Was zuletzt geschah:
Nach Dragos Auszug aus der Wohnung seines Onkels, verbringen er und Marco weite Teile ihres Alltags miteinander. Was anstrengend sein sollte, erweist sich bisher als erstaunlich angenehmes Zusammenleben.
Kapitel 41
Porco dio! Brennender Schmerz zerriss Marcos Oberschenkel und er biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuheulen.
Fassungslos starrte er auf den feuerroten Striemen, der sich auf der Innenseite seines Schenkels bildete, dann wandte sich sein Blick anklagend an den Rohrstock in seiner Hand, als hätte dieser von selbst entschieden, auf seine Haut niederzusausen.
Wie sollte er aber auch damit rechnen, dass das so verflucht zwickte? Dabei hatte Marco nicht einmal außerordentlich fest zugeschlagen. Wenigstens bestärkte ihn das in seiner Überzeugung, sämtliche neuen Spielereien zunächst an sich selbst zu testen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, bevor er sie Drago zumutete. Hier hatte er den Effekt nämlich ganz gewaltig unterschätzt.
So hart ihn der Gedanke machte, einen Rohrstock auf Dragos nackten Arsch niedersausen zu lassen, das Risiko, dabei ein absolutes No Go zu verletzen und bleibende Spuren zu hinterlassen, fiel eindeutig zu hoch aus. Ein einzelner nicht ideal kalkulierter Schlag, und das Ergebnis würde aussehen wie Marcos bemitleidenswerter Oberschenkel.
Durch die Wohnung humpelnd verstaute er das verräterische Teil im hintersten Eck einer seiner Schubladen. Drago brauchte davon nichts zu erfahren. Zum Glück hatte das Architekturbüro, in dem dieser neben dem Studium jobbte, einen großen Auftrag an Land gezogen, was bedeutete, dass er frühestens in zwei Stunden nach Hause kam. Genug Zeit für Marco, das Humpeln unter Kontrolle zu bekommen und Abendessen zu kochen.
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Komplett erledigt schlurfte Marco am nächsten Tag durch die Wohnungstür, zog seine Schuhe aus, brummte eine Begrüßung an Drago, der leise summend über den Arbeitstisch gebeugt saß – allein, dass Marco nach ihm nach Hause kam, sprach dafür, wie viele Stunden er heute auf der Arbeit abgerissen hatte – und stellte die Einkaufstüten auf die Küchenzeile.
„Ich mache das. Setz dich.“
Bevor Marco protestieren konnte, begann Drago, die Lebensmittel einzuräumen. „Du hättest anrufen können, dann wäre ich einkaufen gegangen.“
„Nah, du hast doch mindestens so viel zu tun wie ich.“
„Nicht so viel, dass ich nicht meinen Teil im Haushalt erledigen könnte.“
Als täte Drago nicht deutlich mehr als das. Marco hielt sich generell für ordentlich, sogar mit einem gewissen Hang zur Pingeligkeit, doch noch nie hatte seine Wohnung so geblitzt wie seit Dragos Einzug. Sämtliche Flächen glänzten, nirgends fand sich ein Staubkorn und wann immer Marco dachte, dass er allmählich den Müll runterbringen sollte, schien sich dieser wie von Zauberhand zu leeren.
Lediglich Kochen lag Drago nicht. Was nicht bedeutete, dass er es nicht beherrschte oder tat, es bereitete ihm nur merklich wenig Freude. Da Marco umso mehr Spaß daran hatte, übernahm er diesen Part in der Regel freiwillig. Nur an Tagen wie heute, wenn er Stunden geschuftet hatte und jeder Knochen in seinem Leib schmerzte, fiel es ihm schwer, die nötige Motivation zu finden.
Ächzend streckte er seine Beine auf der Couch aus und kreiste mit den Füßen. Die Mistdinger fühlten sich an wie Steine. Über seine Knie dachte Marco lieber gar nicht erst nach, und sein Rücken kündigte bereits an, dieses lustige Spiel zu spielen, bei dem er Marcos Muskeln nachts durch starres Hartholz ersetzte.
Plötzlich kniete Drago vor Marco und rollte ihm die Socken von den Füßen. Marcos ungestellte Frage, was zur Hölle das werden sollte, beantwortete sich wenige Momente später, als Drago mit geübten Griffen seine schmerzenden Sohlen durchknetete. „Porco dio!“
„Zu fest?“
„Nah, aber …“ Marcos Protest erstarb unter Dragos augenscheinlich erfahrenen Händen. Hätte man ihn vor drei Minuten gefragt, ob er auf Fußmassagen stand, hätte er verneint. Er fühlte sich generell wohler damit, andere zu verwöhnen als verwöhnt zu werden. Aktuell belehrte ihn Drago jedoch eines Besseren.
Mit unnachgiebigen Fingern vertrieb er Verspannungen, die sich nicht einmal in der Nähe von Marcos Füßen befanden, bis Marco mit geschlossenen Augen tief in die Sofapolster sank. Bevor er an Ort und Stelle eindöste, richtete er sich auf. „Ich sollte kochen.“
„Wir haben Zeit.“
„Wenn du so weitermachst, penne ich ein, und wenn ich jetzt einpenne, ist der ganze Abend gelaufen, weil ich dann garantiert nicht mehr aufstehe.“
Dieses Argument schien Drago zu überzeugen; er nahm die Hände von Marcos Füßen. „Sag mir, wie ich dir helfen kann.“
Dragos Stimme hatte sich verändert. Sie klang heiser, fast schon atemlos. Weil sich seine Frage weniger darum drehte, welches Gemüse er schneiden, oder welche Teller er abspülen sollte. Die von ihm angebotene ‚Hilfe‘ ging in eine andere Richtung. Oder vielleicht interpretierte Marco auch zu viel in seine Worte, weil seine eigenen Gedanken beim Anblick des vor ihm knienden Mannes diese ganz spezielle Abbiegung nahmen.
Er ließ seine Finger durch Dragos seidiges Haar gleiten. Nicht bewusst grob, aber auch nicht übermäßig vorsichtig. „Du hilfst mir am meisten, indem du auf deinen Knien bleibst.“
Dragos Lippen öffneten sich einen Spalt und auf seinen Wangen breiteten sich rote Flecken aus. Was bedeutete, dass Marco mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte. Hmm, sollte er Drago geben, was er wollte, oder ihn lieber ein wenig zappeln lassen?
Marcos Körper traf die Entscheidung für ihn. Unabhängig davon, was er für Drago plante, hegte er wenig Interesse daran, sich selbst unnötig lange zu quälen. Gemächlich öffnete er den Reißverschluss und schlüpfte aus seiner Hose. Sie hatte den Boden noch nicht erreicht, da fixierte Drago bereits den mittlerweile in diversen hübschen Farben leuchtenden Striemen auf Marcos Innenschenkel. Cazzo, an den hatte er überhaupt nicht mehr gedacht! Was erstaunlich war, wenn man bedachte, wie übel er selbst einen Tag später noch ziepte.
Dragos Fingerspitzen stoppten kurz vor der Verletzung. „Was ist passiert?“
„Äh …“ Schnell eine schlechte Lüge erfinden und sich lächerlich machen, oder mit der Wahrheit rausrücken und sich richtig lächerlich machen? „Sagen wir, ich habe die eine oder andere wichtige Lektion über Rohrstöcke gelernt.“
„Das kommt von einem Rohrstock?“
„Sì. Ich muss doch wissen, was ich dir zumute. Oder nicht zumute, weil ich nicht garantieren kann, nicht versehentlich zu fest zuzuschlagen und Spuren zu hinterlassen, die man am nächsten Tag noch sieht. Das geht nämlich ziemlich schnell.“ Vielsagend tippte Marco gegen sein Bein. „Mal abgesehen davon, dass das Teil echt ganz schön zwickt.“ Bisher hatte er die Grenze, an der Drago Schmerz nicht länger als lustvoll empfand, nicht gefunden, vermutete jedoch stark, sie damit zu überschreiten.
Dragos Reaktion nach zu urteilen, sah dieser das anders. Wie hypnotisiert starrte er auf die Linie, die Marcos Oberschenkel überzog – ein dumpfes Rot, umrahmt von Gelb- und Blautönen – seine geöffneten Lippen feuchtglänzend, sein Blick glasig. Mit den Fingern umkreiste er die Ränder des blauen Flecks, als versuchte er, ihn vollständig zu erfassen. „Ich habe meine Mitgliedschaft im Gym pausiert.“
„Okay?“ Das wusste Marco bereits. Gleich nach dem Bruch mit seinem Onkel hatte sich Drago darum gekümmert, sämtliche nicht zwingend notwendigen Ausgaben auf ein Minimum zu reduzieren. Darunter war auch sein Gym gefallen, was Drago in die miesepetrigste Laune versetzt hatte, die Marco je an ihm erlebt hatte.
„Das heißt, mich wird in nächster Zeit niemand in einer Umkleidekabine zu Gesicht bekommen.“ Als fürchtete er, seinen Gedankengang für Marco buchstabieren zu müssen, fügte er hinzu: „Blaue Flecke werden niemandem auffallen.“
Marco schluckte seine ersten Erwiderungen herunter. Es wären Fragen, Rückversicherungen oder nervöses Geplapper gewesen. Nichts davon würde den von ihm erwünschten Effekt erzielen. Stattdessen legte er eine Hand unter Dragos Kinn und zwang ihn, den Kopf anzuheben. Er genoss das Schweigen, das sich zwischen ihnen zog; die ominöse Stille, die Drago Zeit gab, eine Antwort in Marcos Gesicht zu suchen, die dieser so gut wie möglich verbarg.
Erst, als er ein Zittern unter seinen Fingerspitzen spürte, Dragos innere Anspannung, die nach draußen drängte, gab er nach und raunte: „Das behalte ich im Hinterkopf.“ Keine Versprechungen, keine genauen Angaben. Er wollte, dass sich Drago jede wache Minute fragte, ob und wann es so weit sein würde.
Hart drückte Dragos Erektion gegen Marcos Fußsohle und den Stoff, der sie voneinander trennte. Die kleinste Berührung ließ ihn aufstöhnen, sein Körper ein williges Werkzeug.
Ohne langes Vorspiel, die Finger in Dragos Haar vergraben, nahm Marco seinen Mund. Dabei flüsterte er heiseres Lob und raue Aufforderungen, genoss das Beben, das durch Drago ging, wann immer er andeutete, was in einer der Schubladen auf ihn wartete. Nicht, dass Marco plante, den Rohrstock heute zum Einsatz kommen zu lassen, aber das brauchte Drago nicht zu wissen.
Marco spann Szenarien, von denen er manche beschrieb, und andere nur in seinem Kopf auskostete, bis sein nahender Orgasmus seine Worte erstickte. Welle um Welle umspülte er ihn, ließ ihn atemlos auf der Couch zurück.
Spuren von Marcos Höhepunkt rannen Dragos Kinn herab, seinem unfokussierten Blick nach zu urteilen, bemerkte er das jedoch kaum. Marco würde sich nie daran sattsehen, wie offensichtlich es Drago erregte, ihn zu befriedigen. Er beugte sich vor. „Willst du kommen?“
Ein hoher Ton entkam Drago, den man als gepresstes ‚Ja‘ deuten konnte.
„Wiederhol das.“
„Ja“, schnaufte Drago.
„Hm …“ Marco beugte sich tiefer, bis seine Lippen zart über Dragos Ohrmuschel strichen und hauchte: „Vielleicht später.“ Dann stand er auf, schlüpfte in seine Hose und machte sich daran, das Abendessen auf den Tisch zu bringen.
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Gott, es machte Spaß zuzusehen, wie sich Drago wand. Ein wenig zu sehr – Marco hätte beinahe das Abendessen anbrennen lassen. Als sein Mitleid zu überwiegen begann, lenkte er ein, reduzierte die Hitze der Herdplatte, damit die gefüllten Zucchini gefahrlos für einige Minuten in ihrer Tomatensoße schmoren konnten, und verfrachtete den armen Mann aufs Bett.
„Ausziehen.“ Marcos Blicke folgten Dragos Bewegungen, sogen das Spiel seiner Muskeln auf, das Leuchten seiner blassen Haut im Halbdunkel. Seit fast zwei Wochen teilten sie sich diese Wohnung und oft genug das Bett, ganz zu schweigen von den Monaten davor, und dennoch hatte sich Marco nicht einmal ansatzweise an Drago sattgesehen. Er bezweifelte, das überhaupt jemals zu können. „Komm her.“
Nackt und sichtlich erregt krabbelte Drago über die Matratze in Marcos ausgestreckte Arme. Marco zog ihn näher, bis er in seinem Schoß saß, die langen Beine um seine Hüften gewickelt, die Stirn gegen seine Schläfe gelehnt.
Mit den Fingerspitzen fuhr Marco über die Unterseite von Dragos Erektion. Eine Berührung, so sanft, dass er sie selbst kaum wahrnahm, doch sie genügte, um Drago den Atem zu rauben.
Zu erleben, wie Drago die Kontrolle, die sonst seinen Alltag bestimmte, abgab und sich sein starker Körper unter Marcos Händen in Wachs verwandelte, erfüllte diesen mit einem Gefühl, das sich kaum beschreiben ließ. Wie ein Teller heißer Suppe nach einem langen Spaziergang im Winter. Sofern Suppe einen gleichzeitig sexuell erregte.
Das war dann üblicherweise die Stelle, an der Marco die Suche nach einem passenden Vergleich aufgab, und stattdessen das Hier und Jetzt genoss. Er umfasste Drago fester, massierte ihn hart und wrang jeden Laut aus ihm, den seine Kehle hergab.
Drago drängte näher, schien mit Marco verschmelzen zu wollen. Seine Hände fanden Marcos Rücken, hielten sich daran fest, kraftvoll, aber ohne Fingernägel. Selbst von Lust übermannt, erinnerte er sich an seine Manieren.
Das sollte Marco belohnen. Bald. Noch sprach er die erlösenden Worte nicht aus, erlaubte Drago nicht, sich seinem Höhepunkt hinzugeben. Zu sehr genoss er die Nähe zwischen ihnen, Dragos heißen Atem auf seiner Haut, die Geräusche, die er von sich gab, die Art, wie er sich an ihn klammerte. Diese selbstgewählte Wehrlosigkeit, in dem Vertrauen, dass Marco seine Macht über ihn niemals missbrauchte.
„Bitte … Ich … Ich kann nicht … Bitte.“
Das war neu. Nicht, dass Drago sonst still im Bett gewesen wäre – absolut nicht – er redete nur nicht. Stöhnen, Keuchen, heiseres Krächzen, alles davon durchaus lautstark, gehörten zu seinem Repertoire. Aber Bitten? Die hörte Marco zum ersten Mal von ihm.
Verlockend, ihnen nachzukommen. Noch verlockender, es nicht zu tun.
Ohne seinen Griff um Dragos Erektion zu lockern, fasste Marco mit der anderen Hand in sein Haar und zog daran, bis er zu ihm aufblickte. „Was ‚Bitte‘?“
Dragos Wangen glühten, weißblonde Strähnen klebten an seiner Stirn und sein Mund bewegte sich, ohne echte Worte zu formen. Hilflos starrte er Marco an, die Antwort auf dessen Frage deutlich in sein Gesicht geschrieben.
Himmel, wenn Marco das noch länger hinauszögerte, erlitt der Arme einen Herzinfarkt. „Na schön“, brummte er. „Normalerweise sollte ich diese Ungeduld nicht belohnen, also gewöhn dich lieber nicht an diese Nachgiebigkeit.“ Bewusst ließ er einige Sekunden verstreichen, bevor er das erlösende Wort aussprach. „Jetzt.“
Unkontrolliert zitternd ergoss sich Drago in Marcos Hand, presste wimmernd seine Stirn gegen Marcos Schulter.
Marco bereute es, sich nicht ebenfalls ausgezogen zu haben. Nicht, weil er Flecken auf seinen Klamotten befürchtete, sondern, weil Momente, in denen sich Drago so an ihn klammerte, selten und kostbar waren. Das hätte er lieber Haut an Haut gespürt.
Beide Arme um ihn geschlungen, lauschte Marco Dragos ruhiger werdenden Atmung, spürte das sich verlangsamende Heben und Senken seiner Brust und wartete darauf, dass er sich von ihm löste. Er wartete lange.
Anstatt sich aus der Umarmung zu befreien, schmiegte sich Drago näher, ließ seine Hände auf Marcos Schultern ruhen und seine Stirn in dessen Halsbeuge. Jede Anspannung verschwand aus seinem Körper und er seufzte wohlig, als Marco begann, sanft seinen Nacken zu massieren.
Irgendwann musste der Zauber jedoch brechen und in diesem Fall passierte das, als Marco ein Geruch in die Nase stieg, dessen Ursprung er einen Sekundenbruchteil später realisierte. „Das Essen!“
Marco sprang auf, fiel halb aus dem Bett und stolperte zum Herd, wo die eingekochten Reste der Tomatensoße träge blubberten. Eilig zog er den Topf zur Seite. „Cazzo!“
„Hast du dich verbrannt?“ Drago stand am Bett, jede Spur von Schläfrigkeit weggeblasen.
„Nah.“ Marco rührte durch die Soße, prüfte die Unterseite der Zucchini und verzog nach einer Kostprobe vom Kochlöffel das Gesicht. „Kannst du vergessen, schmeckt komplett verbrannt.“ Frustriert kratzte er die dunkle Masse vom Topfboden. „Das ist mir echt noch nie passiert! Dass ich mich so ablenken lasse!“
„Das war nicht meine Absicht.“
„Nimm es als Kompliment.“
„Hast du es so gemeint?“
„Sagen wir einfach ‚Ja‘.“ Was definitiv ‚Nein‘ bedeutete und sie beide wussten das. Dabei nahm Marco Drago das versaute Abendessen nicht übel – wie könnte er, schließlich hatte er die Zeit vergessen – ihn beunruhigte, dass es überhaupt passiert war. Denn es stimmte, normalerweise ließ er sich nicht vom Kochen ablenken. Nicht von Erik und ebenso wenig von einer seiner kurzen Bekanntschaften davor. Doch sobald Drago in seinen Armen lag, vergaß er die Welt um sie herum, und es bereitete ihm Sorgen, was das implizierte. Abgesehen davon hatte er einwandfreie Lebensmittel in unansehnlichen Aschebrei verwandelt. „So eine verfluchte Scheiße!“
Das, was Marco entdeckte, als er vom Topf zu Drago aufsah, ließ ihn einen großen Schritt von seinen Gefühlen zurücktreten und tief durchatmen. Mit angespannten Muskeln und einem Blick, dem keine unerwartete Bewegung entging, hielt Drago so viel Abstand, wie Marcos überschaubare Wohnungsgröße zuließ. Vermutlich nahm er diese Verteidigungshaltung nicht einmal bewusst ein, doch Marco hasste sich dafür, sie ausgelöst zu haben. Er wollte kein Mensch sein, in dessen Nähe sich andere unwohl fühlten.
„Sorry“, murmelte er, darum bemüht, Ruhe auszustrahlen. „Ich ärgere mich über mich selbst, das ist alles. Ist gleich vorbei.“
Erst jetzt schien Drago seine Körpersprache zu realisieren, und lockerte bewusst seine Muskulatur. Zögerlich trat er näher. „Lass mich dir helfen.“
„Nah, alles gut. Der Topf muss über Nacht einweichen. Ich fürchte nur, das Abendessen fällt heute aus.“ Marco deutete auf die verbrannte Kruste. „Du wirst wahrscheinlich eher keine Lust auf dieses ganz besondere Raucharoma haben.“
„Man könnte fast meinen, du hältst mich für heikel.“
Die langen Sekunden, die Marco brauchte, um zu begreifen, dass Drago sich selbst aufs Korn nahm, machte deutlich, wie komplett durch den Wind er war. Dann brach er in Gelächter aus und die verbrannte Masse, die hartnäckig seinen Lieblingstopf verklebte, geriet in Vergessenheit.
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Konzentriert darauf, eine gleichmäßige Schicht Butter auf seinem Brot zu verteilen – und nicht zu sehr darüber nachzudenken, wie viel lieber er gerade gefüllte Zucchini essen würde – hätte Marco beinahe die Blicke, die Drago ihm zuwarf, übersehen. Schließlich ertappte er ihn aber doch.
Im Gegensatz zu den meisten, wandte sich Drago nicht sofort verschämt ab, wenn er beim Starren erwischt wurde. Stattdessen hielt er den Blick lange genug aufrecht, um den Anflug eines Lächelns erkennen zu lassen, bevor er sich wieder anderen Dingen zuwandte. Heute trug er allerdings kein Lächeln im Gesicht, sondern diesen Ausdruck, der Marco verriet, dass er sich den Kopf zerbrach, ob er einen Gedanken laut aussprechen wollte und falls ja, wie er ihn formulierte. Geduldig wartete Marco, bis er eine Entscheidung getroffen hatte.
Wiederholt öffnete Drago den Mund, nur um die Stirn zu runzeln und still zu bleiben. Marco glaubte nicht mehr daran, heute noch zu hören, was ihn beschäftigte, als er sich einen Ruck zu geben schien. „Ich habe gestern mit meiner Mutter telefoniert.“
„Oh?“
In der darauffolgenden Pause bereitete sich Marco darauf vor, tröstende Worte zu finden, falls Dragos Onkel sein Versprechen gebrochen und ihn doch bei seiner restlichen Familie geoutet hatte. Auch, wenn jeder Trost kaum mehr leisten konnte als ein Pflaster auf einem Messerstich.
„Ich habe sie um einige ihrer Rezepte gebeten.“
Das … ging in eine unerwartete Richtung. „Und? Hat sie sie dir verraten?“
Drago stand auf und holte eines der Notizbücher, von denen er Marcos Schätzung nach mindestens drei besaß. Gezielt blätterte er darin. „Sie sagt, sie kocht nach Gefühl, deshalb konnte sie mir nur grobe Mengenangaben nennen. Ich habe versucht, alles zu übersetzen, aber bei einigen Zutaten bin ich mir nicht sicher, ob es überhaupt ein deutsches Äquivalent gibt.“
„Zeig mal.“ Marco überflog die in akkurater Schrift notierten Rezepte. Drei Stück, eines davon Ajvar, die beiden anderem ihm völlig unbekannt. An den Stellen, an denen Drago bei den Zutaten mit einer wörtlichen Übersetzung gehadert hatte, hatte er Notizen gemacht, die Inhaltsstoffe, Konsistenz und Geschmack beschrieben. „Ich mache mich mal schlau, ob man die Sachen irgendwo herbekommt“, sagte Marco.
„Ich trage natürlich die Kosten.“ Unter Dragos neutralem Ton verbarg sich so manche Emotion. Dass er überhaupt darum bat, nachdem Marco eben erst ihr Abendessen versaut hatte, wärmte dessen geschundenes Ego.
Daher winkte Marco auch ab. „Das klären wir später.“ Noch einmal überflog er die Zutatenliste. Das meiste davon konnte er sicher improvisieren, aber je mehr er ersetzte, umso weiter entfernte sich das Gericht von seinem ursprünglichen Geschmack. „Weißt du, ob es in der Stadt einen Laden gibt, in dem man serbische Lebensmittel bekommt?“
„Ich kann meinen Onkel–“ Der Augenblick, in dem Drago realisierte, dass er seinen Onkel möglicherweise nie wieder um Hilfe bitten konnte, war schmerzhaft mitanzusehen. Entschlossenheit verhärtete seine Züge. „Ich finde es heraus.“
„Wir kriegen das schon hin“, versicherte Marco. „Es wird sicher nie ganz wie das Essen deiner Mutter schmecken, aber wir probieren solange, bis wir möglichst nahe dran sind.“
„Ich erwarte keine Wunder“, sagte Drago. „Nur … wenn du es versuchst, das würde mir viel bedeuten.“
Marco erwiderte Dragos zaghaftes Lächeln, krampfhaft bemüht, das Pochen seines verräterischen Herzens zu ignorieren.