Was zuletzt geschah:
Schritt für Schritt scheint es sowohl für Erik als auch für Marco aufwärtszugehen. Erik beschreitet nicht nur neue Wege in Berlin, sondern findet auch endlich die Kraft, in absehbarer Zukunft in seine alte Heimat zurückzukehren. Die perfekte Gelegenheit, um Helfer bei Charlottes und Philipps Umzug in die erste gemeinsame Wohnung zu spielen. Marco konnte hingegen ein klärendes Gespräch mit Manni und Hugo führen. Nun muss er nur noch mit Philipp ins Reine kommen – und dann ist da noch die Sache mit Drago …
Kapitel 34
Am Samstag ist WG-Party. Du kommst doch, oder?
Hätte Daniel gewusst, in welche Bredouille er Marco mit dieser Frage brachte, hätte er sie sicher nicht gestellt. Schon gar nicht zwischen Tür und Angel, kurz bevor sie in den Feierabend verschwanden. Wobei ... möglicherweise doch. Marco hegte seit einer Weile den Verdacht, dass Daniel seine neuerliche Zurückhaltung durchaus bemerkte.
Wie so oft in letzter Zeit um eine Antwort verlegen, hatte Marco gestammelt, dass er zunächst seinen Terminkalender checken müsste und sich später melden würde. Nicht, dass er einen Terminkalender besaß; die Ausrede gab ihm schlicht Gelegenheit, die Frage mit Drago zu klären.
Nun saß er zuhause auf seinem Sofa und starrte auf sein Handy, als könnte er damit eine Reaktion heraufbeschwören. Sie kam nach quälenden Minuten in Form eines Anrufs, den Marco mit vor Nervosität ausgetrocknetem Mund annahm. „Ciao, Drago.“
„Was an unserem letzten Gespräch hat dir das Gefühl gegeben, nicht mehr bei uns willkommen zu sein?“
Typisch Drago, das übliche Begrüßungsgeplänkel zu überspringen und gleich zum Punkt zu kommen. Normalerweise hätte diese Direktheit Marco amüsiert, nun beschleunigte sie jedoch seinen ohnehin rasenden Herzschlag. „Du hast recht deutlich gemacht, dass ich gar nicht mehr anzutanzen brauche, bevor ich die Sache mit Erik nicht geklärt habe.“
„Ich bezweifle sehr, dass das meine genauen Worte waren.“
„Nah, deine genauen Worte waren ‚Ich hoffe, du kannst die Sache mit Erik klären‘.“ Drago mochte sich nicht mehr daran erinnern, doch in Marcos Gehirn hatte sich der Satz eingebrannt.
Am anderen Ende der Leitung erklang erst Stille, dann ein langgezogenes Seufzen. „Offenbar war ich nicht deutlich genug, als ich dir erklärt habe, dass ich klare Kommunikation bevorzuge. ‚Ich hoffe, du kannst die Sache mit Erik klären‘ heißt, dass ich hoffe, dass du die Sache mit Erik klären kannst. Wollte ich dich nicht mehr sehen, hätte ich dir exakt das gesagt.“
Plötzlich kam sich Marco ziemlich dumm vor. „Also ist es okay für dich, wenn ich am Samstag vorbeikomme?“
„Natürlich. Ich freue mich darauf, dich wiederzusehen.“
Gleichfalls.
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Die WG-Party entpuppte sich tatsächlich als Party. Laute Musik, dichtes Gedränge und viele neue Gesichter. Nach kurzer Suche entdeckte Marco Daniel, Patrick und Melanie, jeweils in unterschiedliche Ecken des Raums verteilt; nach Drago hielt er allerdings vergeblich Ausschau. Ausgehend von dessen Liebe für Menschenansammlungen, hatte er sich vermutlich in sein Zimmer verkrochen. Vielleicht sollte Marco ihm dort einen Besuch abstatten. Später.
Nachdem er eine Runde durch den Raum gedreht und sich bei allen, die ansatzweise für ein Gespräch offen schienen, vorgestellt hatte, endete er neben dem bereitgestellten Kasten Bier im Wintergarten. Gerade, als er die letzte volle Flasche gesichtet hatte, tauchte Melanie auf, offenbar mit demselben Ziel. „Jetzt haben die drei schon einen begehbaren Kühlschrank, und stellen eine einzige Kiste Bier rein“, witzelte Marco.
„Das hat Patrick verbockt. Hat vergessen, zum Getränkemarkt zu fahren.“
„Du erzählst mir nicht ernsthaft, dass das wirklich die einzige Kiste Bier ist, die wir haben?“
„Nee. Ich erzähle dir, dass das das einzige ist, was wir überhaupt zum Trinken dahaben.“ Marcos Gesichtsausdruck musste ausreichend verdattert ausgesehen haben, um Melanie zum Lachen zu bringen. „Keine Sorge, Drago und ein paar andere sind schon losgezogen, um Nachschub zu organisieren.“
Das erklärte zumindest, wo Drago steckte. „Hoffentlich beeilen sie sich. In spätestens zehn Minuten wird hier sicher der Notstand ausgerufen.“
„Jetzt wo du’s sagst … Ist überhaupt noch was da?“
Sein charmantestes Lächeln rauskramend – okay, das zweitcharmanteste; das charmanteste reservierte er für ernstgemeinte Flirts – gab Marco seine Flasche an Melanie weiter. „Kleine Spende.“
„Kleine Spende, großer Dank.“ Als sie ihm die Flasche aus der Hand nahm, bemerkte Marco mehrere blaue Flecke, die Melanies Unterarme bedeckten, bis sie unter den Ärmeln ihres Pullovers verschwanden.
Er bemühte sich, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Vielleicht ging sie ebenfalls irgendeinem Kampfsport nach, oder es gab eine andere, völlig harmlose Erklärung für die Verletzungen. Bevor Marco die Gelegenheit bekam, dezent danach zu fragen, verabschiedete sich Melanie und lief zurück ins Wohnzimmer, wo sie ihre Eroberung Patrick präsentierte.
Für einen Mann, der eben von seiner Freundin das letzte Bier überreicht bekommen hatte, sah er nicht glücklich aus. Ganz und gar nicht glücklich. Marco stand deutlich zu weit weg, um zu hören, was er sagte, aber Patricks Körpersprache genügte. Marco fühlte die schneidenden Worte nahezu. Zu allem Übel fixierte Patrick ihn in genau diesem Moment mit bohrendem Blick.
Cazzo. Was auch immer zwischen Melanie und Patrick lief, Marco war ungewollt hineingeraten.
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Zu Marcos Erleichterung sah Patrick davon ab, eine offene Konfrontation zu suchen, und die Party ging ohne Unterbrechung weiter. Marco mischte sich unter die Leute – wann hatte er das letzte Mal so viele neue Bekanntschaften geknüpft? – knabberte Chips und genoss die vielfältige Gesellschaft. Irgendwann kam sogar Getränkenachschub.
Drago erwiderte seinen Gruß mit dem Anflug eines Lächelns. Wie angekündigt, schien er sich tatsächlich darüber zu freuen, Marco wiederzusehen.
Was nicht half, Marcos Gefühle zu entwirren. Nun, da er wusste, dass Erik in Berlin seinen eigenen Weg ging, wuchs in ihm das Bedürfnis, ebenfalls nach vorne zu blicken. Nur was genau bedeutete das?
War Drago ein guter Freund, mit dem es zufällig auch super im Bett klappte? Mehr als das? Oder eher ein kurz und heiß loderndes Feuer, das abkühlte, sobald Marco die Trennung von Erik wirklich überwunden hatte? War Marco bereit, sich auf etwas Neues einzulassen? Wollte er das? Wollte er das mit Drago?
Und wie stand es um Dragos Gefühle? Wie auch immer diese aussehen mochten, Marco tat gut daran, Vorsicht walten zu lassen, solange seine eigenen ihn vor Rätsel stellten. Drago sollte sich nicht wie ein Spielzeug vorkommen, das Marco bei Bedarf aus dem Keller holte, um es danach wieder zu verstauen.
Zum Glück mangelte es in diesem Haus nicht nur an Getränken, sondern auch an Snacks, Klopapier und diversen anderen Dingen, die während einer Party eher nicht ausgehen sollten. Daher nahm Marco Drago die meiste Zeit lediglich peripher wahr. Ein blasser Schatten, der versuchte, sämtliche kleineren Katastrophen auszubügeln und dabei den eigentlichen Feierlichkeiten so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen. Für jemanden, der Partys hasste, ertrug Drago sie ohnehin erstaunlich häufig.
Marco hingegen stürzte sich freudig in Gespräche mit neuen Bekanntschaften, tauschte Nummern, und genoss in ruhigen Momenten die Musik. Bis ein Aufschrei sie durchbrach.
„Aua! Patrick! Du tust mir weh!“ Melanie versuchte, sich ihrem Freund zu entziehen, doch dieser dachte gar nicht daran, den Griff um ihre Oberarme zu lockern. Stattdessen drückte er sie gegen die Wohnzimmerwand, redete auf sie ein, und schüttelte sie durch, als wollte er ihr seine Worte regelrecht einhämmern.
Marco hörte nur Fetzen des Gesagten, aber er musste nicht wissen, worum sich der Streit drehte, um zu erkennen, dass er einschreiten sollte. Auf halber Strecke nahm er eine Bewegung am anderen Ende des Raums wahr. Drago.
Ein einziger Blick in dessen Gesicht genügte, damit Marco seinen Kurs änderte. Wenige Meter, bevor Drago Melanie und Patrick erreichte, schnitt Marco ihm den Weg ab. Ihre Körper kollidierten, und Marco musste einen Schritt zurücktreten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. In diesem Moment begriff er zwei Dinge.
Erstens: Drago war stärker als er. Wenn er es wirklich darauf anlegte, an Marco vorbeizukommen, würde er es schaffen. Zweitens: Das durfte unter keinen Umständen passieren.
„Drago!“, zischte Marco eindringlich. „Stopp!“
Seine Worte fielen auf taube Ohren und er musste alle Kraft dafür mobilisieren, nicht einfach beiseitegeschoben zu werden. Hinter sich hörte er Stimmengewirr, teilweise aggressiv, teilweise beschwichtigend. Er erkannte Daniels Stimme, wagte es jedoch nicht, den Kopf zu drehen und seine Aufmerksamkeit von Drago abzuwenden. Was auch immer dort vorging, musste warten. „Drago, das ist es nicht wert! Er ist es nicht wert!“
Drago ignorierte ihn, drängte vorwärts, bis Marco nichts anderes übrigblieb, als einen weiteren Schritt zurückzuweichen. Wenn das so weiterging, würde er Drago nicht mehr lange zurückhalten können. „Komm schon! Sieh mich an!“
Marco löste eine Hand von Dragos Brust, legte sie stattdessen in dessen Nacken. Eine vertraute Geste, eine intime Geste, die Drago hoffentlich aus seinem Tunnel riss, doch für einen Atemzug fürchtete Marco, alles, was er damit erreicht hatte, war ein Arm weniger, den er gegen Drago stemmen konnte.
„Mach keinen Blödsinn!“ Er redete hastig und leise, betete, zu Drago durchzudringen, bevor dieser einen weiteren Versuch startete, an ihm vorbeizukommen. „Mit sowas kannst du dir dein ganzes Leben versauen! Patrick ist es nicht wert, dass du dir seinetwegen Ärger einhandelst!“ Keine Reaktion. Nach sämtlichen Strohhalmen greifend, versuchte Marco einen anderen Ansatz. „Daniel ist bei Melanie. Sie ist sicher.“ Er konnte nur hoffen, dass das stimmte, dennoch wiederholte er mit Nachdruck: „Sie ist sicher.“
Abrupt endete Dragos Gegenwehr. Ohne Marcos Existenz anzuerkennen, löste er sich aus dessen Griff, machte kehrt und flüchtete aus der Wohnung. Marco starrte ihm hinterher, unschlüssig, ob er folgen oder ihn in Ruhe lassen sollte. Der aufkeimende Tumult hinter ihm nahm ihm die Entscheidung ab.
Daniel und einige seiner Freunde hielten Patrick fest, der sich von dieser Behandlung gar nicht begeistert zeigte. Von Melanie fehlte jede Spur.
„… Polizei rufen“, sagte Daniel gerade. Alle Gutmütigkeit, die seine Züge normalerweise sanft und nahbar machte, war aus seinem Gesicht verschwunden.
Patrick funkelte ihn an. „Mach dich nicht lächerlich. Und jetzt nehmt endlich die Pfoten von mir!“ Grob schüttelte er die Hände ab, die ihn hielten und zog sich in den hinteren Teil der Wohnung zurück, wo kurz darauf seine Zimmertür zuschlug.
Begleitet von einem langgezogenen Seufzen, starrte Daniel an die Zimmerdecke. Alle anderen standen unschlüssig um ihn herum.
„Ist Melanie okay?“, erkundigte sich Marco.
Daniel nickte schwach. Gleich darauf schüttelte er den Kopf. „Er hat sie nicht schlimm verletzt, falls du das meinst. Eine Freundin bringt sie nach Hause.“
„Ist das–“
„Zum ersten Mal passiert? Ich weiß es nicht. Zum ersten Mal in unserem Beisein, jedenfalls so heftig. Dass er sie gerne mal anschreit, wussten wir schon vorher.“
Das hatte Marco in der Tat ebenfalls bereits live miterlebt. Erneut dachte er an die blauen Flecke auf ihren Unterarmen. „Was wollt ihr jetzt tun?“
Hilflos drehte Daniel die Handflächen nach oben. „Ehrlich, ich habe nicht die geringste Ahnung. Shit, wir hätten einfach schon viel früher eingreifen sollen. Ich kann nicht glauben, dass wir monatelang mitangesehen haben, wie er mit ihr umgeht und es erst so weit kommen musste wie heute, bis wir mal was sagen.“
Marco teilte Daniels Frust, Ratlosigkeit und Wut.
„Anna hat erstmal ein Auge auf sie“, sagte einer von Daniels Freunden. Marco hatte sich an diesem Abend kurz mit ihm unterhalten, erinnerte sich jedoch nicht an seinen Namen. „Sie klärt gerade mit ihr, ob es ihr recht ist, wenn ich auch vorbeikomme. Nur, damit jemand in der Wohnung ist, falls Patrick auf dumme Ideen kommt.“
„Danke.“ Daniel klang so ausgelaugt, wie sich Marco fühlte.
„Soll einer von uns hierbleiben?“, fragte er. „Aus demselben Grund?“
„Das ist hoffentlich nicht nötig. Ich bin ja da und … Ich bin ja da.“
Marco hätte darauf geschworen, dass Daniel im letzten Moment Dragos Namen aus dem Spiel gelassen hatte.
„Die Party ist jedenfalls erstmal vorbei, schätze ich“, sagte Daniel und tatsächlich zogen die ersten Leute gerade ihre Jacken und Schuhe an, allesamt mit demselben betretenen Gesichtsausdruck.
„Ich helfe dir zumindest noch Aufräumen“, bot Marco an.
Seinem Vorschlag folgte zustimmendes Gemurmel und als Gruppe schafften sie es, binnen einiger Minuten die Wohnung wieder in ihren prä-Party-Zustand zu versetzen. Nach getaner Arbeit verabschiedete sich einer nach dem anderen, offensichtlich froh, wegzukommen, bis nur noch Marco und Daniel übrigblieben.
Letzterer verzog das Gesicht. „Sorry, wie das heute gelaufen ist.“
„Kaum deine Schuld“, erwiderte Marco. „Du bist nicht für Patrick verantwortlich.“
„Hätte ich einfach weitergearbeitet, statt meinen Meister zu machen, hätten wir überhaupt keinen dritten Mitbewohner gebraucht. Also doch, irgendwie schon. Zumindest fühle ich mich für ihn verantwortlich.“
„Quatsch.“
„Und wir hätten schon viel früher eingreifen müssen.“
Dagegen konnte Marco nichts sagen, denn das galt genauso für ihn. Auch er hatte die ständigen und ziemlich heftigen Streitereien zwischen Patrick und Melanie mitbekommen, ohne sich ein einziges Mal bei ihr zu erkundigen, ob es ihr gutging.
„Wenigstens konntest du Drago abfangen“, sagte Daniel leise, als fürchtete er Mithörer in der leeren Wohnung. „Ich will mir gar nicht ausmalen, was andernfalls passiert wäre. Als ich ihn gesehen habe, dachte ich wirklich, er bringt Patrick um.“
Ich auch.
„Ist er in seinem Zimmer?“, fragte Daniel weiter.
„Nah. Ist aus der Wohnung raus.“ Hatte er überhaupt eine Jacke angezogen? Marco beugte sich zur Seite, bis die Garderobe in Sicht kam. Dragos Jacke hing an ihrem üblichen Haken. „Wir sollten ihn anrufen.“
Daniel hatte bereits sein Handy in der Hand, schüttelte aber nach ein paar Sekunden den Kopf. „Mailbox. Ich schicke ihm eine Nachricht.“
„Hast du eine Ahnung, wo er stecken könnte?“
„Am ehesten bei seinem Onkel. Wobei es relativ spät ist, ich weiß nicht, ob er ihn um die Zeit noch stören würde.“
Nicht die Antwort, die Marco hatte hören wollen. Andererseits war Drago erwachsen, er würde schon nicht erfrieren oder anderweitigen Blödsinn anstellen. So gerne Marco warten würde, bis er nach Hause kam, schien ihm das aus diversen Gründen keine gute Idee zu sein. „Kommst du zurecht, wenn ich jetzt gehe?“
Daniels Lächeln wackelte, wirkte aber echt. „Na klar.“
„Dann gute Nacht. Und melde dich, falls irgendwas sein sollte. Ich wohne ja quasi ums Eck.“
„Mache ich.“
Marco verabschiedete sich von Daniel und versuchte, nicht an Drago zu denken.
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Das gelang ihm, bis er die Haustür öffnete und am liebsten auf dem Absatz umgedreht und zurück in die warme Wohnung geflüchtet wäre. Niemand sollte bei diesen Temperaturen ohne Jacke unterwegs sein.
Obwohl Marco wusste, dass er sich lächerlich machte, erwischte er sich wiederholt dabei, Ausschau zu halten. Er wandte den Kopf von einer Seite zur anderen, starrte in dunkle Ecken, und dachte, weißblondes Haar zu sehen, wo nur Straßenlaternen Putz beleuchteten. Selbst der Schatten unter einer Kastanie sah aus, wie eine großgewachsene Gestalt, die schützend die Arme um sich geschlungen hatte. Moment. Der Schatten war eine großgewachsene Gestalt.
„Drago?“
Dieser hob den Kopf, bewegte sich allerdings nicht. Von nahem sah Marco das Zittern, das seinen Körper durchrüttelte. „Stehst du schon die ganze Zeit hier?“
Keine Antwort.
„Wir dachten, du wärst bei deinem Onkel.“
„Mein Onkel geht spätestens um zehn ins Bett. Es ist schon weit nach zwölf.“
Wirklich? Irgendwann im Laufe der Ereignisse musste Marco sein Zeitgefühl verloren haben. „Daniel hat versucht, dich zu erreichen“, sagte er. „Alle anderen sind weg. Melanie auch.“
„Ich weiß. Ich habe sie und Anna vorbeigehen sehen.“
„Dann kannst du doch wieder hoch in die Wohnung.“
„Patrick ist noch da.“
„Er ist in seinem Zimmer“, räumte Marco ein.
„Ich kann nicht in derselben Wohnung sein wie er. Ich kann nicht.“
Marco hätte diskutieren können. Drago fragen, wie seine Alternativen aussahen, ob er die ganze Nacht in der Kälte stehen und sich den Tod holen wollte. Stattdessen sagte er das Einzige, das ihm in diesem Moment halbwegs sinnvoll erschien. „Willst du mit zu mir?“
„Ich will dir nicht zur Last fallen.“
„Kein Freund, der eine Nacht lang meine Couch braucht, fällt mir zur Last.“
Die Lippen aufeinandergepresst, starrte Drago auf einen Punkt knapp oberhalb Marcos Schulter. Dann schien er eine Entscheidung zu treffen. „In dem Fall würde ich dein Angebot gerne annehmen.“
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In Marcos Begleitung ging Drago doch zurück in die Wohnung, allerdings nur, um ein paar seiner Sachen zu packen und mit Daniel zu sprechen. Marco wartete in dieser Zeit in der Küche. Obwohl die Neugier ihn umbrachte, wollte er nicht lauschen. Einige Stichworte bekam er dennoch mit. Mietvertrag. Kündigung. Seinen eigenen Namen.
Anschließend verschwand Drago in sein Zimmer, aus dem er nach wenigen Minuten mit einer Reisetasche zurückkehrte. „Wir können los.“
Ein weiteres Mal verabschiedete sich Marco von Daniel, wiederholte, dass sich dieser melden solle, falls er irgendwie Unterstützung benötigte, und verließ, dicht gefolgt von Drago, die Wohnung. Sie legten die Strecke schweigend zurück.
Bei Marco angekommen, machte dieser sich daran, Bettzeug für Drago herzurichten. „Die Couch kann man leider nicht ausziehen“, sagte er über seine Schulter. „Ich fürchte, das wird ein wenig eng, aber für eine Nacht geht es hoffentlich.“ Er wagte es nicht, Drago einen Platz in seinem Bett anzubieten, um nicht den Eindruck zu vermitteln, sein Übernachtungsangebot sei an Bedingungen geknüpft. Zumal es technisch gesehen zwar für zwei Personen reichte, allerdings nur, sofern man sich nicht vor Körperkontakt scheute. Insbesondere, wenn eine der beiden Personen fast zwei Meter maß.
„Ich hatte schon unbequemere Schlafplätze.“ Drago nahm Marco das Laken ab, das dieser eben über die Couch drapieren wollte. „Und ich kann mir mein Bett selbst machen.“
„Äh … okay? Scusa, ich wollte dir nicht auf den Schlips treten.“
Drago runzelte die Stirn. „Bist du nicht. Ich möchte nur nicht, dass du dir Arbeit bei etwas machst, das ich selbst erledigen kann.“
„Oh. Ach so.“ Dass Drago keine geheimen Botschaften hinter seinen Worten versteckte, musste Marco definitiv noch besser verinnerlichen.
„Danke, dass ich heute hier schlafen darf“, sagte Drago nach einer kurzen Pause.
„Ist doch selbstverständlich.“
„Morgen bitte ich meinen Onkel, bei ihm unterzukommen, bis Patrick weg ist. Dann hast du wieder deine Ruhe.“
„Als würde es mich stören, dass du hier bist.“ Marco fuhr sich durchs Haar. „Hör mal, ich weiß, dass die Situation zwischen uns gerade irgendwie kompliziert ist, aber …“ Er verstummte, unschlüssig, wie er den Satz beenden sollte.
„Wenn du darüber sprechen willst, dann morgen. Nicht mehr heute. Ich bin zu müde.“ Marco scheiterte daran, Dragos Stimme irgendeine Emotion zuzuordnen, sein Instinkt sagte ihm allerdings, dass sich eine ganze Menge davon hinter der sachlichen Feststellung verbarg.
„Klaro. Morgen. Oder nicht, wenn du nicht willst. Deine Entscheidung.“
Das nahm Drago schweigend hin und fuhr damit fort, sein improvisiertes Bett zu beziehen. Nachdem er sich fertig eingerichtet hatte, wünschten sie einander gute Nacht und löschten das Licht.
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Drago wachte noch vor Marco auf. Was diesen ehrlich überraschte, immerhin hatte er die Angewohnheit, selbst an einem Sonntagmorgen und sogar nach einer Nacht wie der letzten, spätestens um sieben aus dem Bett zu sein. Zu dieser Zeit stand Drago allerdings bereits in Trainingsklamotten vor Marcos Küchenzeile, ein Glas Wasser in der Hand. „Habe ich dich geweckt?“ Auf der Rückenlehne der Couch lag ein Stapel ordentlich gefalteten Bettzeugs.
„Nah. Kommst du vom Laufen, oder gehst du gerade?“
Dragos rechter Mundwinkel zuckte nach oben. „Wenn ich unverschwitzt vom Training zurückkomme, mache ich etwas falsch.“
„So genau habe ich heute noch nicht an dir gerochen.“
Jetzt entkam Drago ein echtes Lachen, das jedoch nicht lange anhielt. Er blickte aus dem Fenster. „Du wolltest über etwas sprechen.“
Tja, das wurde dann wohl das auf heute vertagte Gespräch, und während ein Teil von Marco sich danach sehnte, die Situation zu klären, fürchtete sich ein anderer davor. Was sollte er nur sagen?
Drago kam ihm zuvor. „Ich habe den Eindruck, mir ist derselbe Fehler unterlaufen wie dir, und ich habe bei dem Versuch, dir Raum zu geben, abweisend gewirkt. Falls ich dir also das Gefühl vermittelt habe, nicht mehr bei uns willkommen zu sein ... nicht mehr bei mir willkommen zu sein“, verbesserte er sich, „war das nicht meine Intention.“
„Ist okay“, versicherte Marco rasch. „Nicht deine Schuld. Ich … hatte ein paar Dinge, die ich klären musste. Mit anderen und mir selbst.“
„Hast du von Erik gehört?“
„Sì. Nicht persönlich, aber ich weiß jetzt zumindest, dass er okay ist.“ Noch immer fühlte Marco das Echo der Erleichterung, die ihn bei diesen Nachrichten durchflutet hatte.
„Ich bin froh, das zu hören.“ Drago sagte das mit dieser für ihn typischen Nüchternheit, die Marco verriet, dass es sich dabei für ihn um keine hohle Phrase handelte. Dass ihn das Wohlergehen von jemanden interessierte, den er nicht einmal kannte, sollte Marco eigentlich nicht mehr überraschen und dennoch ließ diese Erkenntnis unerwartete Wärme in ihm aufblühen.
„Seitdem geht’s mir selbst auch deutlich besser“, gab Marco zu. „Manchmal fehlt er mir noch, und es tut mir richtig, richtig leid, wie das zwischen uns gelaufen ist, aber meine Gedanken kreisen nicht mehr den ganzen Tag darum. Ich habe das Gefühl, allmählich wieder nach vorne sehen zu können, statt nur zurück.“ War das ein geeigneter Zeitpunkt, um sanft auf sein Interesse am ‚Plus‘ in ihrer Freundschaft hinzuweisen? Doch wie?
Erneut kam Drago ihm zuvor. „Ich mag es nicht besonders, über meine Gefühle zu sprechen, aber ich schätze klare Kommunikation und in letzter Zeit gab es mir zwischen uns zu viel Rätselraten. Deshalb will ich nur noch einmal betonen, dass ich unsere Freundschaft sehr schätze und sie erhalten möchte.“ Rote Flecken bildeten sich auf Dragos Wangen. „Sofern es das ist, was du auch möchtest, würde ich auch gerne ihre sexuellen Aspekte fortsetzen.“
Unfreiwillig lachte Marco. Drago konnte noch so oft behaupten, Schwierigkeiten damit zu haben, über seine Gefühle zu sprechen, aber er erinnerte sich nicht daran, jemals so mühelos mit jemandem kommuniziert zu haben. „Du ahnst nicht, wie froh ich bin, dass du es zuerst aussprichst. Ich will. Und ich denke, inzwischen kann ich.“
Er sah seine Erleichterung in Dragos Gesicht gespiegelt. „Dann … gehe ich jetzt Laufen.“
„Tu das. Ach, halt, warte noch kurz.“
Fragend blickte Drago zu Marco, den Körper schon zur Tür gewandt.
„Ich gebe dir meinen Zweitschlüssel mit“, erklärte Marco. „Dann bist du nicht von mir abhängig, wenn du wieder rein willst.“ Aus seinem CD-Regal zog er einen Umschlag mit seinem Namen, die Adresse in Eriks Schrift verfasst, die grundsätzlich an Unleserlichkeit grenzte, egal wie viel Mühe er sich gab. Der Brief hatte ihn weniger als eine Woche nach ihrer Trennung per Einschreiben erreicht. Sein einziger Inhalt: Marcos Zweitschlüssel. Kein Zettel, kein gar nichts.
Damals hatte Marco ihn lange angestarrt, bevor er ihn zwischen zwei CDs gestopft und von da an ignoriert hatte. Auch jetzt spürte er Emotionen in sich hochkochen, die einfach nicht weniger wurden, egal, wie viel Zeit seit ihrer Trennung verging. Er wünschte sich, mit Erik sprechen zu können. Nicht, weil er hoffte, ihre Beziehung wiederzubeleben – er blieb dabei, dass das kein gutes Ende nähme – sondern, weil Erik ihm fehlte. Immer noch und jeden Tag. Aber Marco wusste nun, dass es Erik gut ging und das musste genügen.
Jetzt starrte er schon wieder auf den Umschlag. Er schüttelte den Schlüssel heraus, um ihn an Drago weiterzureichen, konnte es jedoch nicht. Nicht so. Nicht mit dem derzeitigen Schlüsselanhänger, jenem Häuschen, das er Erik vor einer gefühlten Ewigkeit zum Umzug in dessen erste eigene Wohnung geschnitzt hatte.
Eilig knibbelte Marco den Anhänger ab und legte ihn zurück in den Umschlag, bevor er den blanken Schlüssel an Drago übergab. „Hier.“
„Danke.“ Zum Glück ersparte sich Drago jeden Kommentar und brach zu seiner morgendlichen Joggingrunde auf.
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„Mein Onkel kommt erst morgen zurück nach Stuttgart.“ Drago verstaute sein Handy wieder in seiner Reisetasche. Nach seiner Rückkehr vom Joggen hatte er zunächst geduscht und anschließend mit seinem Onkel telefoniert. Nun stand er in Marcos Wohnung, die Haare nass, ein Handtuch um die Hüften geschlungen und sonst nicht viel am Körper.
Marco bemühte sich, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren, obwohl ihm das bei diesem Anblick nicht leicht fiel. „Hast du keinen Schlüssel?“ Da Drago mit seinem Onkel serbisch sprach, hatte Marco den Inhalt ihres Gesprächs nicht mitbekommen.
„Den habe ich vor ein paar Monaten an seine Freundin übergeben.“
„Du kannst gerne heute Nacht nochmal hier schlafen.“
„Danke.“ Drago sah sich in der Wohnung um, als hielte er Ausschau nach etwas, das er nicht fand.
„Ich überlasse dir sogar das Bett“, bot Marco an. Oder wir schlafen zu zweit darin. „Du kannst dich auf der Couch ja nicht mal richtig ausstrecken.“
„Die Couch genügt mir. Ich müsste nur dringend an meinem Uniprojekt weiterarbeiten.“
„Brauchst du meinen Arbeitstisch? Den kann ich dir freiräumen.“ Nicht, dass darauf Chaos herrschte – Marcos Ordnungssinn reichte nicht ganz so weit wie Dragos, ab einem bestimmten Punkt ging es dabei aber lediglich um Nuancen – dennoch nahmen seine Schnitzwerkzeuge durchaus Platz ein.
„Wäre das möglich? Ich will dir nicht–“
„–zur Last fallen, schon klar. Tust du nicht.“
Drago nickte. „Dann bitte ich Daniel, mir meine Sachen vorbeizubringen. Wir treffen uns gleich, um zu besprechen, wie wir weiter vorgehen.“
„Voller Tag für dich.“
Drago lächelte humorlos und nicht zum ersten Mal sehnte sich Marco danach, ihm mehr bieten zu können als einen Platz auf der Couch.
„Hast du Kaffee im Haus?“, fragte Drago unvermittelt.
„Ist Espresso okay?“
„Ja.“
Froh, Drago zumindest diesen Wunsch erfüllen zu können, füllte Marco seine treue Caffettiera und schaltete den Herd an. Wenig später waberte der Duft frisch aufgebrühten Espressos durch die Wohnung und die beiden nahmen auf den Barhockern an Marcos Küchenzeile Platz, Drago weiterhin ausschließlich in ein Handtuch gehüllt. Unabhängig von all dem Mist, der zu diesem Moment geführt hatte, dachte Marco, dass es schlechtere Arten gab, seinen Sonntagmorgen zu verbringen.
„Ich möchte mich noch für gestern entschuldigen“, sagte Drago. „Ich hätte niemals so die Kontrolle verlieren dürfen.“
„Nah, mach dir darum mal keinen Kopf. Ist doch verständlich, gerade bei deiner Vergangenheit.“ Oh verflixt. Den letzten Satz hätte sich Marco wohl schenken sollen. Drago sah nicht erfreut aus.
„Ich bin sicher, wenn man meinen Vater gefragt hätte, hätte er immer gute Gründe für sein Handeln gehabt“, sagte er trocken. „Das darf nie eine Entschuldigung sein.“
„Okay, ja“, räumte Marco ein. „Aber in einer Situation wie gestern bei Patrick und Melanie dazwischenzugehen, ist absolut nicht vergleichbar mit dem, was dein Vater getan hat.“
„Ich wäre nicht nur ‚dazwischengegangen‘, und ich denke, das ist dir sehr bewusst.“
„Das stellt dich trotzdem nicht auf eine Stufe mit deinem Vater.“
Stumm starrte Drago aus dem Fenster, offensichtlich wenig überzeugt von Marcos Worten.
„Es gibt jemanden, der Erik sehr, sehr verletzt hat, lange vor unserem Kennenlernen“, erzählte Marco, darum bemüht, die konkreten Details zu umschiffen. „Wir sind uns einmal begegnet und … Ich habe komplett Rot gesehen. Bis heute weiß ich nicht, was passiert wäre, wenn mich Erik nicht weggezogen hätte. Rückblickend bin ich unfassbar dankbar dafür, dass die Situation nicht eskaliert ist, jedenfalls nicht schlimmer als sie es zu dem Zeitpunkt eh schon war, aber wenn du mich fragst, ob mir meine Reaktion leidtut, lautet die ehrliche Antwort Nein. Ich bin froh, ihm nicht aufs Maul gegeben zu haben, weil der Kerl es nicht wert ist, dass ich mir wegen ihm Ärger einhandle, und ich auch einfach nicht diese Art Mensch sein will, aber ich bin weiterhin der festen Überzeugung, dass er es verdient hätte.“ Nun war es Marco, der sich davor scheute, Drago anzusehen. So ehrlich hatte er noch nie über seine Begegnung mit Eriks Ex gesprochen, nicht einmal mit Erik selbst. „Falls du also eine moralische Instanz suchst, die dich für deine Reaktion gestern verurteilt, bist du bei mir an der falschen Stelle.“
„Ich bin versucht zu sagen, dass sich diese beiden Fälle nicht vergleichen lassen, aber ich kann nicht begründen, weshalb ich das so sehe.“
„Könnte daran liegen, dass sie eben sehr wohl vergleichbar sind“, sagte Marco. „Und guck, ich behaupte ja nicht, dass du gestern oder ich damals im Recht waren. Nur, dass ich es nachvollziehen kann.“ Marco widerstand der Versuchung, Dragos Hand zu drücken. Er wusste nie so ganz, wie Drago zu solchen Gesten stand, und wollte nicht riskieren, ihrer gerade gekitteten Freundschaft erneut einen Dämpfer zu verpassen. „Vielleicht ist die Lehre aus der Geschichte auch einfach, dass es gut ist, Freunde zu haben, die einen davor schützen, richtig Mist zu bauen.“
„Es sollte nicht nötig sein, mich vor sowas zu schützen.“ Stirnrunzelnd blickte Drago auf seine leere Tasse, als versuchte er, aus nichtvorhandenem Kaffeesatz zu lesen. „Aber es ist sicher besser als die Alternative.“
„Darauf einen zweiten Espresso?“, fragte Marco und grinste, als Drago ihm bereitwillig seine Tasse zuschob.
~~~~~~~~~~
Seit gut fünfzehn Minuten lieferte sich Marco ein Blickduell mit seinem Handy. Er musste wirklich aufhören, sich so anzustellen und endlich den Anruf-Knopf drücken. Gleich. Sofort. Jeden Moment war es so weit. Sobald er sich überlegt hatte, was er sagen würde. Dann aber definitiv.
„Cazzo!“ Genervt von sich selbst, wählte Marco Philipps Nummer und wartete mit hämmerndem Herzen darauf, dass dieser antwortete. Nach einer viel zu kurzen Ewigkeit verstummte das Freizeichen.
„Hi!“
„Äh, hi. Ich wollte mich mal wieder bei dir melden. Und, äh, mich bei dir entschuldigen.“ Marco holte Luft. „Es tut mir echt leid, dass ich mich jetzt erst rühre. Und, dass sich in letzter Zeit generell alles um mich gedreht hat. Das war kacke.“
„Was?“
„Ich weiß, dass ich die letzten Monate kein wirkliches Ohr mehr für dich hatte. Oder für irgendeinen anderen Freund. Ständig hat sich alles um mich und um Erik und um unsere Trennung gedreht, und ich wollte dir sagen, dass mir das leidtut.“
„Deshalb rufst du an?“
„Äh, sì. Jedenfalls tut es mir leid und–“
„Marco.“
Wenige verstanden es so sehr, mit einem einzelnen Wort so viel Unmut zu transportieren. „Scusa. Ich mach’s schon wieder, oder? Nur über mich reden?“
„Würdest du das lassen? Verdammte Scheiße, du machst mich wahnsinnig!“
Geschlagen ließ Marco das Handy sinken. Er hätte es wissen müssen. Er hätte wissen müssen, dass sich diese Freundschaft nicht mit einem viel zu spät kommenden Anruf und einer halbgaren Entschuldigung kitten ließ. Einer Entschuldigung, die im Grunde ausschließlich dazu diente, Marco von seinem schlechten Gewissen zu befreien. „Es tut mir leid“, murmelte er.
„Marco? Bist du noch dran? Ich verstehe dich kaum.“
Marco brachte sein Handy zurück ans Ohr. „Ich weiß, dass ein einfaches ‚Sorry‘ nicht ausreicht, um–“
„Oh, verflucht nochmal! Halt zwei Minuten lang den Rand und hör mir zu. Dachtest du echt die ganze Zeit, ich würde dich ignorieren, weil ich sauer auf dich bin?“
„Bist du nicht?“
Philipp seufzte. „Ehrlich, wenn ich geahnt hätte, dass du das denkst, hätte ich mich schon vor Wochen bei dir gemeldet. Ich bin nicht sauer. Absolut nicht. Die letzten Male, als wir uns unterhalten haben, hast du mich nur einfach komplett abgeblockt. Ich weiß nicht, wie du darauf kommst, dass sich alles nur um dich und deine Trennung von Erik gedreht hätte, weil ich mich ehrlich nicht daran erinnern kann, dass du mal offen mit mir darüber gesprochen hättest. Im Gegenteil, sobald wir auch nur in die Nähe dieses Themas gekommen sind, hast du gesagt, dass du nicht jammern willst. Was du übrigens auch sagst, wenn es um die Arbeit geht. Oder um irgendwas anderes, das gerade nicht gut bei dir läuft. Also dachte ich, ich lasse dir erstmal ein wenig Freiraum. Deswegen habe ich mich nicht bei dir gemeldet. Ich wollte dir nicht auf die Nerven gehen.“
„Oh.“
„Ich fass es einfach nicht, dass du denkst, du hättest die ganze Zeit nur über dich geredet. Du hast gar nicht geredet.“
„Habe ich nicht?“
„Nein! Du hast uns alle komplett ausgesperrt!“
Marco dachte an ihre letzten Begegnungen zurück, aber seine Erinnerung sagte ihm weiterhin, dass Philipp falsch lag. Allerdings warf dieser ihm das weder zum ersten Mal noch als einziger vor. Tatsächlich hatte er nahezu exakt das gleiche Gespräch kürzlich mit Manni und Hugo geführt, und auch Erik hatte ihm das im Laufe ihrer Beziehung mehrfach angekreidet. Wenn man nicht einem Geisterfahrer begegnete, sondern hunderten, sollte man wohl hinterfragen, ob man wirklich in die richtige Richtung fuhr.
„Scusa“, sagte er schließlich. „Das ist mir ehrlich nicht bewusst gewesen.“
„Ja, das wird mir auch langsam klar. Außerdem denke ich, dass ich derjenige bin, der dir eine Entschuldigung schuldet. Nicht nur, weil ich mich so lange nicht gemeldet habe, sondern für ein paar Dinge, die ich gesagt oder nicht gesagt habe, als wir uns die letzten Male gesehen haben.“
„Nah, alles gut.“
„Ach ja? Ich glaube nämlich, dass ich dich mit meiner Andeutung, du hättest Erik schon durch einen anderen ersetzt, ziemlich verletzt habe.“
„Oh.“ Marco erinnerte sich daran. Drago hatte ihn damals vom Tässchen abgeholt, was Philipp zu der Bemerkung verleitet hatte, Marco würde eindeutig auf einen bestimmten Typ stehen. Was eventuell zutraf, sich allerdings angefühlt hatte, als würde Philipp den Schmerz, der Marco seit ihrer Trennung täglich begleitete, absolut nicht ernstnehmen. Oder ihm sogar unterstellen, diese Entscheidung leichtfertig getroffen zu haben. „Ich habe Erik nicht ersetzt.“
„Das weiß ich. Scheiße, Marco, natürlich weiß ich das und es tut mir leid, dass ich diesen blöden Witz gemacht habe. Das war einfach mega unfair von mir. Ich glaube, ich hatte gehofft, dich so zum Reden zu provozieren. Was ja mal voll nach hinten losgegangen ist. Und, keine Ahnung, wahrscheinlich habe ich mich auch zu sehr von Charlotte beeinflussen lassen.“
„Sie ist nicht sehr gut auf mich zu sprechen, was?“
Philipp seufzte. „Nein, ist sie nicht. Eine Weile lang hat sie sogar darauf bestanden, dass ich den Kontakt mit dir abbreche. Wir haben das inzwischen geklärt, aber ich hätte mich von Anfang an eindeutiger auf deine Seite stellen müssen.“
„Ich mag es nicht, dass es überhaupt notwendig zu sein scheint, eine Seite zu wählen.“
„Ich auch nicht“, gab Philipp zu. „Hatten du und Erik seit der Trennung nochmal Kontakt?“
„Nur, als ich ihm gesagt habe, dass er an Weihnachten nicht ins Tässchen kommen soll. Gibt wenig, was ich mehr bereue als das.“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass er Verständnis dafür hat.“ Als Marco nicht antwortete, sagte Philipp: „Ernsthaft. Vermutlich sollte ich dir das nicht erzählen, aber Charlotte meckert regelmäßig, dass er sich absolut nicht dazu hinreißen lässt, über dich zu lästern. Im Gegenteil, er hat ihr wohl ziemlich deutlich gemacht, dass er dich weiterhin für einen tollen Menschen hält.“
Paradoxerweise zog dieses Wissen Marco nur weiter runter. Selbstverständlich besaß Erik die Größe, ihm für sein Verhalten zu vergeben. Er selbst konnte es nicht. Würde es vielleicht niemals können.
„Das schien jetzt irgendwie nicht den aufmunternden Effekt zu haben, den ich mir erhofft hatte“, stellte Philipp fest. „Oder bist du so still, weil du gerade innerlich Party feierst?“
„Nein“, gab Marco zu. „Können wir das Thema wechseln? Scusa, ich weiß, ich schließe dich schon wieder aus, aber … Im Moment habe ich nicht das Gefühl, dass darüber reden mich irgendwie weiterbringt. Es tut einfach nur weh.“
„Sorry, das wollte ich natürlich nicht. Wir müssen nicht über Erik sprechen, Hauptsache, du weißt, dass ich ein offenes Ohr habe, falls du es irgendwann willst. Alsooo … Themenwechsel. Ähm, lass mich nachdenken. Oh, ja! Charlotte und ich haben eine Wohnung!“ Philipp lachte über Marcos Jubel hinweg. „Am letzten Maiwochenende dürfen wir einziehen.“
„Sag mir, wann ich wo sein soll, und ob ihr mein Auto braucht.“
„Wir müssen mal sehen, wer alles Zeit hat und wie wir das koordinieren, aber du wärst uns auf jeden Fall eine große Hilfe.“
„Klaro, ist doch selbstverständlich.“
Als sie einige Minuten später auflegten, fühlte sich Marco nach langer Zeit wieder halbwegs wohl mit sich selbst. Er hatte sich mit Manni und Hugo ausgesprochen, jetzt gerade mit Philipp, und mit Drago lief es besser denn je. Der Schmerz, der seit seiner Trennung von Erik tief in seiner Brust saß, blieb zwar unverändert, ebenso wie die Panik, die in ihm hochstieg, wann immer er sich vorstellte, ihm eines Tages gegenüberzustehen – und sei es nur für eine längst überfällige Entschuldigung – doch hier konnte er nur abwarten, ob sich das eines Tages änderte. Und falls nicht, Lernen, damit zu leben.
Marco tauschte sein Handy gegen einen Putzlappen. Eine aufgeräumte Wohnung verhalf ihm meistens zu aufgeräumten Gedanken, außerdem wusste Drago es sicher zu schätzen, bei seiner Rückkehr einen ordentlichen Arbeitsplatz vorzufinden.