Was zuletzt geschah
Vermeintlich kleine Gesten entfalten manchmal große Wirkung. Das merkt Erik, als er spontan Marco dazu einlädt, ihn und Sophia in die Bibliothek zu begleiten. Die drei verbringen einen sonnigen Nachmittag miteinander, geprägt von Büchern, Eis und Zuneigung. Darüber vergisst Erik fast seine Ängste, wie viel Anteil er an den Problemen trägt, mit denen sich seine Familie herumschlägt, und die so schwer auf Sophia wiegen. Zuhause angekommen wartet eine weitere Überraschung auf ihn. Die Zusage für sein Medizinstudium. In Berlin.
Kapitel 7
„Bianchi!“
Innerlich aufseufzend verstaute Marco seine Straßenkleidung in seinem Spind und nutzte die Zeit, um einen neutralen Gesichtsausdruck zurechtzulegen, bevor er sich umdrehte. „Ja, Herr Schmid?“
„Mitkommen. In mein Büro.“
Die kurze Strecke genügte, um ein Sammelsurium an Horrorszenarien in Marcos Kopf entstehen zu lassen. Hatte er einen Auftrag verbockt? Kunden vergrault? Irgendwelche Maße falsch berechnet? Er konnte sich an nichts dergleichen erinnern, aber das bedeutete nicht zwangsläufig, dass da nichts war.
Schmid stieß die Tür zum Büro auf. In dem winzigen Raum, der gerade ausreichte, um einen Schreibtisch, drei mit Ordnern vollgestopfte Regalwände und zwei Stühle unterzubringen, wartete ein Mann in Marcos Alter. Dunkelblonde Haare, darunter ein rundes, freundliches Gesicht mit dazu passendem Körper, der Marcos um etwa einen halben Kopf überragte. Als er lächelte, bildeten sich Grübchen in seinen Wangen.
„Bianchi, das ist die neue Aushilfe. Zeig ihm, wo alles ist und dann sieh zu, dass er sich nützlich macht.“
„Äh, klaro. Wo soll er denn eingesetzt werden?“
„Das darfst du dir schön selber überlegen“, erwiderte Schmid. „Ich zahl dir wirklich genug, damit du auch mal dein Hirn anstrengst!“ Ungeduldig wedelte er mit der Hand. „Und jetzt raus hier, ich habe keine Zeit für Kaffeeklatsch.“
Marco schaffte es, die Bürotür hinter sich zuzuziehen, bevor eine Mischung aus Seufzen, Lachen und Schnauben aus ihm herausplatzte. Kopfschüttelnd wandte er sich an den Neuling. „Tja, dann tue ich wohl, worum ich so nett gebeten wurde.“ Er streckte die Hand aus. „Ich bin übrigens Marco.“
Die Hand des Neulings fühlte sich trocken und warm an, sein Griff kräftig, ohne schmerzhaft zu sein. „Daniel.“ Fragend hob dieser die Brauen. „Stimmt etwas nicht?“
„Nah, alles gut“, versicherte Marco, nachdem er seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle hatte. „Dein Name hat mich nur an, äh, eine alte Bekanntschaft erinnert.“ Nämlich an Eriks falschen Namen aus dem Online-Chat, über den sich er und Marco vor einer gefühlten Ewigkeit kennengelernt hatten. Die darauffolgenden Irrungen und Wirrungen hätten ihre Beziehung beinahe noch vor deren Beginn beendet. „So. Vielleicht kannst du ein wenig Licht ins Dunkel bringen. Wofür genau hat der Chef dich eingestellt?“
„Naja, dass ich eine“, Daniel formte Gänsefüßchen mit den Fingern, „‚Aushilfe‘ bin, habe ich heute zum ersten Mal gehört. Eingestellt hat er mich eigentlich als Schreinergeselle. Nur eben Teilzeit.“
„Okay, damit kann ich was anfangen. Wie viele Stunden pro Woche?“
„Zwanzig.“
„Wie viele Kinder?“
Daniel lachte. „Keine, von denen ich wüsste.“
„Scusa. Ich dachte nur, weil du Teilzeit arbeitest …“
„Liegt nahe, aber nein. Ich mache gerade meinen Meister. Neben den Lehrgängen Vollzeit zu arbeiten packe ich nicht, aber gar nicht arbeiten kann ich mir nicht leisten. Irgendwo muss ja die Miete herkommen.“
„Muss sie leider.“ Marco deutete zu den Spinden. „Ich würde sagen, ich zeige dir erstmal, wo du deinen Kram verstauen kannst. Danach stelle ich dir die anderen vor und dann gucken wir mal, wo wir dich am besten einsetzen. Klingt gut?“
Daniel nickte. „Klingt gut.“
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Giovanni zog den Vorhang zur Seite, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. „Sieht gut aus. Was denkst du, Prinzessin?“ Seine Tochter Bianca strampelte in seinen Armen und blubberte eine fröhliche, wenn auch unverständliche Antwort, die sich offensichtlich auf die Orchideen auf dem Fensterbrett bezog.
Marco deutete ihre Reaktion dennoch als Zustimmung. Stolz betrachtete er seine neueste Errungenschaft. „Nochmal danke für deine Hilfe beim Aussuchen. Ohne dich hätte ich sicher mehr für weniger gezahlt.“
„Dafür ist Familie doch da“, sagte Giovanni. „Außerdem bin ich froh, wenn ich was zu tun habe. Die Kurzarbeit macht mich noch ganz kirre.“
„Den Rotwein nehmen wir trotzdem dankend an!“, rief Marcos Schwester aus der Küche. „Bleibst du zum Essen?“
„Nah, ich muss heim. Erik kommt nachher vorbei.“
„Er kann auch zum Essen bleiben!“
Marco lachte. „Okay, okay. Ich frage ihn.“
Erwartungsgemäß kam der Vorschlag gut bei Erik an und keine Stunde später stand er vor der Tür, das Haar zerzaust und …
„Was ist mit deinen Nägeln passiert?“, fragte Marco, nachdem er Erik in die Wohnung gelassen und ihm einen Kuss auf die Lippen gedrückt hatte.
„Hm? Oh, ach so.“ Amüsiert musterte Erik seine Hände, deren Nägel in tiefem Blau erstrahlten. „Sophias Werk. Nagellack ist gerade der letzte Schrei unter ihren Freundinnen, also haben wir heute im Kaufhaus ein paar hübsche Farben ausgesucht und, ah, experimentiert.“
Giulia schob sich an ihrem Bruder vorbei, um Erik in die Arme zu schließen. „Im Badschrank steht Nagellackentferner. Den kannst du gerne benutzen.“
„Danke, aber ich denke, ich lasse den Lack noch ein wenig dran. Mir gefällt die Farbe.“
„Ich beneide dich ja dafür, dass dir Blau so gut steht.“
„Hast du denn schon verschiedene Töne durchprobiert? Ich könnte mir vorstellen, dass …“
Marco folgte seiner Schwester und Erik ins Wohnzimmer, blendete ihre Unterhaltung allerdings weitestgehend aus. Immer wieder zogen Eriks Finger seine Aufmerksamkeit auf sich, und das leider ziemlich offensichtlich. Als er sich endlich von dem Anblick losriss, merkte er, dass Erik ihn beobachtete, eine Augenbraue gehoben. „Soll ich die Farbe doch abmachen?“
„Nah. Alles gut.“ Solange es ihm gefällt, werde ich damit leben können. „Du warst nochmal bei deiner Tante? Geht’s Sophia gut?“
„Mhm. Der Tag gestern hat mir keine Ruhe gelassen, deshalb bin ich heute spontan hingefahren. Falls sie reden möchte. Aber sie wollte sich lieber künstlerisch betätigen.“ Erik wackelte mit den Fingern. „Ich soll dir übrigens schöne Grüße ausrichten.“ Ein Lausbubenlächeln kroch über seine Lippen. „Du darfst uns jederzeit wieder auf ein Eis einladen.“
Marco deutete eine Verbeugung an. „Eure Güte ist wie immer grenzenlos. Es wäre mir selbstverständlich eine Freude und Ehre, euch erneut zum Eis zu geleiten.“
„Inklusive Minnesang?“
„Inklusive was bitte?“
„Minnesang. Mittelalterliche Liebeslyrik. Ein Liebeslied, sozusagen.“
„Cuore mio, bei meinem Gesang liebst du mich höchstens, wenn ich damit aufhöre.“ Mit einer Wissenslücke weniger – wenn Erik dabei nur nicht so nachsichtig lächeln würde – stahl sich Marco in die Küche, um Giulia bei den letzten Griffen fürs Abendessen zur Hand zu gehen. Erik gesellte sich dazu, nachdem er ausführlich Bianca (und Giovanni) begrüßt hatte. „Danke für die Einladung.“
Giulia winkte ab. „Dafür doch nicht. Familie ist zum Abendessen immer willkommen.“ Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, um den Salat anzurichten, daher entging ihr seine Reaktion. Marco hingegen nicht.
Eriks Mund öffnete sich, ohne dass Worte ihren Weg herausfanden; stattdessen trat ein verdächtiger Schimmer in seine Augen. Im nächsten Moment wandte er sich ab und tupfte mit einem Taschentuch erst über seine Lider, dann seine Nase. „Wie war euer Tag?“
Alles klar, Themenwechsel. „Nicht übel“, antwortete Marco. „Schmid hat einen Neuen eingestellt und soweit ich das bis jetzt einschätzen kann, sogar jemanden, der halbwegs Ahnung von seinem Job hat.“
„Wäre schön, wenn du in Zukunft nicht mehr so viel Stress in der Arbeit hättest.“
„Hoffnungen mache ich mir erst, wenn die nächsten Wochen genauso gut laufen wie der Tag heute. Ist aber trotzdem nett, zur Abwechslung mit jemanden in der Mittagspause zu quatschen, mit dem ich mehr gemeinsam habe als den Arbeitsplatz.“
„Zum Beispiel?“
„Ach, Kleinigkeiten einfach. Daniel ist der einzige bei uns, der ungefähr in meinem Alter ist und unsere Wellenlänge scheint zu stimmen. Er steht total auf FIFA, und–“ Marco brach ab. Er kannte den Ausdruck in Eriks Augen, diesen Vorhang, der sich über seine Mimik legte und jede Emotion verdeckte. Mehr als das, kannte er Eriks Eifersucht.
„Klingt, als hättest du einen neuen Freund gefunden.“ [DG1]
Und schon begannen die Sticheleien. Marco verspürte nicht die geringste Lust, sich darauf einzulassen. „Nah, nur einen Kollegen, den ich nicht ganz schrecklich finde. Giulia, kann ich was ins Wohnzimmer tragen?“
Eine frisch aus dem Kochwasser geangelte Nudel in der Hand, musterte seine Schwester ihn über ihre Schulter hinweg. „Der Salat ist fertig und der Rest auch gleich.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schnappte sich Marco die Schüssel und verschwand ins Wohnzimmer, Giulias und Eriks Blicke im Rücken.
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„Nochmal Danke fürs Essen.“ Erik umklammerte die Tupperdose, die Giulia ihm in die Hand gedrückt hatte. „Und für die Reste.“
„Ich fand’s schön, dass du so spontan vorbeigekommen bist“, sagte sie.
„Kannst du ruhig öfter machen“, ergänzte Giovanni. Bianca – die Überbleibsel ihres Abendessens um den Mund verteilt – brabbelte ein paar Laute, die man als Zustimmung interpretieren konnte.
Still lächelte Erik, doch Marco glaubte, Wolken auf seinem Gesicht zu entdecken. Nicht zum ersten Mal an diesem Abend. Bisher scheiterte er daran, einen Grund dafür auszumachen. Dass er Daniel erwähnt hatte, reichte ja wohl unmöglich aus, um Erik den kompletten Tag zu versauen. Oder?
Nach einer langgezogenen Verabschiedung, inklusive mehrfacher Versprechen, bald wieder vorbeizukommen, standen die beiden an der Straße vor Giulias und Giovannis Haustür. Trotz der drückenden Hitze rollte Erik sein Hemd bis über seine Handgelenke und zupfte den Saum zurecht.
„Brauchst du eine Pause?“
Eriks Finger stoppten ihre Arbeit. Einige Sekunden verstrichen, dann schüttelte er den Kopf.
Marco widerstand der Versuchung, nachzuhaken. Damit ruinierte er am Ende nur den Nutzen ihres Signals. Pause bedeutete, Erik benötigte einen Moment (oder zwei, oder drei), um sich zu sammeln, oder wollte eine bestimmte Situation verlassen. Was er dabei nicht benötigte, war jemand, der seine Entscheidung anzweifelte; egal, wie diese ausfiel.
„Was ist mit deiner Überraschung?“
„Was?“
„Deine Überraschung“, wiederholte Erik. „Du hast gestern erzählt, du hättest eine Überraschung für mich.“
„Ähm … sì.“
„Also? Wo steckt sie?“
Du stehst davor. Allerdings fürchtete Marco, im Augenblick keine Freudenschreie dafür zu ernten. Was hatte er sich überhaupt dabei gedacht? Bei Eriks Vorgeschichte …
„Marco? Stimmt etwas nicht?“
„Doch, doch. Alles okay.“ Marco fuhr sich durchs Haar. „Ich, ähm, habe ein Auto gekauft.“
Über ihnen raschelten Blätter in einer sanften Brise, aus einem geöffneten Fenster auf der anderen Straßenseite erklangen Musik und Gelächter. Erik schwieg.
„Giovanni hat mir beim Aussuchen geholfen“, erzählte Marco, in der Hoffnung, seinen Freund zu besänftigen, wenn er seine Entscheidung nur ausreichend begründete. „Es ist nichts Besonderes und hat schon fast zehn Jahre auf dem Buckel, aber davon abgesehen ist es in gutem Zustand und der Preis war super. Mit der Gehaltserhöhung kann ich mir jetzt auch die Versicherung und eventuell nötige Reparaturen leisten. Und keine Sorge, unseren Urlaub habe ich natürlich nicht vergessen! Das Auto habe ich erst ausgesucht, nachdem ich wusste, wie viel ich dafür einkalkulieren muss. Jedenfalls dachte ich, dass es uns das Leben vermutlich leichter macht, wenn du in Tübingen studierst.“
Sichtlich unglücklich öffnete Erik den Mund zu einer Erwiderung und Marco beeilte sich, ihm zuvorzukommen. „Ich weiß, dass dein Verhältnis zum Autofahren schwierig ist, aber ich verspreche dir, dass ich ein guter, verantwortungsvoller Fahrer bin. In der Arbeit bin ich fast jeden Tag mit dem Transporter unterwegs, Übung habe ich also. Ich habe beim Abendessen keinen einzigen Schluck Wein getrunken, ich halte mich an alle Geschwindigkeitsbegrenzungen–“
„Marco.“
„–mache nebenbei keinen Blödsinn, der mich ablenkt–“
„Marco.“
„–achte auf andere Verkehrsteilnehmer–“
„Marco!“ Erik umfasste seine Schultern. „Du musst dich nicht vor mir rechtfertigen, weil du ein Auto gekauft hast.“
„Ich will nur nicht, dass du denkst, ich hätte diese Entscheidung irgendwie leichtfertig getroffen, oder würde nicht verstehen–“
„Nochmal. Du darfst dir ein Auto kaufen, ohne dich dafür vor mir rechtfertigen zu müssen. Es ist dein Geld. Ich würde nie–“
„Machst du eine Spritztour mit mir?“, trötete Marco heraus.
Erik sah ihn an, wie eine Eule den Satz des Pythagoras – völlig verständnislos. „Bitte?“
„Ich, ähm, ich hatte mir überlegt, wir könnten den Abend am Pfaffensee ausklingen lassen. Du hast mal erzählt, dass du da früher öfter warst. Oder an irgendeinem anderen See, wenn dir das lieber ist!“ Wer wusste schon, ob Erik die Erinnerungen, die dieser See möglicherweise in ihm wachrief, durchleben wollte.
„In Ordnung.“
„Wa– Wirklich?“
„Mhm.“
Marco bemühte sich, seine Verblüffung in ein Lächeln zu verwandeln. „Cool.“ Er zückte seinen brandneuen Autoschlüssel – für ihn brandneu, nicht grundsätzlich – und drückte aufs Knöpfchen.
Erik machte einen Satz zur Seite, als das Auto neben ihm blinkend die Türen entriegelte. „Das ist es also?“ Argwöhnisch inspizierte er den unauffälligen Ford Fiesta.
„Keine Sorge, er fährt besser als er aussieht.“
„Ich bin ewig nicht mehr in einem Auto gesessen. Seit …“
Dem Tod deiner Eltern. Ich weiß.
„Ich bin froh, dass das erste Mal mit jemandem ist, dem ich vertraue.“ Erik schlüpfte auf den Beifahrersitz und schloss die Tür, bevor Marco eine Antwort darauf fand.