Was zuletzt geschah:
Erik richtet sich in Berlin ein, scheint dabei allerdings zumindest anfänglich zu vergessen, dass sein Leben nicht nur aus neuer Wohnung, neuen Bekanntschaften und einer Menge neuem Lernstoff besteht. Auch eine alte Beziehung will gepflegt werden, ganz besonders, wenn der Partner stundenlange Zugfahrten auf sich nimmt, um bei ihm zu sein. Doch sich das bewusst zu machen, bedeutet auch, den Trennungsschmerz, der unweigerlich am Sonntag auf sie wartet, zu akzeptieren. Letztlich müssen sowohl Erik als auch Marco Kompromisse eingehen. Der eine erträgt einen Besuch im Restaurant, der andere einen Abend in einem Club – und sie beide die teils widersprüchlichen Gefühle, die vielleicht schon lange Teil ihrer Beziehung sind und durch die räumliche Trennung noch verstärkt werden.
Kapitel 16
Marco streckte sich auf seinem Sofa aus und starrte an die Decke. Ein weiterer ereignisloser Tag brachte ihn näher an ein Wochenende ohne Pläne. Erik blieb in Berlin, um letzte Handgriffe an seiner Wohnung anzulegen, und obwohl Marcos Hilfe dabei sicher nützlich gewesen wäre, ertrug dieser so bald keine erneuten sieben Stunden Bahnfahrt. Dementsprechend leer sah sein Terminkalender aus.
Auf dem Couchtisch neben ihm klingelte sein Handy; keine besondere Melodie, also niemand, der häufiger anrief. Blind tastete er danach und hob ab. „Pronto.“
„Drago hier.“
Marco setzte sich auf. Nach Dragos Unverbindlichen ‚Ich kann mich ja mal melden‘, hatte er ehrlich nicht damit gerechnet, tatsächlich von ihm zu hören. „Hi! Was gibt’s?“
„Für Sonntag ist gutes Wetter angesagt, also gehe ich Wandern.“
„Okay.“
Kurzes Schweigen. Dann: „Hast du Interesse, mitzukommen?“
„Oh! Klaro!“
„Ich starte ziemlich früh.“
„Ist okay, ich schlafe eh selten länger als bis sieben.“
„Um die Zeit wollte ich eigentlich schon los.“
„Passt für mich.“ Marco schmunzelte. „Oder versuchst du gerade, mir den Ausflug madig zu machen, damit ich doch nicht mitkomme?“
„Wenn ich dich nicht dabeihaben wollte, hätte ich dich nicht gefragt“, antwortete Drago so nüchtern, dass Marco nichts anderes übrigblieb als ihm zu glauben.
„Prima, dann sehen wir uns am Sonntag. Wo geht‘s überhaupt hin?“
„Habe ich noch nicht entschieden. Wie sieht es mit deiner Kondition und Trittsicherheit aus?“
„Ähm … Der letzte Ausflug ist eine Weile her“, räumte Marco ein. „Wie gesagt, nach der Sache mit der Blindschleiche hatte niemand mehr so wirklich Bock. Dass der Kumpel mit dem verstauchten Knöchel immer noch Stein und Bein schwört, es wäre eine Königskobra gewesen, hat nicht gerade geholfen.“
Drago brauchte einen Moment, um diese Information zu verdauen. „Hast du passende Schuhe?“
„Kommt darauf an, was du unter ‚passend‘ verstehst. Wir sind da eher unbedarft losgestapft.“
Der Atemzug am anderen Ende der Leitung klang, als holte Drago Luft, um sie mit einem langen Seufzen wieder auszustoßen. Als er sprach, kam seine Stimme jedoch ohne Vorwurf oder Verdruss aus. „Mindestens knöchelhoch, wasserdicht und mit gutem Profil.“
„Ich finde vermutlich ein Paar, das zwei von drei Punkten erfüllt.“
Auf diese Information antwortete lediglich Schweigen.
„Scusa, ich hätte mich besser vorbereiten sollen“, räumte Marco ein. „Ich nehm’s dir nicht übel, wenn du unter diesen Umständen lieber allein gehst.“
„Wie kommst du darauf, dass ich lieber allein gehe?“, fragte Drago.
„Du warst auf einmal so still.“
„Hätte ich mich umentschieden, würde ich es dir sagen. Ich habe über eine passende Route nachgedacht. Nicht zu steil und mit befestigten Wegen.“
„Klingt öde.“
Drago stieß das erste Lachen aus, das Marco von ihm gehört hatte. Kurz und unerwartet laut. „Ich setze ‚nicht öde‘ auf die Anforderungsliste. Und die Tour muss mit der Bahn erreichbar sein, es sei denn, du besitzt ein Auto.“
„Zufällig ist das der Fall. Wie wär‘s, wenn du dir was überlegst und mir dann einfach sagst, wann ich wo sein soll?“
„Einverstanden.“
„Ich freu mich! Bis dann!“ Marco legte auf, erleichtert, das Wochenende nicht allein verbringen zu müssen.
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Geduldig wartete Marco, bis der Türsummer erklang und stapfte hoch in den ersten Stock, wo ihn Daniels verschlafenes Gesicht begrüßte. „Morgen“, nuschelte er.
„Buongiorno. Scusa, hat mein Klingeln dich geweckt?“
„Ist okay. Ich wurde ja vorgewarnt, dass du früh vorbeikommst.“ Im Schlafanzug und mit einer Tasse Kaffee in der Hand, trat Daniel zur Seite, um Marco in die Wohnung zu lassen. „Drago ist in seinem Zimmer. Nach hinten durch, dann die zweite Tür links.“ Er bemerkte Marcos Blickrichtung. „Auch eine Tasse?“
„Dringend.“ Bewaffnet mit aromatischem Koffein, klopfte Marco wenige Minuten später an Dragos Zimmertür.
„Komm rein.“ Drago schlüpfte eben in ein Paar dicker Socken, das aussah, als wäre das nicht seine erste Wanderung. Ungeduldig wischte er einige fahlblonde Strähnen zur Seite, die zwei Sekunden danach erneut in seine Stirn fielen.
„Buongiorno.”
„Du bist fünf Minuten zu früh.“
„Scusa, ich dachte, lieber zu früh als zu spät.“
„Das war keine Kritik, sondern eine Erklärung, warum ich noch nicht fertig bin.“ Drago schob seinen Schreibtischstuhl zu Marco. „Setz dich.“
Brav kam Marco dieser Aufforderung nach und nutzte die Zeit, sich umzusehen. Dragos Zimmer war … makellos. Fast vollständig in Weiß gehalten, mit wenigen gezielt platzierten Farbakzenten, fand sich kein einziges Staubkorn oder ein Hauch von Unordnung darin. Jeder Gegenstand hatte seinen festen Platz, perfekt auf den Rest der Einrichtung abgestimmt – beinahe, als besäße Drago ihn nicht um seiner selbst willen, sondern, weil er eben zufällig an exakt diese Stelle gehörte.
Es gab eine Ausnahme. An der Wand hinter Dragos Schreibtisch hing eine Schar gerahmter Fotos. Marco beugte sich vor, um die abgebildeten Menschen besser zu erkennen. „Bist das du?“ Er deutete auf das Foto im Zentrum. Darauf stand ein zarter Junge im Grundschulalter vor einer feingliedrig gebauten Frau, die schützend die Arme um ihn gelegt hatte. Zu beiden Seiten grinsten je zwei Mädchen dem Fotografen entgegen.
Drago warf einen Blick über seine Schulter. „Ja.“
„Und das ist deine Familie?“
„Meine Mutter und meine Schwestern.“
Die Haarfarben der vier Mädchen reichten von Hellblond zu Dunkelbraun, doch sie alle teilten die Locken, den dunklen Teint und die kastanienbraunen Augen mit ihrer Mutter, während Drago wie ein weißer Fleck aus ihrer Mitte herausstach. „Dann kommst du wohl ziemlich nach deinem Vater.“
„Nein.“
Diese Deutlichkeit schien nicht ausschließlich Dragos direkter Art geschuldet zu sein. In ihr schwang ein Ton mit, der Marco davor warnte, unbedarft weiterzufragen. Was diesen natürlich umso neugieriger machte. Andererseits wusste er, sowohl von sich selbst als auch von Erik, wie schnell die falsche Frage alte Wunden aufreißen konnte, weshalb er sich lieber wieder den Bildern an der Wand widmete.
Auf einigen entdeckte er einen Mann, der Dragos Familie nahezustehen schien, bei näherem Hinsehen aber auffallend viele Züge mit Dragos Mutter teilte. Vielleicht ein Onkel oder junggebliebener Großvater.
„Bist du das jüngste Kind?“, fragte Marco.
„Das mittlere.“
„Wirklich? Deine Schwestern sehen auf dem Foto hier älter aus.“
„Ich war“, Drago wägte kurz seine Worte ab, „ein Spätzünder.“
„Dafür bist du aber ordentlich gezündet.“ Das hatte mehr nach einem Flirt geklungen, als es sollte. „Ich meine“, korrigierte Marco rasch, „du dürftest fast die zwei Meter knacken, oder?“
„Dafür fehlen mir vier Zentimeter.“
„Glaub mir, aus der Perspektive von jemandem, der nicht einmal die einsachtzig geschafft hat“, oder die 1,70, aber wer wollte schon Haare spalten, „machen die paar Zentimeter absolut keinen Unterschied.“
Auf dem Regal über Dragos Schulter erspähte Marco die einzige hölzerne Deko im ganzen Raum. Eine Reihe filigraner Miniaturen, nicht größer als seine Handfläche, in der Form berühmter Bauwerke. Er erkannte den Eiffelturm und Notre Dame, der Rest kam ihm vage bis gar nicht bekannt vor. Die Gravuren auf den Standplatten konnte er von seiner Position aus nicht lesen, sie sprachen jedoch dafür, dass es sich hier um ein Set handelte.
Hochwertiges Holz, sauber verarbeitet. Nicht zwingend handgefertigt, aber definitiv keine Massenproduktion.
Drago band seine Wanderstiefel zu, verstaute noch einige lose Unterlagen in einer der Schreibtischschubladen – jedes Blatt Papier perfekt Kante auf Kante – und schulterte seinen Rucksack. „Wir können los.“
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Warmer Wind strich über Marcos Haar und brachte den Duft frisch gefallenen Laubs mit sich, das bei jedem Schritt unter seinen Füßen knisterte. Hoch am Himmel leuchtete die Sonne. „Du hast wirklich den perfekten Herbsttag ausgesucht.“
„Warte mit dem Lob, bis wir es trocken zurückschaffen. Im Herbst kann das Wetter schnell umschlagen.“
„Ist dir das schonmal passiert?“
„Einmal. Beim Abstieg vom Gipfel. Es hat so stark geregnet, dass ich kaum die Hand vor Augen sehen konnte, und der ganze Pfad bestand nur noch aus rutschigem Schlamm. Keine Erfahrung, die ich wiederholen möchte.“
„Ich vertraue fest darauf, dass uns das heute nicht– Oh guck, Schafe!“ Marco deutete an den Rand der Weide, an der sie vorbeiliefen. Nach ein paar Sekunden folgte Drago ihn zum Zaun, um die wolkenförmigen Tiere aus der Nähe zu begutachten.
„Darf ich daraus schließen, dass du die Tour nicht öde findest?“, fragte er.
Ertappt grinste Marco. „Zumindest bisher nicht. Wir haben ja noch ein paar Kilometer vor uns. Nah, ich mach bloß Witze. Tut gut, mal aus der Stadt rauszukommen. Hätte ich schon viel früher tun sollen.“
„Warum hast du nicht?“ Drago besaß das Talent, Fragen zu stellen, die vorwurfsvoll klingen könnten, bei ihm jedoch lediglich neutral interessiert wirkten. Vermutlich, weil er sie exakt so meinte.
„Naja, wie gesagt, nach der Geschichte mit der Blindschleiche und dem verstauchten Knöchel, hatten meine Freunde nicht mehr so wirklich Bock. Ach, eigentlich hatten sie den von Anfang an nicht richtig, sie sind eher mir zuliebe mitgekommen. Allein Wandern finde ich aber auch doof. Und Erik … Der ist durch und durch Stadtkind. Der mag Natur nur, wenn da irgendwo ein See oder Fluss ist, in den er sich werfen kann. Blöderweise bin ich eher wasserscheu.“ Marco fuhr sich durchs Haar. „Wir sind ziemlich verschieden, das macht‘s manchmal ganz schön schwierig.“
Warum hatte er das Gefühl, sich erklären zu müssen? Möglicherweise, weil er seit der Einweihungsfeier mit Dragos Unverständnis haderte, weshalb er nicht plante, zu Erik nach Berlin zu ziehen. Still und heimlich hatten sich daraus Zweifel entwickelt, was das für die Zukunft ihrer Beziehung bedeutete.
Dankbarerweise verzichtete Drago darauf, ungefragte Ratschläge zu erteilen. Mehrere Minuten liefen sie schweigend nebeneinander, nur das Knistern des Laubs und das gelegentliche Blöken der Schafe im Ohr. Der Pfad wand sich und führte zu einer schmalen Steinbrücke, unter der ein Bächlein plätscherte. Wäre Erik dabei, hätte er sich jetzt Schuhe und Socken abgestrampelt und die Füße ins Wasser gehalten.
Marco und Drago überquerten die Brücke, ohne stehenzubleiben. „Was ist mit dir?“, fragte Marco auf der anderen Seite. „Hast du eine Freundin?“
„Nein.“
„Jemanden im Auge?“
„Derzeit kommt eine Beziehung für mich nicht infrage.“
„Oh, okay. Nicht, dass ich übermäßig neugierig sein will, aber … Warum nicht?“
Es dauerte, bis Marco eine Antwort erhielt. „Eine Beziehung ist für mich verbindlicher als für viele andere.“
„Findest du denn, dass andere Leute Beziehungen eher unverbindlich angehen? Klar gibt’s ein paar, die das alles nicht so eng sehen, aber wenn ich mir meinen Freundeskreis anschaue, dann nehmen die ihre Beziehung alle ziemlich ernst.“ Marco selbst tat das definitiv!
„Vielleicht habe ich es falsch formuliert. Ich unterstelle anderen nicht, ihre Beziehung nicht ernst zu nehmen. Ich sage, dass ich in dieser Hinsicht extremer bin als die meisten.“
„Ach ja? Inwiefern?“
Sie legten sicher zweihundert Meter zurück, bevor Drago antwortete. „Wenn ich eine Beziehung eingehe, dann, weil ich plane, mit dieser Person den Rest meines Lebens zu verbringen. Ich gehe die Pflicht ein, immer für sie da zu sein, ihr Wohlergehen sicherzustellen und Schwierigkeiten gemeinsam zu überwinden. Ich gehe die Pflicht ein, alles dafür zu tun, um miteinander alt zu werden. So wie mein Leben derzeit aussieht, kann ich meine eigenen Ansprüche unmöglich erfüllen.“
„Das heißt, du warst noch nie fest mit jemandem zusammen?“, fragte Marco ungläubig. Er selbst sah sich in dieser Hinsicht als Spätzünder. Er und Erik hatten kurz vor seinem zwanzigsten Geburtstag angefangen zu daten; alles davor konnte man höchstens als lockere Geschichten zählen. Aber wenn Drago schon nächstes Jahr sein Studium abschloss … „Wie alt bist du doch gleich?“
„Dreiundzwanzig.“
„Und was ist mit–“ Marco stoppte sich, ohne auszusprechen, was ihm auf der Zunge lag.
Zu spät, offensichtlich. Dragos Lippen kräuselten sich zu einem schwer zu interpretierenden Lächeln. Nicht unfreundlich, aber wirklicher Humor lag nicht darin. „Sex? Das ist ein anderes Thema. Hier stört mich Unverbindlichkeit nicht, solange das für alle Beteiligten vorher klar ist.“
„Scusa, ich wollte nicht neugierig sein.“
„Ich beantworte keine Fragen, die ich zu intim finde.“
Daran hegte Marco keinen Zweifel. Drago schien nicht der Typ, der sich aus reiner Höflichkeit zu Dingen hinreißen ließ, die ihm nicht zusagten.
Zumindest hatte Marco nun auch eine Erklärung, weshalb es Drago so schwerfiel, Marcos und Eriks Fernbeziehung nachzuvollziehen. An Marcos Stelle würde er vermutlich seinen Job, seine Freunde, sein gesamtes soziales Umfeld hinter sich lassen und in eine Stadt ziehen, die ihm nicht gefiel. Und an Eriks Stelle hätte er sein Studium nicht seinem Partner vorgezogen. Oder vielleicht doch und genau deshalb hielt er sich von Beziehungen fern.
Sie hatten weitere zweihundert Meter zurückgelegt, als Marco murmelte: „Ich sollte wahrscheinlich anfangen, mich mit einem Leben in Berlin anzufreunden.“
Drago verstand sofort, wohin Marcos Gedanken gingen. „Das musst du wissen.“
„Du würdest es tun, oder?“
Erneut schwieg Drago eine lange Zeit, aber allmählich begriff Marco, dass er sich in diesem Fall nicht vor einer Antwort scheute, sondern über sie nachdachte. Am Ende fiel sie denkbar kurz aus. „Ja.“
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Als sie ihre erste Zwischenetappe erreichten, spukte ihr Gespräch über Erik, Fernbeziehungen und die Verpflichtungen, die man für seinen Partner einging, weiterhin in Marcos Kopf, aber er tat sein Möglichstes, sich davon nicht den Tag ruinieren zu lassen. Wohlig seufzend streckte er sich auf der wettergegerbten Holzbank aus, seine beanspruchten Beine froh über die Pause. „Endlich Mittagessen. Hatte vergessen, wie hungrig Wandern macht.“ Sein Magen stimmte knurrend zu.
Drago nutzte die Gelegenheit, um jede unbedeckte Hautstelle akribisch mit Sonnenmilch einzureiben.
„Oh, es gibt hier ja auch eine Gaststätte.“
Einen Klecks Sonnencreme auf der Nase, folgte Drago Marcos Blick. „Stört es dich, hier zu essen anstatt im Restaurant?“
„Nah, du hast mich ja vorgewarnt, dass ich was mitbringen soll. Hatte nur nicht damit gerechnet, dass man hier auch einkehren kann. Dachte, hier gibt’s halt nichts.“
„Ich mag keine Restaurants“, gab Drago zu.
„Ich auch nicht. Ich koche gern und ich koche gut und ich sehe nicht ein, viel Geld für etwas zu zahlen, das ich in den meisten Fällen besser hinbekommen hätte.“ Wenn Marco auswärts essen ging, dann ausschließlich Erik zuliebe – oder ins Tässchen, aber das zählte nicht.
„Ich finde kochen nervig“, sagte Drago. „Leider bin ich“, er nahm sich einen Moment, die richtigen Worte zu suchen, „spezifisch, welche Lebensmittel ich wie zubereitet mag. Das verträgt sich schlecht mit Restaurants. In den meisten Gerichten ist mindestens eine Zutat, die mir nicht schmeckt.“
„Zum Beispiel?“
„Fettes oder sehniges Fleisch. Fisch und Meeresfrüchte. Knoblauch, Petersilie, gekochte Karotten und eine Menge mehr. Außerdem ist die Textur bei manchen Lebensmitteln einfach … falsch.“
„Ja, okay, ich sehe ein, dass es das schwierig macht.“ Marco linste in Dragos Brotdose, deren Inhalt tatsächlich klassisch-schlicht ausfiel. Vollkornbrot, Frischkäse, eine Scheibe Schinken ohne Fettrand und Gemüsestifte. „Rohe Karotten gehen also klar?“
„Ich verstehe die Logik dahinter selbst nicht.“
Lachend packte Marco sein eigenes Mittagessen aus. Da er am Vortag viel Zeit und wenige Pläne gehabt hatte, hatte er es mit der Vorbereitung eventuell geringfügig übertrieben. Ordentlich in einzelne Bereiche abgetrennt, fanden sich in seiner Lunchbox Nudelsalat mit gegrilltem Hähnchen und Rucolapesto, Tomaten-Gurkensalat mit Kichererbsen, Feta und Sonnenblumenkernen, zwei wachsweiche Eier, eine Handvoll Nüsse, Brombeeren, Trauben und Marcos erster Versuch eines selbstgemachten Müsliriegels.
„Du hast nicht gelogen, als du gesagt hast, dass du gerne kochst.“
„Willst du was abhaben?“ Marco bot Drago die – nicht ganz zufällig mitgebrachte – zweite Gabel an. „Ich nehme es dir auch nicht übel, falls es nicht schmeckt.“
„Ist das in Ordnung für dich? Ich kann es nicht ausstehen, wenn andere in meinem Essen rumstochern.“
„Nah, da bin ich entspannt. Solange du mir nicht alles wegfutterst, lasse ich dir gern den Vortritt.“
Drago inspizierte Marcos mitgebrachte Gerichte, traf eine Entscheidung und spießte eine Nudel auf. „Ohne Knoblauch?“
„Ohne Knoblauch.“ Zufällig, weil er vergessen hatte, welchen nachzukaufen.
Der Zweifel verschwand erst aus Dragos Augen, nachdem er dreimal zögerlich auf seinem Bissen rumgekaut hatte. Dann holte er sich Nachschlag.
Trotz Magenknurren harrte Marco aus, bis sich Drago durch alles durchprobiert hatte. Jemanden zu beobachten, dem sein Essen schmeckte, gehörte zu den schönsten Momenten, die ein Tag ihm bieten konnte. Der Eindruck, dass Drago seine Gabel eher aus Höflichkeit zur Seite legte, lieferte einen kleinen Bonus obendrauf. „Du kochst sehr gut.“
„Grazie. Du suchst sehr gute Wanderstrecken aus.“
„In erster Linie wollte ich die Mühle sehen, an der wir vorhin vorbeigekommen sind. Sie gehört zu den ältesten hier in der Gegend und ist nach einer Restauration wieder voll funktionsfähig.“
„Dachte mir fast, dass sie dich interessiert. Andernfalls steht man beim Wandern selten minutenlang auf einem Fleck rum. Das war ein kleiner Hinweis.“
Drago entschuldigte sich nicht, aber Röte kroch von seinen Wangen über seine Ohren, seinen Nacken und unter den Stoff seines Oberteils. Ohne die großzügige Schicht Sonnenmilch, deren Reste auf seiner Haut klebten, hätte er geglüht wie Grillkohle.
Diese unverfälschte Reaktion, weit entfernt von Dragos sonst so kontrolliertem Verhalten, entlockte Marco ein Lächeln, das er höflich hinter einer Gabel Nudelsalat versteckte.
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Marco parkte seinen Wagen in einer Lücke ein Stück von Dragos Hauseingang entfernt. Seine Füße schrien ihn an, endlich aus diesen Schuhen rauszukommen und seine Beine bettelten um ein heißes Bad und einen Abend auf dem Sofa. Zu blöd, dass sein Badezimmer kaum genug Platz für eine schlichte Dusche bot. „War ein echt cooler Ausflug. Danke fürs Mitnehmen.“
Die Hand bereits am Türgriff, drehte sich Drago zu Marco. „Gern geschehen.“
„Fänd‘s cool, wenn wir das mal wiederholen. Täte mir ganz gut, öfter rauszukommen.“
„Bei gutem Wetter bin ich regelmäßig wandern. Du kannst dich gerne anschließen.“
„Cool, danke. Und wenn das Wetter kacke ist, könnten wir ja auch einfach mal ein Bier miteinander trinken.“
Drago wirkte überrascht, nickte aber. „Sicher.“
„Nächstes Wochenende?“, fragte Marco.
„Bist du da nicht in Berlin bei deinem Freund?“
Ups. „Stimmt, bin ich. Dann die Woche drauf?“
Allmählich auffrischender Abendwind pfiff ins Wageninnere, als Drago die Tür öffnete. „Von meiner Seite aus gern.“ Er stieg aus, beugte sich aber nochmal herunter, um Marco anzusehen. Seine breiten Schultern stießen gegen die Ränder der Türöffnung. „Ich rufe dich an.“
Marco winkte ihm hinterher und ertappte sich bei dem Gedanken, das kommende Wochenende lieber mit einem Bier und Drago in Stuttgart zu verbringen, als zu Erik nach Berlin zu fahren. Eilig machte sich auf den Weg nach Hause.