchen zu provozieren, das schnell in einen weit lustvolleren Ton umschlug.
„Nicht hier“, flüsterte Drago rau, ohne sich Marcos Berührung zu entziehen.
„Dein Zimmer?“
Wortlos stand Drago auf und verließ den Wintergarten. Marco deutete das als ‚Ja‘.
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Noch bevor die Zimmertür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, hatte Marco Drago rücklings aufs Bett befördert und hielt seine Handgelenke fest in die Matratze gepresst. Der Lattenrost ächzte unter seinen Knien, gab jedoch nicht nach.
Drago beobachtete Marco aus halbgeschlossenen Lidern, seine Lippen einen Spalt geöffnet, das Pink seiner Zunge dahinter wie eine Aufforderung. Fast unmöglich, dem Verlangen zu widerstehen, die Fingerspitzen in sein seidiges Haar zu graben und seinen Mund zu erobern.
Bevor Marco einen Fehler beging, der sich nicht rückgängig machen ließ, lenkte er seine Aufmerksamkeit auf Dragos Halsbeuge, studierte ihre Kurven und den unter der Haut hämmernden Puls. Er beugte sich vor, roch die Reste von Dragos … Deo? Duschgel? Shampoo? Schwer zu sagen. Ein neutraler Geruch, der ihn an frisch gewaschene Wäsche erinnerte. Seine Zunge schmeckte Salz, als er eine Spur von Dragos Schlüsselbein bis zu seinem Ohr zog.
Rasch lernte Marco, dass aggressive Bisse deutlich lustvollere Reaktionen auslösten als zarte Küsse. Wann immer er seine Zähne in Dragos Haut versenkte, spannte sich dessen gesamter Körper, seine Hände ballten sich in Marcos eisernen Griff zu Fäusten und sein Becken schnellte nach oben, bis ihre Erektionen gegeneinander rieben.
Marco achtete sorgsam darauf, bei aller Wildheit keine bleibenden Spuren zu hinterlassen – obgleich Dragos blasse Haut förmlich dazu einlud, sie mit roten Halbmonden zu markieren. „Ausziehen“, knurrte er.
Während Drago Marcos Aufforderung Folge leistete und sich aus seinem Sweatshirt schälte, das Gesicht kurzfristig hinter einer dicken Lage Stoff versteckt, hakte Marco die Finger in den Bund seiner Trainingshose und streifte sie ihm mitsamt Boxershorts von den muskulösen Beinen. Dragos Socken und Hausschuhe überlebten die Aktion ebenfalls nicht.
Nackt und atemlos lag Drago vor Marco, die Augen lustverschleiert, rote Flecke auf Wangen, Hals und Brust. Seine Lippen glänzten feucht und Marco fürchtete erneut, im Eifer des Gefechts eine Grenze zu überschreiten. Das Risiko wollte er nicht eingehen. „Dreh dich um.“
Gehorsam rollte sich Drago auf den Bauch. Allerdings blieb er nicht in dieser Position liegen, sondern zog die Knie an, hob die Hüften und präsentierte seinen durchtrainierten Arsch. Himmel, was für ein Anblick.
Drago zuckte zusammen, als Marco die drei Muttermale knapp unterhalb seiner rechten Pobacke mit der Fingerspitze zu einem Dreieck verband, und gedämpftes Keuchen drang aus dem Kissen hervor, in dem er sein Gesicht verbarg. So eine Reaktion auf eine harmlose Berührung? Interessant.
Angestachelt ließ Marco seine Finger über Dragos Haut wandern, von den Grübchen oberhalb seines Hinterns bis zu seinem Steißbein und von dort aus geradewegs nach unten. Kein Kissen hätte Dragos Stöhnen dämpfen können, als Marcos Daumen über dessen Öffnung strich. Mit der anderen Hand griff er um Dragos Hüften, und fand die erhoffte Erektion; hart und feucht von Lusttropfen.
Dennoch geisterte eine Erinnerung in seinem Kopf. Diese Sekunde des Zögerns, als Drago seine Tabus aufgezählt hatte. ‚Kein Analsex … ohne Kondom‘. Der letzte Teil hatte wie ein spontan angefügter Zusatz geklungen; ungewöhnlich für Drago.
Fordernd presste Marco seinen Daumen gegen dessen Öffnung. „Ist es das, was du willst?“ Ihm antworteten ein langgezogenes Wimmern und eine Kopfbewegung, die ein Nicken hätte sein können. Nicht gut genug. Er musste es hören. „Hm? Was war das?“
„Ja!“ Drago stieß das Wort aus, wie einen Atemzug, den er zu lange in den Lungen gehalten hatte.
Gott, Marco wollte ihn. Er ließ die Hand, die eben noch Dragos Erektion umfasst hatte, hart auf dessen emporgereckten Arsch sausen und erneut verwandelte sich Dragos überraschtes Keuchen auf halbem Weg in Stöhnen. Seine Haut färbte sich pink.
„Wo hast du Kondome und Gleitmittel?“
„Schrank. Linke Tür. Mittlere Schublade.“
Er hatte den Zusatz ‚weiße Schatulle‘ vergessen, doch Marco fand auch so, wonach er suchte und obendrein diverse andere Hilfsmittel, die seine Fantasie anregten. Handschellen zum Beispiel. Nicht die billige Variante aus Metall mit Plüschbezug, wie er sie besaß, sondern aus hochwertigem, gepolstertem Leder. Außerdem einen Analplug sowie einen Vibrator, beide recht schmal, ein Paddle und einen Knebel. Eine nette Grundausstattung und weit mehr als Marco jemals bei einem Partner hatte ausprobieren dürfen.
Er schielte zu Drago, der weiterhin in seiner selbstgewählten Position ausharrte. Hoffnungsvoll, dass das nicht ihr letzter gemeinsamer Abend sein würde, beschränkte er sich darauf, exakt das aus der Schatulle zu holen, was er angekündigt hatte. Kondome und Gleitgel.
Vor der Bettkante stehend betrachtete Marco Drago. Die Bewegung seiner Schulterblätter, wenn er sein Gewicht verlagerte und den Schwung seiner Hüfte. Nur mit viel Fantasie sah man noch einen Hauch Rot auf seinem Arsch. Zu schade. Marco nahm sich vor, das in absehbarer Zeit zu ändern.
Er beugte sich herunter und raunte: „Bereit für mich?“
Drago nickte in sein Kissen und zuckte zusammen, als ein weiterer Schlag seinen Hintern traf. Die Finger in seinem Haar vergraben, zwang Marco ihn, den Kopf zur Seite zu drehen. Mit unfokussiertem Blick blinzelte Drago ins Deckenlicht.
„Bereit für mich?“, wiederholte Marco.
Wieder nickte Drago.
„Sag es.“
„Bereit!“
„Gut. Bleib so. Ich will dein Gesicht sehen.“ Weil ihn die sich offen darauf zeigende Lust erregte, aber auch, weil er hoffte, sofort zu erkennen, ob sie einen Gang zurückschalten mussten.
Marco ließ von Drago ab, gerade lange genug, um sich seiner Klamotten zu entledigen, dann kletterte er aufs Bett und presste sich von hinten gegen den ihm dargebotenen Körper. Warm, fast schon heiß, schmiegte sich die fremde Haut an seine und wieder nahm er den schwachen Duft wahr, der von ihr ausging. Blind fummelte er mit dem Daumen den Deckel der Gleitgeltube auf. Das verräterische Klicken zog Dragos Aufmerksamkeit auf sich, ließ ihn ungeduldig mit den Hüften rucken.
Die Finger schlüpfrig vom Gleitgel, presste Marco sie gegen Dragos Öffnung, doch trotz dessen offensichtlichen Verlangens, stieß er auf Widerstand. Unerfahrenheit? Nervosität? Oder fiel es Drago generell schwer, sich zu entspannen? Marco tippte auf letzteres. „Na komm“, raunte er. „Lass mich rein.“
Nach vorne gebeugt versenkte er die Zähne in Dragos Hüfte, und begleitet von Dragos seufzendem Stöhnen, glitt sein Finger tief in ihn, wurde von unwiderstehlicher Hitze umhüllt. Mit der anderen Hand umfasste Marco Dragos Erektion, die sich ihm noch immer so hart präsentierte, dass er den Pulsschlag darunter wahrnahm.
Drago wand sich unter Marco, drängte sich näher an ihn heran und stieß dabei Laute aus, irgendwo zwischen Wimmern und Keuchen, die Marcos Selbstkontrolle binnen Minuten zersetzten. Er wollte Drago. Jetzt.
Ungeduldig rollte er das Kondom über seine pochende Erektion und brachte sich in Position. Das Vorspiel hatte geholfen, Drago zu entspannen, dennoch holte er zischend Luft, als Marco in ihn eindrang. Seine Schulterblätter zogen sich zusammen, er ballte die Hände zu Fäusten und presste sein Gesicht ins Kissen.
Marco erstarrte. Angespannt achtete er auf jeden Hinweis, an dieser Stelle lieber abzubrechen, doch weder sprach Drago sein Safeword aus noch hörte er auf, sich gegen Marco zu drängen. Also ließ Marco ihm einfach Zeit.
Es half. Dragos Atmung wurde gleichmäßiger, seine Hände lockerten sich und Marcos Erektion fühlte sich nicht länger an, wie in einem Schraubstock gefangen. Schließlich erinnerte er sich sogar an die Anweisung, sein Gesicht zu zeigen. Seine Augen blieben geschlossen, doch die anfänglich zusammengezogenen Brauen und der zu einem schmalen Strich gepresste Mund entspannten sich zusehends.
„Okay?“, fragte Marco und erhielt zur Antwort ein atemloses ‚Ja‘. „Bene.“ Er hauchte einen Kuss zwischen Dragos Schulterblätter, packte seine Hüften und sank tief in ihn. Langsam. Kompromisslos. Gab sich erst zufrieden, als Dragos Hitze ihn vollständig umhüllte.
Drago war laut. Bei jedem Stoß, der Marco in seinen Körper trieb, hallte kehliges Stöhnen durchs Zimmer, das in Wimmern überging, sobald sich Marco zurückzog. Die rohe Unverfälschtheit darin hypnotisierte Marco und lockerte seine Zunge. Ohne lange über seine Worte nachzudenken, erzählte er Drago, wie heiß es ihn machte, ihn so vor sich zu sehen, wie fest Drago ihn umklammerte, und wie hübsch sich sein Arsch unter Marcos Händen rot verfärbte.
Schweiß bildete sich auf Marcos Stirn und seine Welt verengte sich, bis nur er existierte, und Drago, und die Stelle, an der sich ihre Körper verbanden. Er spürte seinen Höhepunkt in sich aufsteigen und fletschte die Zähne. Noch nicht. Zuvor wollte er Drago den letzten Funken Verstand rauben.
Mit sicheren Händen umfasste er Dragos Erektion, entriss ihm ein Stöhnen, das abrupt abbrach, als ihm die Stimme versagte. Dragos Körper bebte, gespannt wie eine Sprungfeder, bereit, sich jeden Augenblick zu entladen; der einzige Laut, den er noch zustande brachte, ein hohes Winseln. Alles in ihm schien nach Erlösung zu schreien. Doch er kam nicht.
Ein Geistesblitz durchzuckte Marcos lustvernebeltes Hirn. Drago hielt durch, weil er auf etwas ganz Bestimmtes wartete. „Komm für mich“, forderte Marco heiser, beinahe am Ende seiner eigenen Selbstdisziplin. „Jetzt.“
Und begleitet von einem lautlosen Schrei, gab sich Drago hin. Im letzten Augenblick fing Marco Dragos Samenerguss auf – sie hatten kein Handtuch untergelegt und niemand schlief gerne auf der feuchten Stelle – dann ließ auch er sich fallen.
Marcos Sinne kehrten nur langsam zurück. Er fühlte den Körper unter sich, spürte dessen hektischen Atem, hörte sein eigenes Keuchen und das rasende Pochen seines Herzschlags. Behutsam entzog er sich Drago. „Äh, wo …?“
„Schreibtisch.“
Auf dem Schreibtisch fand Marco die gesuchten Taschentücher, unter dem Schreibtisch den Mülleimer, nach dem er danach Ausschau hielt. Notdürftig gesäubert, verstaute er die Gleitgeltube in der Schublade, aus der er sie zuvor entnommen hatte. Beim Schließen der Schranktür fiel sein Blick auf die Bilderwand daneben. Dort hing ein Foto von Drago auf einem abgesessenen Sofa, einen wenige Wochen alten Säugling auf dem Arm und jenes Lächeln im Gesicht, das sich mehr in seinen Augen als auf seinen Lippen zeigte. Soviel zu Marcos Unvermögen, sich Drago und Babys im selben Raum vorzustellen. Tatsächlich passte diese Kombination erstaunlich gut. Drago hatte viele Facetten und Marco ertappte sich bei dem Wunsch, jede einzelne davon kennenzulernen.
Er drehte sich zurück zum Bett, auf dem Drago ausgestreckt lag, mucksmäuschenstill, den Kopf auf seine überkreuzten Arme gebettet, das Gesicht zur Wand gedreht.
„Alles okay bei dir?“
„Ich brauche nur einen Moment für mich.“
Einer so klaren Ansage konnte Marco kaum widersprechen, zumal er nichts in Dragos Ton heraushörte, das seine Alarmglocken schrillen ließ. Daher versuchte er, sich nicht unnötig den Kopf zu zerbrechen. Drago würde ihn schon wissen lassen, falls etwas nicht stimmte. „Dann verschwinde ich mal eben ins Bad.“
Marco sammelte seine auf dem Boden verstreuten Klamotten auf, lauschte an der Tür, ob nicht just in diesem Moment einer von Dragos Mitbewohnern nach Hause kam und huschte über den Gang ins Badezimmer, wo er sich rasch wusch und anzog. Anschließend wanderte er weiter zur Küche, um seinen Durst zu stillen und sich Zeit zu nehmen seine Gedanken zu sortieren.
Möglicherweise hatte er eben den besten Sex seines Lebens gehabt, oder wenigstens Top 5, und daran änderten auch die Schuldgefühle nichts, die sich jetzt, da seine Erregung abflaute, einschlichen. Es verschlimmerte sie allerdings.
Verarbeitete Marco die Trennung von Erik überhaupt, oder rannte er vor seinen Gefühlen davon? Und wenn er kein Problem damit hatte, so schnell mit jemand anderem ins Bett zu springen, was sagte das über die Liebe aus, von der er gedacht hatte, sie noch immer für Erik zu empfinden? Sie musste weniger tief gehen, als er sich eingestehen wollte.
Das Wasserglas geleert, stand Marco in der Küche, unwillig, schon jetzt zu Drago zurückzukehren. Dafür schlugen seine Gedanken zu viele Purzelbäume. Kurzerhand verstaute er das Glas in der Spülmaschine und wanderte weiter in den Wintergarten. Die kühle Luft darin schmiegte sich mit eisiger Umarmung an seine schweißverklebte Haut, entzog ihm das letzte bisschen Nachglühen.
Während sein Kopf und sein Herz arbeiteten, beschäftigte er seine Hände, indem er die beiden Wolldecken Kante auf Kante zusammenfaltete. Anschließend sammelte er die Thermoskanne sowie Dragos und seine leeren Tassen ein, und beseitigte auch sonst jede von ihnen an diesem Abend verursachte Unordnung.
Zu guter Letzt füllte er ein frisches Glas mit Wasser. Wenn er sich ausgedörrt fühlte, musste Dragos Hals einer Wüste gleichen. Er stoppte vor der geschlossenen Zimmertür und klopfte. „Ist es okay, wenn ich wieder reinkomme?“
„Ja.“
Drago saß auf seinem Bett, den Oberkörper nach vorne gebeugt, die Ellenbogen auf den Oberschenkeln abgestützt, sein feines Haar wild zerzaust. „Nach dem Sex brauche ich oft einen Moment zum Durchatmen“, beantwortete er Marcos ungestellte Frage, seine Stimme kaum mehr als ein heiseres Krächzen. Aller Schuldgefühle zum Trotz, hätte Marco ihn glatt zurück auf die Matratze drücken und ein weiteres Mal nehmen können.
Stattdessen hielt er ihm das Wasserglas unter die Nase. „Hier, falls du willst.“
„Danke.“ Drago trank das Wasser in einem langen Zug und stellte es auf seinem Schreibtisch ab. Mit der vom Glas gekühlten Hand massierte er seinen Nacken.
„Verspannt?“, fragte Marco. Kaum verwunderlich, immerhin hatte sich Drago brav an Marcos Anweisung gehalten und seinen Kopf die ganze Zeit zur Seite gedreht gelassen, damit sein Gesicht sichtbar blieb. Marcos eigener Nacken protestierte allein beim Gedanken daran.
Wenig überraschend bestätigte Drago das mit einem Nicken.
„Warte, lass mich.“ Marco dirigierte Drago zurück aufs Bett.
Auf dem Bauch liegend, die Stirn auf seine verschränkten Arme gestützt, seufzte dieser tief ins Kissen, als Marco begann, die verhärteten Muskeln zu kneten.
„Gut so?“
„Ja.“
„Kann ich dich was fragen?“
Drago gab einen Laut von sich, der nach widerwilliger Zustimmung klang.
Gut genug für Marco. „Als du gesagt hast, keinen Analsex ohne Kondom zu wollen, hast du kurz innegehalten. So, als wolltest du nach ‚Kein Analsex‘ eigentlich einen Punkt machen. Mir ist klar, dass die Frage zu spät kommt, aber … hat mich mein Eindruck da getäuscht? Gibt es was, das ich wissen sollte?“
„Ich habe gesagt, was ich gesagt habe. Wäre Analsex ein Tabu, hätte ich dir das kommuniziert“, stellte Drago klar. Allerdings lenkte er gleich darauf ein. „Analsex ist normalerweise eines meiner Tabus, zumindest anfangs.“ Er drehte den Kopf, um Marco anzusehen, verzog jedoch das Gesicht, und gab sich lieber wieder den Händen hin, die seinen verspannten Nacken kneteten. „Ich stehe darauf, aber abgesehen davon, dass er schnell eine Grenze überschreitet, bei der ich den Schmerz nicht mehr als lustvoll empfinde, birgt Analsex einfach ein gewisses Verletzungs- und Infektionsrisiko. Und ich habe bei keiner anderen Praktik häufiger schlechte Erfahrungen gemacht. Deshalb klopfe ich inzwischen erst ab, ob ich meinem Gegenüber hier wirklich vertrauen kann. Bei dir war das der Fall.“
Oh. Dragos nüchterne Erklärung sollte Marco vermutlich nicht so von innen wärmen, wie sie es tat.
„Es ist auch eine Frage der Größe“, fuhr Drago fort und Marco brauchte einen Moment, um zu begreifen, auf welche Maße er sich bezog. „Zu groß ist einfach immer schmerzhaft, völlig egal, wie vorsichtig mein Partner ist, aber du bist in dieser Hinsicht perfekt.“
Um die Hitze zu überspielen, die von seiner Brust in seine Wangen wanderte, fokussierte sich Marco erneut auf die Massage. Er zog Kreise über Dragos Schultern und Nacken, übte sanften Druck aus, bis die Verspannungen unter seinen Fingerspitzen nachgaben, während Drago immer tiefer in sein Bett sank. Hatte er anfangs noch leise Anweisungen gekrächzt – ein Stück weiter runter, mehr nach rechts, da ist gut – ließ er nun lediglich gleichmäßige Atemzüge hören. „Drago?“
„Hm?“
Immerhin noch wach. Trotzdem. „Es ist spät. Ich sollte gehen.“
Drago machte Anstalten, sich aufzusetzen, doch Marco drückte ihn sanft zurück aufs Bett. „Bleib liegen. Ich finde schon selbst raus. Schlaf gut.“
Sichtlich erleichtert sank Drago in seine Kissen. Bevor Marco die Türklinke herunterdrücken konnte, sagte er: „Wegen Silvester. Ich habe ein Doppelzimmer auf einer Berghütte gebucht. Nur für die Nacht vom einunddreißigsten auf den ersten. Ziemlich abgelegen, garantiert keine Partys. Du kannst mitkommen, wenn du möchtest.“
„Ich denke drüber nach.“ Aber im Grunde kannte Marco die Antwort bereits.