Was zuletzt geschah:
Erik ist in Stuttgart. Marco natürlich auch. Wird es endlich zum ebenso ersehnten wie gefürchteten Wiedersehen kommen?
Kapitel 37
Eine Hand an der Türklinke, fischte Marco mit der anderen sein klingelndes Handy aus der Hosentasche. „Ciao, Philipp. Bin unterwegs. Naja, fast. Braucht ihr noch was, das ich auf dem Weg aufgabeln soll?“
„Ehrlich gesagt, ja“, erwiderte Philipp. Trotz der frühen Uhrzeit klang er gestresst, aber das hatten Umzüge Marcos Erfahrung nach leider so an sich. „Bei Charlotte sind kurzfristig zwei Helfer abgesprungen. Wärs okay für dich, wenn du bei ihr hilfst statt bei mir? Wir kommen hier klar, und wenn meine Sachen heute nicht alle rüberkommen, ist das auch kein Problem, aber bei Charlotte wird es eng.“
„Klaro, das ist kein Ding. Dann fahr ich zur WG.“
„Das hilft echt total. Und falls dir jemand einfällt, der spontan noch einspringen kann, wäre das …“ Philipp stieß ein langgezogenes Seufzen aus. „Es würde vielleicht wenigstens dafür sorgen, dass mir nicht noch vor meinem zwanzigsten Geburtstag graue Haare wachsen.“
Sofort flackerte ein Name vor Marcos innerem Auge auf. „Ich kenne jemanden, der auf jeden Fall schon wach ist, den hau ich mal an. Soll ich ihn einfach zur WG mitnehmen?“
„Wäre das Beste, ja. Sag mir Bescheid, wenn du weißt, ob er hilft. Dann warne ich Aisha vor, damit sie sich darauf einstellen kann, dass jemand fremdes vorbeikommt.“
„Wird gemacht. Bis später.“
„Bis dann. Und danke.“
Nach dem Auflegen behielt Marco sein Handy in der Hand und wählte Dragos Nummer. Daniel wäre sicher ebenfalls eine Option gewesen, allerdings nicht um diese Uhrzeit. Er hatte zwar keine Probleme damit, in aller Frühe pünktlich auf der Arbeit zu erscheinen, nutzte das Wochenende jedoch zum Ausschlafen. Bei Drago verspürte Marco hingegen wenig schlechtes Gewissen, zumindest zu fragen.
„Hallo.“
„Ciao. Sorry, dass ich dich so spontan überfalle, aber Freunde von mir ziehen heute um–“
„Ich weiß, das hattest du erzählt.“
„–und bräuchten Unterstützung, weil ihnen ein paar Leute abgesprungen sind. Falls du also noch nichts vorhast, würdest du mir und ihnen echt einen riesigen Gefallen tun, wenn du uns ein paar Stunden helfen könntest. Geht eigentlich nur darum, ein Zimmer auszuräumen. Kartons sind schon gepackt, müssen also bloß noch in den Transporter und halt ein paar Möbel. Dauert sicher nicht länger als bis Mittag.“
„Sag mir, wann ich wo sein soll, und ich komme hin.“
Erleichtert atmete Marco auf. „Grazie.“
„Du hast mir oft genug geholfen. Ich freue mich, mich revanchieren zu können.“
Urgh. Musste Drago alles mit dieser schrecklichen Ernsthaftigkeit sagen, die keinen Zweifel daran ließ, dass er seine Worte exakt so meinte? Marco gefiel nicht, was das mit seinem Herz anstellte. Ihm gefiel nicht, überhaupt darüber nachdenken zu müssen, was sein Herz so trieb.
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Marco begrüßte Drago, der am verabredeten Treffpunkt neben der Bushaltestelle stand, mit einem Winken. „Ciao. Nochmal danke, dass du so spontan einspringst. Und sorry, dass ich dich nicht mit dem Auto abgeholt habe, aber hier ist das Parken so blöd. Da bin ich mit der Stadtbahn glatt schneller.“
„Das ist kein Problem für mich.“ Drago deutete die Straße runter. „Da lang?“
„Sì. Ähm, bevor wir reingehen, gibt es noch eine Sache …“ Wie erklärte Marco, was er zu sagen hatte, ohne Drago, Aisha, oder beiden zu nahe zu treten? „Eine von Charlottes Mitbewohnerinnen, Aisha, wird heute auch helfen und sie hat es nicht so mit Fremden. Die machen sie nervös, vor allem Männer. Sie mag es auch nicht, angefasst zu werden. Also auch sowas wie auf die Schulter tippen, wenn man vorbei möchte. Sprich sie in so einem Fall lieber mit genug Abstand an.“
Drago nickte. „Noch etwas, das ich wissen sollte?“
Marco hätte klar sein sollen, dass Drago das schlicht hinnehmen und respektieren würde. „Ich glaube, das war das Wesentliche. Dann mal rein ins Chaos.“
Ein seltsames Gefühl, zum ersten Mal seit Eriks Auszug die WG zu betreten; Menschen zu treffen, die eine Beziehung in sein Leben gebracht hatte, die gar nicht mehr existierte. Plötzlich war er froh um Dragos Nähe, obwohl dieser bestenfalls moralische Unterstützung leisten konnte. An der Tür begrüßte sie auch gleich Marcos Angstgegner. „Ciao, Charlotte.“
Sie musterte ihn mit verschränkten Armen, anschließend wanderte ihr Blick zu Drago und eine Augenbraue nach oben.
„Philipp meinte, euch fehlen ein paar Helfer“, erklärte Marco. „Drago war so nett, spontan einzuspringen.“
„Hallo“, begrüßte dieser Charlotte in seinem gewohnt neutralen Tonfall. Nicht unhöflich, aber er erweckte auch nicht den Eindruck, sich um jeden Preis Freunde machen zu wollen.
Charlotte musterte ihn kühl. „Danke fürs Helfen, schätze ich. Wie praktisch, dass Marco dich zufällig schon in aller Herrgottsfrühe erreichen konnte.“
„Ich stehe selten nach sieben Uhr auf.“ Nichts an Drago gab preis, ob er die Anspielung registriert hatte.
Marco wartete, bis Charlotte sie mit einem mürrischen ‚Kommt rein‘ ins Innere ließ, bevor er sich zu Drago lehnte. „Scusa. Charlotte ist eine von Eriks engsten Freundinnen. Ich fürchte, sie nimmt mir die Trennung immer noch krumm.“
„Sie denkt, wir schlafen miteinander. Was wir tun.“
„Sie hätte dasselbe gesagt, wenn ich mit Daniel hier aufgetaucht wäre.“ Daran bestand für Marco kein Zweifel, dennoch hätte er damit rechnen und Drago vorwarnen müssen, zumal Philipp bereits vor Monaten einen ganz ähnlichen Kommentar abgegeben hatte.
Dragos Brauen zogen sich zusammen und für einen Moment sah es aus, als wollte er mehr sagen, doch eine leise Stimme unterbrach ihn.
„Hallo, Marco.“
Marco drehte sich zu der zierlichen Gestalt, die ihn angesprochen hatte. Dunkles Haar, dunkle Augen und ein Pullover, so groß, dass sie darin zu verschwinden drohte. Unwillkürlich lächelte er. Sie hatten sich viel zu lange nicht gesehen. „Ciao, Aisha. Wie geht’s dir?“
„Ganz okay. Und dir?“ Aisha sprach nie laut, doch heute hatte Marco Schwierigkeiten, sie überhaupt zu verstehen. Sie schien mehr darauf konzentriert, nicht in Dragos Richtung zu starren.
„Auch, auch. Das ist übrigens Drago, ein sehr guter Freund von mir“, stellte Marco ihn vor. „Philipp hat dir gesagt, dass er uns heute hilft?“
„Hat er. Hi.“
„Hallo.“ Drago passte seine Lautstärke Aishas an und verlieh seiner Stimme eine Milde, die Marco nie zuvor bei ihm gehört hatte. Nicht nur das, er blieb einen guten Schritt hinter Marco, die Schultern gerundet, den Kopf nach vorne geneigt. Er machte sich klein. Naja, kleiner. „Wo bin ich am hilfreichsten?“
Aisha taute nicht vollends auf, das wäre vermutlich zu viel erwartet gewesen, aber immerhin schien sie sich weniger unwohl zu fühlen als zwei Minuten vorher. „Charlottes Zimmer ist das erste auf der rechten Seite. Ihre Sachen sind soweit zusammengepackt, aber die Möbel müssen noch abgebaut werden. Das Bett kommt weg, den Rest nehmen sie mit in die neue Wohnung. Der Kleiderschrank ist ziemlich sperrig, vielleicht könntet ihr mit dem anfangen? Und uns dann bei den schwereren Kartons helfen, wenn Ben mit dem Umzugswagen da ist?“
„Klaro, kein Problem“, sagte Marco.
„In der Küche sind Getränke und was fürs Frühstück, da könnt ihr euch jederzeit bedienen.“ Sie nickte zu Marco. „Du kennst dich ja in der Wohnung aus.“
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Der Vormittag verlief in einträchtiger Schufterei, bei der sich herausstellte, dass Marco und Drago ein ziemlich gutes Team abgaben. Beide brachten handwerkliche Erfahrung mit – offenbar hatte Drago neben Schule und Uni jahrelang auf dem Bau gejobbt, bevor er seinen heutigen Studentenjob in einem Architekturbüro ergattern konnte – und besaßen ein Gespür dafür, was der jeweils andere gerade brauchte.
Da sie so deutlich schneller vorankamen, als Marco ursprünglich zu hoffen gewagt hatte, gönnten sie sich eine kurze Pause, in der sie sich in der Küche mit Wasser und belegten Broten versorgten.
„Wie läuft es mit deiner Abschlussarbeit?“, erkundigte sich Marco.
Kritisch beäugte Drago eines der bereitgestellten Brötchen. „Ich liege wieder in meinem Zeitplan.“
„Das ist doch prima. Daniel hat mir diese Woche übrigens erzählt, dass Patrick wohl eine neue Wohnung hat?“
„Hat er mir auch gesagt. Wenn sich nichts mehr ändert, zieht er Ende nächsten Monats aus.“ Nach eingehender Inspektion wählte Drago eines der Brote aus und knabberte skeptisch daran. „Hoffentlich tut er es. Mein Onkel spricht es mir gegenüber nicht aus, aber ich habe den Eindruck, er ist froh, wenn ich seine Wohnung nicht länger als unbedingt nötig belagere.“
„Du freust dich doch sicher auch darauf, dein eigenes Zimmer zurückzubekommen.“
Ein schmales Lächeln zeigte sich auf Dragos Lippen. „Das auch.“
Kurze Zeit später fuhr Ben, einer der für die WG zuständigen Sozialarbeiter, mit dem Umzugswagen vor, woraufhin Marco und Drago die folgende Stunde damit verbrachten, die Möbel und Kartons die Treppen runterzuschleppen. Anfänglich irritierten Marco Dragos unerwartete Pausen, in denen er abrupt stehenblieb oder nicht kam, wenn Marco ihn rief, obwohl er sich offensichtlich weder außer Hörweite befand noch anderweitig beschäftigt war. Bis Marco den Grund dafür bemerkte.
Drago achtete penibel darauf, Aisha nicht in eine Ecke zu drängen. Betrat sie einen Raum, stellte er sicher, ihr nicht den Weg zur Tür zu versperren. Steuerten sie beide auf eine Engstelle zu, wartete er ab, bis sie sie passiert hatte, damit sie mit ausreichend Abstand aneinander vorbeikamen. Und als sie ihn von sich aus bat, ihr eine Aufbewahrungsbox vom obersten Regal in der Küche zu reichen, huschte ein Ausdruck über sein Gesicht, den Marco so selten zu sehen bekam, dass er sich schwer tat, ihn korrekt zu interpretieren.
Trotz dieser Verzögerungen füllten sie den Umzugswagen in Rekordzeit. Schnaufend wischte sich Marco den Schweiß aus der Stirn. „So, Drago bringt gleich noch einen Karton und dann dürfte es das gewesen sein.“
Neben ihm zückte Charlotte ihr Handy. „Ich gebe Philipp Bescheid, dass sie bald Arbeit kriegen.“ Flink flogen ihre Finger über die Tasten, anschließend schob sie das Handy zurück in ihre Hosentasche und warf Marco einen mürrischen Blick zu. „Danke, übrigens. So ätzend ich’s finde, das zuzugeben, aber ihr wart ne echt große Hilfe, du und dein …“
„Ein Freund“, stellte Marco klar. „Einfach nur ein Freund.“ Ja, ja, das mochte nicht völlig der Wahrheit entsprechen, doch das ging Charlotte absolut nichts an.
Zu Marcos Überraschung akzeptierte sie das. „Ist ja gut, ich hab’s kapiert. Jedenfalls danke.“
Ben erlöste die beiden, indem er sich zu ihnen gesellte. „Soll ich dich mit zur neuen Wohnung nehmen?“
„Nee“, antwortete Charlotte. „Ich will das alte Zimmer gleich rausputzen, keinen Bock das später zu machen. Philipp hat drüben alles im Griff, und ich komme nach, wenn ich hier fertig bin.“
„Dass du mal freiwillig dein Zimmer aufräumst, hätte ich auch nie gedacht.“
„Alles, um hier wegzukommen.“
Marco hätte sich Sorgen gemacht, hätten nicht sowohl Charlotte als auch Ben während ihres Schlagabtauschs ein fettes Lächeln im Gesicht gehabt. „Soll ich stattdessen noch mitfahren?“, fragte er. „Oder seid ihr drüben eh vollzählig?“
„Nee, da ist uns auch jemand abgesprungen“, erwiderte Charlotte. „Würde nicht schaden, wenn noch jemand da ist, der halbwegs weiß, was er tut.“
Drago, der eben aus der Haustür trat, um den letzten Karton zu verstauen, musste ihr Gespräch gehört haben. „Falls ihr dringend meine Hilfe braucht, kann ich ebenfalls länger bleiben“, bot er an.
Charlotte schüttelte den Kopf. „Lass dir von uns nicht den Samstag versauen. War schon mega, dass du überhaupt so spontan eingesprungen bist.“
Drago wirkte überrascht, vermutlich, weil sie sich ihm gegenüber zum ersten Mal einigermaßen zivilisiert verhielt, nahm ihre Ansage aber mit einem Nicken hin.
Charlotte verschwand zurück ins Haus, dicht gefolgt von Ben, was Drago und Marco einen Moment zu zweit bescherte.
„Sorry, dass dich Charlotte heute so angezickt hat“, sagte Marco. „Und für ihre Andeutungen, zwischen uns würde was laufen. Ich habe nicht nachgedacht. Ich hätte wissen müssen, dass es Gerüchte gibt, wenn ich dich mitbringe.“
„Hast du jemandem von uns erzählt?“
„Ich hoffe, du weißt, dass ich das nie tun würde.“
„Dann trifft dich kaum Schuld an ihrem Verhalten.“
„Naja …“ Marco fuhr sich durchs Haar. „Nicht direkt, aber mal abgesehen von der Arbeit bin ich seit Jahren in meinem gesamten Umfeld geoutet, und selbst dort ist das eher so eine ‚Don’t ask, don’t tell‘-Nummer. Das bringt leider mit sich, dass mir bei so ziemlich jedem Typen, mit dem ich einigermaßen regelmäßig Zeit verbringe, gerne mal unterstellt wird, was mit ihm am Laufen zu haben. Vor allem jetzt nach meiner Trennung von Erik. Ich hab’s ja vorhin schon gesagt, hätte ich heute Daniel mitgebracht, hätte Charlotte genau denselben Kommentar gebracht. Das hatte ich bisher einfach nicht bedacht.“
„Ich schon.“ Drago begegnete Marcos perplexem Blick mit Verständnislosigkeit. „Hast du wirklich geglaubt, ich würde nicht einkalkulieren, welche Risiken eine Freundschaft mit dir birgt?“
Autsch. Bedeutete das, Drago würde Marco wegwerfen, sobald das Risiko seiner Meinung nach den Nutzen überstieg?
Falls ja, sollte Marco gut darüber nachdenken, ob er seinem eigenen Wohlergehen zuliebe nicht lieber hier und jetzt einen Schlussstrich zog. So sehr er Drago zugestand, den Zeitpunkt für sein Comingout selbst zu wählen, wollte er weder gezwungen sein, seine Sexualität zu verleugnen, noch mit der permanenten Angst leben, von einem Moment auf den nächsten weggeworfen werden.
Als hätte Drago Marcos Gedanken erahnt – und möglicherweise stimmte das sogar, er konnte erstaunlich empathisch sein – fügte er hinzu: „Mir ist bewusst, dass die einzige logische Konsequenz wäre, den Kontakt mit dir abzubrechen. Das heißt, eigentlich hätte ich es gar nicht erst so weit kommen lassen dürfen. Aber unsere …“ Er zögerte und setzte neu an. „Alles, was zwischen uns ist, ist mir wichtig. Wichtig genug, um dafür gewisse Risiken einzugehen.“
Es war Dragos Blick, der Marco von dessen Aufrichtigkeit überzeugte. Ernst, offen und ein wenig traurig. Drago kämpfte und Marco wollte es ihm nicht schwerer machen als unbedingt nötig. Er hatte die Bedingungen von Anfang an gekannt, nun plötzlich dagegen zu rebellieren, erschien ihm nicht fair.
Daher fragte er schlicht: „Sehen wir uns nächste Woche? Vielleicht hat Daniel ja auch mal wieder Bock auf eine Runde Karten. Ist doch Quatsch, das gar nicht mehr zu machen, wenn wir uns einfach bei mir treffen können, solange Patrick noch in der WG wohnt. Oder, äh, ohne Daniel, nur wir beide, einfach nur so?“ Porco dio, er klang wie ein Schulmädchen, das zum ersten Mal mit ihrem Schwarm sprach. Umso schlimmer, dass er sich so fühlte.
Drago nickte. „Ich treffe mich nächstes Wochenende mit einer Kommilitonin und muss noch mit ihr abklären, wann genau sie Zeit hat. Sobald ich das weiß, melde ich mich bei dir.“ Er hob die Hand zum Abschied. „Wir sehen uns.“
„Jo, bis dann.“ Gedankenverloren starrte Marco auf die leere Stelle an der Straße, die Drago zurückgelassen hatte, bis Ben ihn – seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, nicht zum ersten Mal – fragte, ob sie aufbrechen konnten.
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Als Ben den Umzugswagen vor der Haustür zur neuen Wohnung parkte, erwartete Philipp sie bereits an der Bordsteinkante. „Etwas früher als geplant“, sagte Ben, nach dem Aussteigen. „Das Team drüben ist ziemlich gut vorwärtsgekommen.“
„Charlotte hat mich schon vorgewarnt. Passt aber gut, wir haben eben die erste Fuhre aus meinem Zimmer rübergebracht und der Rest von meinem Kram kann ein paar Tage warten. Geh ruhig schonmal hoch und sag den anderen, dass sie runterkommen sollen.“
Marco wollte Ben folgen, doch Philipp stoppte ihn mit einer Hand an seiner Brust.
„Du weißt, dass Erik oben ist?“
Wie bitte? Was zur Hölle machte Erik ausgerechnet an diesem Wochenende in Stuttgart? Die Antwort war offensichtlich: Seinen Freunden beim Umzug helfen. „Das hat Charlotte mir nicht gesagt. Wenn … wenn es ein Problem für ihn ist, dass ich mithelfe, dann gehe ich wieder.“
„Es ist kein Problem für ihn“, stellte Philipp klar. „Das haben wir schon geklärt.“
„Na, dann ist doch alles bestens.“ Marco machte Anstalten einen Schritt nach vorne zu treten, aber Philipp hielt ihn weiterhin zurück.
„Ich frage nicht für ihn, sondern für dich.“
„Oh.“ Marco öffnete den Mund, um zu versichern, dass es für ihn selbstverständlich ebenfalls kein Problem darstellte, Erik über den Weg zu laufen, doch seine Stimme versagte. Egal, wie lange ihre Trennung zurücklag, der Gedanke an ein Wiedersehen beschleunigte seinen Puls, bis er fürchtete, sein Herz würde jeden Moment aus seinem Hals klettern. Wie satt er es hatte, dieser Angst ständig nachzugeben! „Ist okay. Das kriege ich hin.“
Philipp musterte ihn einige Sekunden prüfend, bevor er seine Hand von Marcos Brust nahm und ihn passieren ließ. Tiefe Dankbarkeit erfüllte Marco, einen Freund zu haben, der anerkannte, dass auch er unter der Trennung gelitten hatte, obwohl er selbst sich das oft genug nicht eingestehen wollte.
Gemeinsam stiegen sie die Treppen nach oben in die Höhle des Löwen.
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Marcos erste Begegnung mit Erik ging denkbar unspektakulär vonstatten. Sie liefen sich im Treppenhaus über den Weg, Marco einen Umzugskarton in den Händen, Erik gerade dabei, sich unten einen neuen zu organisieren. Marco blieb wie angewurzelt stehen, während sich Erik mit einem flüchtigen Lächeln und gemurmelten „Hey“ an ihm vorbeischob, als wären sie oberflächliche Bekannte. Dann trabte er weiter die Treppen herab, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Natürlich rannten sie danach immer wieder ineinander, wenig verwunderlich in dieser kleinen Wohnung, die Philipp und Charlotte in Zukunft ihr Zuhause nennen durften, doch das Muster blieb dasselbe. Sie begegneten sich, ein kurzer Blickkontakt entstand, und Erik schenkte Marco ein schmales Lächeln, das dieser zu erwidern versuchte. Egal wie oft das passierte, es wollte nicht einfacher werden, und Marco machte drei Kreuze, als der letzte Karton nach oben geschleppt und das letzte Möbelstück aufgebaut war.
„So.“ Er verstaute den Akkuschrauber. „Der Schrank steht. Wenn es sonst nichts mehr gibt, dann werde ich‘s packen.“
„Schon?“, fragte Philipp überrascht. „Wir wollten jetzt eigentlich Pizza bestellen und auf den Tag anstoßen.“
„Scusa, aber ich bin total platt. Muss nachher auch noch einkaufen gehen.“ Das entsprach zur Hälfte der Wahrheit, wobei sie beide wussten, dass es Marco normalerweise nicht davon abhielt, Zeit mit seinen Freunden zu verbringen. Auf die Aussicht, in gemütlicher Runde mit Erik zusammenzusitzen, ohne die geringste Idee, wohin er schauen und was er erzählen sollte – am Ende brachte vielleicht noch jemand Drago zur Sprache – verzichtete er allerdings. „Ich komme aber gerne mal so vorbei, wenn ihr euch ein bisschen eingelebt habt.“
Philipp überspielte die Enttäuschung, die kurzzeitig über sein Gesicht flackerte, mit einem Lächeln. „Du bist auf jeden Fall herzlich eingeladen. Äh, sag mal, können wir dich anrufen, falls wir noch bei irgendwas Hilfe brauchen sollten?“
„Klaro, jederzeit!“ Marco verabschiedete sich von Philipp und Charlotte, die zwischenzeitlich ebenfalls in der neuen Wohnung eingetroffen war, mit einer Umarmung, und vom Rest mit einem knappen Winken, ohne dabei irgendjemandem – und im Speziellen Erik – besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Draußen nutzte er den Weg zu Bushaltestelle, um seine Gedanken zu klären.
Es hätte schlimmer kommen können. Weder hatte Marco einen Herzstillstand erlitten noch Erik ihm gehörig den Kopf gewaschen, obwohl Marco nach wie vor davon überzeugt war, genau das verdient zu haben. Schon allein deshalb wünschte er sich, er hätte zwischenzeitlich genug Ruhe und Eier in der Hose gefunden, um sich bei Erik zu entschuldigen.
Stattdessen stand er sich nun an der Haltestelle die Beine in den Bauch – den letzten Bus hatte er uneinholbar an sich vorbeifahren sehen – zu hibbelig, um auf der leeren Bank Platz zu nehmen. Sehnsüchtig starrte er die Straße hinunter, in der unbegründeten Hoffnung, der nächste Bus käme wie durch ein Wunder deutlich zu früh in Sichtweite.
„Hey.“
Marco fuhr herum, aufgeschreckt durch die schmerzhaft vertraute Stimme. „Äh, hi. Warum bist du nicht bei den anderen, Pizza essen?“
„Ich bin nachher bei meiner Tante eingeladen. Sofern ich dort nicht vollgefressen und komplett verschwitzt auftauchen möchte, und ich weiß genau, was sie dazu zu sagen hätte, muss ich jetzt zurück ins Hotel.“ Erik musterte Marco, den Kopf geneigt, eine Braue nach oben gezogen und den Anflug eines Lächelns auf den Lippen. „Ist es dir lieber, wenn wir uns ignorieren?“
„Was? Nah, alles gut.“
Aber natürlich durchschaute Erik ihn. Sein Lächeln verflog und machte Platz für diese Ernsthaftigkeit, die ihn innerhalb einer Sekunde um Jahre altern ließ. „Das war kein Scherz. Nicht nur, jedenfalls. Wenn du noch nicht so weit bist, ist das in Ordnung.“
Bist du denn so weit? Doch tatsächlich wirkte Erik gefasst und nicht auf diese brüchige Art, bei der eine Eisschicht den reißenden Strom an Emotionen darunter überdeckte. „Ist schon okay“, murmelte Marco verlegen.
„Ja? Dann … wie geht’s dir?“ Erik lachte leise. „Ah, Himmel. Es ist lange her, dass ich dich das gefragt habe.“
„Ist ja nicht so, als hätten wir uns in letzter Zeit gesehen.“
„Nein“, gab Erik zu. „Aber selbst als wir noch zusammen waren, warst immer du derjenige, der sich um mich gekümmert hat, nicht andersrum.“ Er rieb sich über die Augen. Porco dio, weinte er etwa?
„Alles okay?“, fragte Marco alarmiert.
Anstatt zu schniefen, lachte Erik. „Siehst du, genau das meinte ich.“
„Erik …“
„Ich heule nicht“, stellte dieser klar. Er richtete sich auf und nahm die Hände vom Gesicht. „Das ist nur, weil, ah …“ plötzlich wirkte er verlegen. „Ich habe mich noch nicht an meine neuen Kontaktlinsen gewöhnt.“
„Seit wann trägst du Kontaktlinsen?“
„Zwei Wochen, ungefähr. Du erinnerst dich an meine ständigen Kopfschmerzen?“
„Sì.“
„Neulich bin ich deshalb endlich mal zum Arzt gegangen, und wie sich herausgestellt hat, bin ich kerngesund, nur meine Augen brauchen etwas mehr Unterstützung.“
„Oh. Naja, ich meine … gut, dass es nichts Schlimmes ist.“
„Mhm. Ich habe es zuerst mit einer Brille versucht, das heißt, zuhause trage ich sie immer noch, weil die Linsen auf Dauer anstrengend werden, aber wenn ich mich unter Menschen zeige, dann lieber ohne irgendwas im Gesicht.“
„Jetzt machst du mich echt neugierig, wie du mit Brille aussiehst. Du hast nicht zufällig ein Foto?“ Wenn Eriks Eitelkeit das zuließ, fraß Marco einen Besen.
„Nur über meine weitsichtige Leiche.“
Schallendes Gelächter platzte aus Marco hervor. Exakt diese Antwort hatte er erwartet.
„Pff. Schön, dass sich wenigstens einer von uns über mein Unglück amüsieren kann.“
Erik hatte es nicht böse gesagt, im Gegenteil schmunzelte er sogar, dennoch holte sein Kommentar Marco zurück auf den Boden. Es gab etwas, das er dringend tun musste und das hier könnte seine einzige Gelegenheit dafür sein. „Erik, ich schulde dir eine fette Entschuldigung und ich weiß, dass sie Monate zu spät kommt.“
„Entschuldigung angenommen.“
„Du weißt doch noch überhaupt nicht, wofür ich mich entschuldigen will!“, protestierte Marco.
„Dafür, dass du dich von mir getrennt hast. Dafür, dass du mich gebeten hast, an Weihnachten nicht ins Tässchen zu kommen.“ Erik zählte die einzelnen Punkte an seinen Fingern ab. „Dafür, dass du mich traurig gemacht hast, obwohl du geschworen hattest, immer auf mich achtzugeben. Habe ich was vergessen?“
„Äh–“
„Dachte ich mir. Also, Entschuldigung angenommen. Hauptsächlich, weil ich nicht denke, dass sie überhaupt nötig ist, aber so wie ich dich kenne, wirst du ohne nicht glücklich.“
Verdattert starrte Marco Erik an. „Warum …?“
„Warum ich dir nicht böse bin? Marco, wir–“
Der einfahrende Bus unterbrach Erik, doch weder er noch Marco machten einen Schritt darauf zu.
„Du musst auch zur Stadtbahn, oder?“, fragte Erik.
„Sì.“
„Wollen wir das Stück einfach laufen?“
Erleichtert nahm Marco diesen Vorschlag an und wandte sich von der Bushaltestelle ab. Er zog es definitiv vor, so ein Gespräch nicht umringt von Fremden zu führen. „Ich glaube, du wolltest mir gerade erklären, warum ich ein Idiot bin.“
„Ah, stimmt. Wollte ich.“ Erik holte Luft. „Du hast mich verletzt. Natürlich hast du das. Das macht dich aber nicht zu einem schlechten Menschen und ich sehe auch ehrlich nicht, was du hättest anders machen können.“
„Dich nicht verletzen, zum Beispiel?“
„Indem du an einer Beziehung festhältst, die dich offensichtlich nicht mehr glücklich gemacht hat?“, fragte Erik und schaffte es, dabei fast schon amüsiert zu klingen. „Ich bin ganz ehrlich, unsere Trennung hat mir das Herz rausgerissen, aber jetzt, mit dem nötigen Abstand, ist mir völlig klar, dass sie die einzig richtige Entscheidung war.“
Marco hatte die Zeit, in der Erik sprach, genutzt, um, naja, ihm zuzuhören, natürlich, aber darüber hinaus, um ihn eingehend aus dem Augenwinkel zu betrachten. Den Rücken gerade, die Hände in den Hosentaschen – was nicht bedeutete, dass Marco die dunkelblau lackierten Fingernägel zuvor nicht bemerkt hatte – lief er neben Marco. Sein langes, weizenblondes Haar hatte er in seinem Nacken zu einem ordentlichen Knoten gebunden und goldene Bräune zeigte sich auf seiner Haut, gerade ausgeprägt genug, um erste Sommersprossen auf Nase und Wangen hervorzukitzeln. Anstelle eines Hemds, dessen Ärmel er je nach Bedarf nach oben oder unten krempeln konnte, trug er ein schlichtes T-Shirt, augenscheinlich desinteressiert, ob jemand seine Narben bemerkte. Er sah gut aus. Entspannt und in sich ruhend.
„Und was Weihnachten angeht“, sprach Erik weiter, als Marco die Gelegenheit für eine Antwort hatte verstreichen lassen, „auch das tat weh. Hat sich im ersten Moment angefühlt, als hättest du mir meinen kompletten Freundeskreis weggenommen.“
„Tut mir leid“, murmelte Marco betroffen.
„Die Sache ist, dass das gar nicht stimmt. Es mag meine Wahrnehmung gewesen sein, aber nicht die Realität. Aisha und Charlotte sind noch immer meine Freundinnen, und ich wage jetzt einfach mal zu behaupten, dass Philipp mich fairer behandelt als Charlotte dich.“
„Das will ich hoffen“, erwiderte Marco. „Andernfalls muss ich echt mal mit ihm quatschen.“
Erik lachte. „Dachte ich mir. Und keine Sorge, ich kläre das auch nochmal mit ihr. Ich möchte nicht, dass da irgendwelche Grabenkämpfe entstehen. Jedenfalls … ausnahmslos alle waren absolut lieb zu mir und nicht ein einziger hat mir das Gefühl gegeben, ah, mich nicht um meinetwillen zu mögen, verstehst du? Ich hatte wohl immer Angst, nur dein Anhängsel zu sein, das man akzeptiert, aber nicht vermisst, wenn es weg ist.“
„So ein Nonsens!“
„Inzwischen wird mir das auch bewusster, aber vor ein paar Monaten … Sagen wir, ich hatte schon bessere Phasen.“
Und das alles wegen mir. Erik konnte noch so oft wiederholen, dass er Marco verzieh, Marco hätte ihn niemals so behandeln dürfen.
„Ah, shit, jetzt habe ich dir schon wieder Schuldgefühle eingeredet, was? So war das nicht gemeint. Was ich eigentlich sagen wollte war, dass unsere Trennung zwar wehgetan hat, sie das aber nicht zu einer falschen Entscheidung macht. Im Gegenteil, sie war dringend nötig und ich bin sehr dankbar, dass du die Stärke besessen hast, sie zu treffen. Und Weihnachten hat auch wehgetan, aber ich glaube fest daran, dass du mich nicht gebeten hättest, wegzubleiben, wenn es für dich nicht wichtig gewesen wäre.“ Erik bog von der Hauptstraße in eine Seitenstraße ab.
„Ich hätte einen besseren Weg finden müssen, um damit umzugehen“, murmelte Marco.
„Nein, hättest du nicht. Marco, du hast genauso ein Recht auf deine Gefühle wie jeder andere. Es ist nicht richtig, dass du anderen zuliebe ständig zurücksteckst. Dass du lächelst, nickst und mit den Schultern zuckst, als wäre alles kein Problem, wenn es eben doch ein Problem ist. Du hattest an Weihnachten nicht die Kraft mich zu sehen und das ist in Ordnung.“
Erik sprach selten laut und auch jetzt hob er seine Stimme kaum, doch die Intensität darin überzog Marcos Arme mit Gänsehaut. Erik stand hinter dem Gesagten. Er verteidigte Marco, sogar vor ihm selbst. Es genügte nicht völlig, Marco von seinen Schuldgefühlen zu befreien, dennoch nahm es ihm eine Last von den Schultern, an die er sich bereits so gewöhnt hatte, dass er ihre Existenz erst realisierte als sich ihr Gewicht plötzlich auflöste.
„Außerdem“, fuhr Erik fort, „war es eine wichtige Lektion für mich, dass ich Freunde habe, die nicht von meiner Beziehung mit dir abhängen. Diese Erkenntnis hat mir tatsächlich ziemlich gutgetan.“
„Also … bist du okay?“, fragte Marco vorsichtig. „So insgesamt, meine ich?“
Erik wackelte mit der Hand, als wäre sie eine Waage, die von einer Seite auf die andere kippte. „Mal so, mal so.“ Er lächelte. „Die guten Tage überwiegen die schlechten aber deutlich. Was mich zu meiner ursprünglichen Frage zurückbringt. Wie geht es dir?“
„Mal so, mal so“, konterte Marco und wurde dafür prompt mit kühlen Augen und einer hochgezogenen Braue abgestraft. „Okay, okay. War ein Witz. So halb. Es ist viel Gutes passiert, seit … seit unserer Trennung, und einiges, auf das ich hätte verzichten können. Giulia und Giovanni ziehen wohl nach Italien. Er hat seinen Job hier verloren und könnte dort bei einem Verwandten einsteigen. Wahrscheinlich weißt du das aber eh schon.“ Zwischen Erik und Giulia hatte es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gegeben.
„Woher sollte ich das wissen?“
„Hat sie dir das nicht erzählt? Ihr redet doch bestimmt miteinander?“ Marco dämmerte die Wahrheit, bevor Erik sie aussprach. „Jetzt sag nicht, dass ihr seit unserer Trennung keinen Kontakt mehr habt?“
„Ich war mir nicht sicher, was sie davon halten würde, wenn ich mich bei ihr melde“, erwiderte Erik betreten. „Am Ende hätte sie noch gedacht, dass ich versuche, über sie an dich ranzukommen. In diese Zwickmühle wollte ich sie nicht bringen.“
Und vermutlich hatte sich Giulia nicht bei Erik gemeldet, weil sie weder ihm auf die Nerven gehen noch unwissentlich in Marcos Rücken fallen wollte. Cazzo. „Also weiß sie auch gar nicht, dass du aktuell in Stuttgart bist?“
Erik schüttelte den Kopf.
„Sag es ihr. Ich weiß, dass sie sich total darüber freuen würde, von dir zu hören.“
„Ja? Meinst du?“
„Klaro!“
Erik lächelte, so offen und unverfälscht, dass Marco für einen Moment fürchtete, das Herz würde ihm brechen. Dann zogen sich Eriks Brauen zusammen, bis sich eine schmale Furche zwischen ihnen bildete. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie es dir geht!“
„Habe ich nicht?“
„Nein!“
„Naja, eigentlich doch, oder? Die meiste Zeit ganz okay.“
„Und in den Zeiten, in denen es nicht ‚ganz okay‘ ist?“
„Die überstehe ich auch. Ich glaube nur, ich muss mir einen neuen Job suchen.“ Oha, wo war das denn hergekommen? Und dann ausgerechnet Erik gegenüber. Andererseits gehörte er vermutlich zu den Leuten mit dem tiefsten Einblick darin, wie sehr Marco seinen Job und insbesondere seinen Chef manchmal hasste.
Und … es fühlte sich gut an, endlich auszusprechen, was seit Monaten in ihm gärte. „Ich war ja schon lange nicht mehr richtig zufrieden da, und das ist in letzter Zeit eher schlimmer als besser geworden. Wird sich aller Voraussicht nach auch nicht so schnell ändern. Keine Ahnung, so einen richtigen Plan habe ich noch nicht. Wenn ich mir einfach nur eine andere Firma suche, fange ich halt wieder ganz unten an und wer weiß, ob die am Ende nicht sogar noch schlimmer sind. Ich dachte, ich könnte vielleicht …“
„Du könntest vielleicht was?“, hakte Erik sanft nach, als Marco den Satz unbeendet auslaufen ließ.
„Ich dachte, ich könnte vielleicht meinen Meister machen.“ Unwillkürlich zog Marco die Schultern hoch. Zu gut erinnerte er sich an die Vorwürfe, die er Erik gemacht hatte, nachdem dieser exakt das einmal vorgeschlagen hatte. Er hatte ihm vorgeworfen, keinen Respekt vor Marcos derzeitigem Job zu haben; ihn als unter seiner Würde zu empfinden. Und nun, wenige Monate später, sprach Marco selbst davon, sich weiterbilden zu wollen.
„Ich denke, dass das eine richtig gute Idee ist“, sagte Erik, ohne jede Spur von Häme oder Sarkasmus. „Hast du schon einen Plan, ab wann du starten willst?“
„Nah. Muss erstmal das Finanzielle abklären. Bin fast aus allen Wolken gefallen, als ich mir mal die Kosten für die Lehrgänge angeguckt habe. Prüfung kommt noch obendrauf. Und ich weiß nicht, ob ich es packe, nebenbei auch noch Vollzeit zu arbeiten, also müsste ich den Gehaltsverlust einkalkulieren. Dauert mindestens noch ein Jahr, bis ich mir das auch nur ansatzweise leisten kann und selbst dann vielleicht nur mit Kredit. Was ich eigentlich nicht will.“
„Würdest du doch nur einen reichen Erben kennen, der gar nicht weiß, wohin mit seinem ganzen Geld.“
„Erik, nein.“
„Muss ja kein Geschenk sein, wir können das auch als zinsfreien Kredit aufsetzen.“ Erik musterte Marco aus dem Augenwinkel. „Ich will mich dir nicht aufdrängen“, stellte er klar. „Mir ist durchaus bewusst, dass es möglicherweise nicht die beste Idee ist, Geld in unsere ohnehin, ah, herausfordernde Situation zu bringen. Ich bin nur überzeugt, dass du richtig gut bist in dem, was du tust. Deshalb fände ich es schade, wenn es am Ende am Finanziellen scheitern sollte. Denk also einfach über mein Angebot nach, ja?“
Dusslig vor Rührung, hätte Marco Erik beinahe fest an sich gedrückt. Zum Glück konnte er sich im letzten Moment zusammenreißen. Die Sehnsucht, ihn in die Arme zu schließen, blieb jedoch. „Grazie. Wirklich. Ich … ich will erstmal selbst sehen, dass ich das hinbekomme, aber dass du es mir anbietest, dass du an mich glaubst, bedeutet mir echt viel.“ Er fuhr sich durchs Haar. „Du hast mir gefehlt, weißt du?“
Porco dio, Marco hätte sich ohrfeigen können! Was zur Hölle hatte er sich dabei gedacht, das laut auszusprechen? Erst trennte er sich von Erik, dann unterband er jeden Kontakt und jetzt jammerte er deshalb? Wie heuchlerisch konnte er bitte sein?
„Du hast mir auch gefehlt“, erwiderte Erik ohne hörbaren Ärger, aber mit einer guten Portion Melancholie. „Vor unserer Beziehung waren wir Freunde. Denkst du, wir könnten wieder dahinkommen?“
Marco schluckte die Emotionen herunter, die seinen Hals verstopften. „Das hoffe ich sehr.“ Schweigend liefen sie die Straße hinunter, die warme Frühlingssonne durchbrochen vom Schatten hoher Häuser und im prächtigen Grün erstrahlender Bäume. Bald würden sich ihre Wege wieder trennen, hoffentlich jedoch nicht erneut für Monate und mit zahllosen durchwachten Nächten. Sanft stupste Marco mit seiner Schulter gegen Eriks Oberarm. „Erzähl mir, was du in letzter Zeit so getrieben hast.“
„Studiert, hauptsächlich. Das heißt …“ Erik neigte den Kopf, als müsste er seinen eigenen Erinnerungen lauschen. „Ein bisschen mehr als das habe ich schon getan.“
Mit heruntergeklapptem Kiefer erfuhr Marco von Eriks Job in einem Berliner Club, der ihm ehrlich zu gefallen schien, von dem Yogakurs, für den er sich schon kurz nach seinem Umzug hatte anmelden wollen, und nun endlich die Zeit und Muse gefunden hatte, und von seinen Versuchen, das für ihn angenehmste Schwimmbad der Stadt zu finden.
Zum Abschluss erzählte Erik von den Kuchenrezepten, die er ausprobierte, um anschließend seine Kollegen im Club damit zu erfreuen und seinem Sauerteigansatz ‚Gary‘, den er fleißig fütterte, um Brot und Brötchen zu backen. „Nur kochen kann ich immer noch nicht richtig“, gab er am Ende verschämt lachend zu. „Neulich habe ich deine Tomatensoße versucht und bin komplett gescheitert. Also, nicht dass sie ungenießbar war, sie war nur nicht richtig.“
„Ich sag dir was“, erwiderte Marco. „Wenn du es das nächste Mal versuchst, klingelst du bei mir durch, und ich leite dich per Telefon an. Wie klingt das?“
„Wie ein Angebot, das ich gerne annehmen würde. Ah, weil wir gerade beim Thema ‚Gefallen‘ sind. Darf ich dich um einen weiteren bitten?“
„Klaro! Um was geht’s?“
„Würdest du mir vielleicht den Schlüsselanhänger zurückgeben? Den, den du damals für mich geschnitzt hast? Ist mir ein bisschen peinlich, darum zu bitten, immerhin habe ich ihn dir zurückgeschickt, aber …“
„Klaro bekommst du den zurück“, versicherte Marco sofort. „War ja schließlich ein Geschenk an dich. Wenn das okay für dich ist, würde ich ihn davor nur noch etwas aufpolieren. Er sieht schon arg abgenutzt aus.“
Zur Antwort erhielt er ein strahlendes Lächeln und das Gefühl, innerhalb weniger Minuten mehr Ballast aus der Welt geschafft zu haben als in den langen Wochen davor.
Nach einer weiteren Abbiegung kam die Haltestelle der Stadtbahn in Sicht.
„Du musst Richtung stadtauswärts, oder?“, fragte Erik.
„Sì. Du in die andere Richtung?“
„Mhm.“
„Dann … sollten wir uns wohl hier verabschieden.“
Einen Augenblick lang standen sie sich gegenüber, beide offensichtlich verunsichert, dann breitete Erik die Arme aus und Marco folgte seiner wortlosen Einladung. Der Körper, der sich an ihn schmiegte, fühlte sich stärker an als in seiner Erinnerung. Größer und weniger zart. Möglicherweise hatte Erik in den vergangenen Monaten mehr trainiert. Möglicherweise hatte sich Marcos Wahrnehmung verändert. So oder so … Er fühlte sich nicht länger an wie der Junge, in den sich Marco einst verliebt hatte.
Fest pressten sie sich aneinander, Erik die Nase in Marcos Haar, Marco die Stirn gegen Eriks Schulter gelehnt, und sagten mit der Wärme ihrer Körper, was Worte nur unzureichend ausdrücken konnten. Als sie sich trennten, stand beiden ein Lächeln auf den Lippen und Tränen in den Augen. „Mach’s gut“, flüsterte Marco.
„Du auch.“ Noch einmal drückte Erik ihn an sich, dann wandte er sich ab und rannte über die Straße, um der eben einfahrenden Stadtbahn zuvorzukommen. Bevor er einstieg, drehte er sich um und winkte. Marco erwiderte die Geste. Das Innere seiner Brust juckte wie eine Wunde, die zu heilen begann.