Eine Weile wühlte ich unruhig im Bett herum und dachte über seine Worte nach. Obwohl mir so viele Dinge durch den Kopf gingen, musste ich irgendwann drüber hinweg eingeschlafen sein.
Ich schreckte erst wieder hoch, als ich ein energisches Klopfen hörte und Leandro kurz darauf vor meinem Bett stand.
„Wir müssen los.“ Nickend richtete ich mich auf, rückte meine Kleidung zurecht und warf einen kurzen Blick in den Spiegel. Wie sollte der Graf Respekt vor mir haben, wenn ich wie ein Haufen Lumpen vor ihm antanzen würde? Ich wollte mich nicht lange vor dem Spiegel aufhalten, denn mein Aussehen war wohl möglich das Unwichtigste an Allem, aber etwas Stolz hatte ich trotzdem. Unsicher wischte ich den verlaufenen Maskara unter meinen Augen weg und knotete mir die Haare,zu etwas annehmbaren zusammen.
Die Schrammen und die blauen Flecke konnte ich sowieso nicht überdecken. Leandro sollte ruhig sehen was ich mir nur wegen ihm zugefügt hatte. Und er sollte mich unter keinen Umständen unterschätzen und verhätscheln.
Schweigend folgte ich ihm durch den Wald, bis zum Hotel und schließlich in die erste Etage zu den Gemälden. Er kramte aus seiner Jackentasche die Zeichnung hervor, die ich ihm vor ein paar Stunden gegeben hatte und faltete sie auseinander. Ohne auf mich Rücksicht zu nehmen, nahm er meine Hand und stellte sich selbstbewusst auf´s Geländer. Seine Augen wanderten nur kurz über das Papier in seiner Hand, ehe er es wieder wegpackte.
Stumm kletterte ich ihm hinterher und stellte mich schließlich neben ihn. Unsere Hände waren immer noch ineinander verschränkt, damit wir uns dieses Mal nicht verlieren würden. Unsicher schaute er mir in die Augen und musterte mich.
Ich zwang mir ein Lächeln auf, nickte ihm entgegen und zusammen sprangen wir auf das Gemälde zu. Nebeneinander glitten wir durch die stickige Luft und tauchten in die düsteren Farben ein. Ein nie zuvor dagewesenes Kribbeln machte sich in mir breit. Eiserne Luft drang mir entgegen und kühlte mein warmes Gesicht.
Im Flug starrte ich zu Leandro, an dem all seine Erinnerungen vorbeizogen. Es ging so schnell, dass ich niemanden davon erkennen konnte und mich schließlich meinen eigenen zu wand. Doch neben mir herrschte dunkle Leere. Schwärze hatte mich eingehüllt und ließ mich nach den Erinnerungen sehnen.
Ich konnte mir immer noch nicht erklären, worauf sich die Erinnerungen meines letzten Fluges bezogen hatten. Immer wieder versuchte ich Antworten auf meine Fragen zu finden, doch ihre Existenz war mir ein einziges Rätsel. Konzentriert achtete ich diesmal auf meine Landung und kam unversehrt auf den Füßen auf. Leandro hingegen legte eine Bruchlandung hin und zog mich mit seinen Schwung auf sich. Unverhofft war mein Gesicht seinem plötzlich so nahe, dass ein Kuss in diesem Moment nicht einmal komisch gewesen wäre. Verwirrt starrte wir uns in die Augen und hielten die Luft an. Bei diesem intensiven Blickkontakt könnte ich schwören, er hatte ebenfalls über einen Kuss nachgedacht und wahrscheinlich hätte es diesen sogar gegeben, wenn er sich nicht geräuspert und mich damit zur Vernunft gebracht hätte.
Also rappelte ich mich schnell auf und entschuldigte mich leise.
„Nein, es war meine Schuld. Ich habe dich nach unten gezogen“, entgegnete er und stand auf.
Erst jetzt hatte ich Augen für unsere Umgebung, jetzt wo ich wusste, dass er neben mir stand.
Ich ließ meine schmalen Finger über die kalten Backsteine gleiten. Vorsichtig griff ich nach einer Fackel, die neben uns erleuchtet in der Halterung hing und machte uns damit den Weg begehbar. Bis auf zwei Weitere, war der Gang dunkel und schürte somit die Angst noch mehr.
Leandro tat es mir gleich und griff auch nach einer Fackel. Vorsichtig wagten wir uns in die Unbekanntheit. Außer unserer Schritte die in dem finsteren Gewölbe hallten, war es still. Ab und zu tropfte etwas Wasser in die Pfützen und hinterließ ein leises Plätschern.
Gute zehn Minuten liefen wir stillschweigend den kühlen Gang entlang, bis wir zu einer Kreuzung kamen.
„Was nun?“, fragte er und sah sich um. An dieser Kreuzung war das Mädchen nach rechts gelaufen, also sollten wir das wohl auch tun.
„Nach rechts.“
„Woher willst du das wissen? Ist das wieder eine deiner Vermutungen“, maulte er mich an. Ein kleines Schmunzeln legte sich auf meine Lippen. Anscheinend konnte er es kein Bisschen leiden, wenn ich mehr wusste als er und wenn er keinen Plan hatte. Er sollte sich bloß nicht so anstellen. Spätestens wenn wir wirklich vor dem Grafen stehen würden, hätte ich keine Ahnung mehr und er müsste die Pläne schmieden.
„Ja es ist nur eine Vermutung, aber bisher hatte ich immer recht.“ Schwer atmend warf er mir einen eifersüchtigen Blick zu und bog ohne weitere Worte nach recht ab. Leise schlich ich direkt hinter ihm her und überlegte, ob ich aufholen sollte. Noch bevor ich mich für etwas entscheiden konnte, stoppte er abrupt und ich lief unweigerlich in ihn hinein. Ich war schon kurz davor gewesen einen Seufzer loszulassen, da ich davon ausgegangen war, er würde mich wieder anschnauzen. Doch stattdessen drehte er sich nur stumm um und starrte mir intensiv in die Augen. Erschrocken von seiner plötzlichen Nähe hielt ich die Luft an und versuchte seinen Blicken stand zu halten. Was genau sollte das werden?
Meine Blicke wendete ich erst von ihm ab, als mir wieder in den Sinn kam, was wir eigentlich vor uns hatten. Wir waren direkt neben einer Eisentür stehen geblieben und nun warf sich mir die Frage auf, was sich wohl dahinter befinden würde. Unter ihr drang helles Licht hervor, dass den Gang bereits etwas erleuchtet hatte.
„Was ist dahinter?“, flüsterte ich leise. Unerwartet kam er mir wieder so nah und umarmte mich beschützend von hinten. Ich schloss die Augen, während ich mich an seinen muskulösen Oberkörper drängte und sein leichtes Parfum einatmete.
„Ich fürchte nichts Gutes“, hauchte er mir ins Ohr und strich eine Strähne aus meinem Gesicht, die sich schon wieder selbstständig gemacht hatte. Was war das? Was war das zwischen uns? Ich hatte mir diese Umarmung gewünscht, mehr als alles andere, doch jetzt wollte ich mehr. Ich wollte ihn küssen, ich wollte mich vertragen und ich wollte vergessen.
Doch gleichzeitig hatte ich Angst davor verletzt zu werden. Wie die toten Mädchen, die ihm auch nichts bedeutet hatten. Verdammt was machte er nur mit mir? Was er gesagt hatte konnte ich so schnell nicht vergessen und trotzdem spürte ich, wie mein Vertrauen wieder größer wurde, desto länger wir so dar standen.
„Es tut mir leid“, entgegnete ich unüberlegt und hätte diese Worte am liebsten wieder zurückgenommen. Doch jetzt war es zu spät. Sie waren mir so schnell über die Lippen gegangen, dass ich darüber gar nicht hatte nachdenken können. Ein leichtes Lächeln legte sich auf sein Gesicht und brachte mich unweigerlich zum Grinsen.
„Egal was dahinter ist, wir werden das zusammen überstehen“, flüsterte er und drehte sich langsam zu mir um. Wie selbstverständlich legte ich meine Hände auf seinen Schultern und er legte sie auf meiner Hüfte ab. Etwas weiter zog er mich an sich heran, schaute mir tief in die Augen und kam mir immer dichter. Mein Herz fing an schneller zu schlagen und wieder musste ich die Luft anhalten, während sich unsere Gesichter immer näher kamen. Unsere Lippen waren kaum noch von einander entfernt, trotzdem berührten sie sich nicht. Ich stockte in meiner Bewegung und wartete darauf, dass er es sein würde, der diesen geringen Abstand beenden und unsere Lippen aufeinander bringen würde.
Und er tat es. Endlich kam er mir so nah, dass sich unsere Lippen berührten und wir uns endlich wieder küssten. Es waren nur ein paar Stunden seit dem letzten Kuss vergangen und trotzdem hatte es sich wie eine Ewigkeit angefühlt. Am liebsten hätte ich Stunden damit verbracht, ihn zu küssen. Doch wir hatten großes vor und so setzte mein Verstand wieder ein. Fast glücklich lösten sich unsere Lippen von einander und ich befreite mich aus seinen starken Armen.
„Wir müssen weiter.“ Bestätigend nickte er mir zu und ließ mich endgültig los.
Zögernd drückte ich die Türklinke runter und öffnete die schwere Tür. Eiserne Kälte drang mir entgegen und jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Mir wäre fast das Herz stehen geblieben, als ich die Säulen entdeckte. Ein Schrei kam in mir auf, doch bevor ich ihn loswerden konnte, legte Leandro seine Hand auf meinen Mund und brachte mich zum schweigen. Mehrere hundert Säulen erstreckten sich vor uns, in denen Menschen gefangen waren. Eingefroren wie eine Tiefkühlpizza. Fassungslos schob ich seine Hand wieder von meinem Mund .
„Wir müssen ihnen helfen“, kreischte ich panisch und schlug mir noch im selben Moment die Hand vor den Mund. Sorgend hatte er seine Arme wieder um meinen schmächtigen Körper geschlungen und hielt mich davon ab, zu ihnen zu rennen. Vergebens versuchte ich mich zu befreien, doch er war einfach zu stark für mich und so gab ich es schließlich auf und warf mich verzweifelt in seine Arme.
„Wir können ihnen nicht mehr helfen, sie sind bereits tot.“
„Kannst du sie nicht wieder zurück holen?“
„Nein, dafür sind sie schon zu lange tot.“
„Aber... so tot sehen sie doch gar nicht aus“, entgegnete ich ihm hoffnungsvoll und drehte mich wieder zu ihnen um.
„Sie werden so gekühlt, dass das Blut nicht in den Adern gefriert, sie aber auch nicht verwesen.“
„Ob meine Eltern auch hier...“, ich verschluckte den Rest meines begonnenen Satzes und schritt langsam in den kühlen Raum hinein.
„Ich weiß es nicht, aber wir können dann nichts mehr für sie tun.“
„Ich muss wissen ob sie hier sind.“
„Alex er weiß bestimmt schon, dass wir hier sind, es ist nur noch eine Frage der Zeit bis er uns finden wird. Komm bitte“, bettelte er und lief ebenfalls in den Raum hinein, um mich von ihnen wegzuzerren.
„Nein! Ich muss es wissen“, protestierte ich und lief an den Säulen auf der rechten Seite entlang. Sie hatten blasse Haut, ihre Körper war gefroren und ihre Augen weit aufgerissen. Trotzdem blickten sie leer an mir vor bei. Ich wollte schreien, als ich die Mädchen von den Bilder wiedererkannte. Sie hatte es also wirklich gegeben? Sie alle? Und nun mussten sie als Blutbeutel dienen? Das war nicht fair, das war einfach nicht fair! Wie konnte man nur so grausam sein?
„Alex, bitte lass uns gehen“, flehte er und kam auf mich zugelaufen. Verwundert starrte ich ihn an. Sein Atem ging ungewöhnlich schnell. Nervös biss er auf seiner Unterlippe herum und versuchte mit dem Kneten seiner Finger, krampfhaft etwas vor mir zu verstecken.
„Was ist?“, fragte ich besorgt und runzelte die Stirn.
„Nichts, mir geht’s gut. Lass uns einfach gehen.“
„Ich kann nicht ich...ich“, stotterte ich und starrte verwundert in seine Augen. Dunkles Rot legte sich auf seine Iris und färbte sie gefährlich rot. Seine Hände begannen eigenartig zu zittern.
„Was ist los mit dir?“
„Nichts“, schnaufte er und versuchte seine Hände vor mir zu verbergen. Ich zögerte nicht lange, ehe ich nach ihnen griff. Seine Adern verdunkelten sich und traten ungewöhnlich stark hervor.
„Wir gehen“, rief er nun fast wütend und packte mich am Arm. Impulsartig riss ich meinen Arm aus seiner Gewalt und griff stattdessen nach seinem, um ihn zu einer Säule zu ziehen, die ganz besonders meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Das Mädchen in ihr hatte die Augen geschlossen und wirkte ganz ruhig. Als könnte sie noch atmen, bewegte sich ihr Brustkorb langsam auf und ab. Neugierig schritt ich immer näher an diese Säule heran und beobachtete das Mädchen ganz genau. Plötzlich schlug sie die Augen auf. Ein dumpfer Schrei folgte. Energisch schlug sie ihre Hand gegen die Scheibe, hauchte sie danach an und hinterließ mir eine Nachricht:
„Help.“ Schwer atmend legte ich meine Hand ebenfalls gegen ihre Scheibe und versuchte eine Lösung zu finden. Doch noch im selben Moment, erfüllten mehrere hundert Schreie diesen Raum. Alle anderen in den Säulen öffneten die Augen und begannen wie wild gegen die Scheiben zu hämmern. Ich fuhr zusammen, als sich urplötzlich kalte Hände auf meine Schultern niederließen und sie mich schleunigst aus dem Raum schoben. Wir hatten gerade die Türschwelle überquert, als die Tür hinter uns mit voller Wucht zuschlug.
„Was sollte das?“, rief ich aufgebracht und starrte erschrocken in Leandro´s Augen. Das Rot hatte sich nun so verbreitet, dass man seine eigentliche Augenfarbe nicht mal mehr erkennen konnte.
„Wir haben keine Zeit sie zu retten.“
„Sie leben!“
„Ich weiß, aber wir haben keine Zeit.“
„Du wusstest es?“
„Ja“, brummte er und blickte verlegen auf den Boden.
„Du wusstest es und hast nichts gesagt? Du hast gesagt, sie leben nicht mehr! Wann hörst du endlich auf mich anzulügen?“, schrie ich wütend und schlug ihm mehrere Male kräftig gegen die Schulter.
„Hör auf damit!“ Schnell griffen seine Finger um meine Handgelenke und brachten mich zur Ruhe.
„Willst du deiner Familie oder diesen Menschen helfen?“
„Beiden!“
„Das kannst du nicht! Hörst du das? Das sind seine Schritte, entscheide dich. Jetzt!“, brüllte er und ließ meine Hände sinken. Fix griff ich nach der Fackel neben mir und leuchtete uns den Weg. Es war keine Frage für wen ich mich entscheiden würde. Ich war nicht selbstlos genug, um mich für einen Haufen Unbekannter entscheiden zu können und so lief ich verbittert weiter. Ich hatte gar kein Recht entscheiden zu dürfen, wer eine Chance auf Leben hatte und wer nicht. Warum hatte ich diese Macht überhaupt?
„Wir könnten ihnen wahrscheinlich auch nicht helfen. Alles was sie noch am Leben hält, sind diese Säulen“, versuchte er mich aufzumuntern und griff nach meiner Hand.
„Ist das auch eine Lüge?“
„Nein eine Vermutung, diese Mädchen sind nun schon über hundert Jahre alt, der Alterungsprozess würde innerhalb von Sekunden einsetzten und sie umbringen. Wir können diese Menschen nicht retten.“ Ich wusste nicht was ich darauf antworten sollte, also schwieg ich und beschleunigte meine Schritte.
Es dauerte nicht lange bis wir an eine weitere Tür kamen. Ich erkannte sie wieder. Es war die gleiche, die das Mädchen genutzt hatte. Hinter der meine komplette Familie gefesselt auf dem Boden gelegen hatte.
„Hier“, sagte Leandro und stupste mich an. Stirnrunzelnd nahm ich ihm ein silbernes und spitzes Messer ab.
„Was soll ich damit?“, hakte ich nach und steckte es in meine braunen Lederstiefel, die ich mir vorhin angezogen hatte.
„Wenn du die Chance hast, töte ihn.“
„Also in sein Herz und fertig oder was?“
„Quatsch! Was sollte das bringen? Das ist doch eh schon tot. Du musst auf eine ganz besondere Ader am Hals zielen. Sie versorgt den ganzen Körper mit frischem Blut und wenn du sie durchbrichst, wird er innerhalb von wenigen Minuten verbluten und schließlich austrocknen.
„Eine ganz besondere Ader? Habe ich Biologie studiert oder was?“
„Hier, es ist wichtig dass du die Vordere triffst“, antwortete er, hielt mir seinen Hals hin und fuhr mit seinen Fingern über eine Ader, die plötzlich ganz auffällig hervortrat.
Wie um Himmelswillen sollte ich diese Ader überhaupt finden?
„Die Hintere also? Das sollte nicht so schwer sein“, versuchte ich mir einzureden und wollte weitergehen. Doch seine Hand auf meiner Schulter zog mich zurück und hielt mich davon ab.
„Alex!“
„Was denn?“, fragte ich abwesend, während ich meine Finger auf die kühle Türklinke legte.
„Die Vordere.“
„Was?“
„Du musst die vordere Ader treffen.“
„Ja ja können wir jetzt?“, fragte ich aufgeregt. Wir waren so kurz davor, dass ich die ganze Aufregung, die Sorgen, die Befürchtungen und die Ängste nicht mehr verarbeiten konnte, geschweige denn verstecken könnte. Nervös zitterte nun auch meine Hand und meine ganzes Blut fing an in meinen Adern zu pulsieren.
„Warte, du solltest wissen, dass er auch ein Schattenwandler ist.“
„Was? Wie oft denn noch? Ich habe keine Ahnung von diesem ganzen Wahnsinn. Also was zur Hölle ist jetzt schon wieder ein Schattenwandler?“, zischte ich aufgebracht.
„Das bedeutet er kann sich in jeden verwandeln. Also wenn deine Mutter vor dir steht, überlege genau, ob nicht er es ist und dich zum Narren hält.“
„Was? Das sagst du mir erst jetzt? Wie soll ich das bitte anstellen?“
„Jeder von uns hat tiefe, dunkle Geheimnisse, die wir versuchen zu verstecken. Diese Geheimnisse wird er benutzen. Sie machen uns einfach am Schwächsten.“
„Umso mehr du mir über ihn erzählst, desto unwahrscheinlicher wird es, dass wir hier überhaupt lebend rauskommen. Geschweige denn ihnen helfen können.“
„Wir packen das, er kann sich nur auf einen von uns konzentrieren und...“ Das Knarren der Tür unterbrach ihn. Ich konnte nicht länger zuhören, ich musste dort endlich rein. Ich konnte sie durch die dicken Wände fast atmen hören. Wie sollte ich mich dann auch auf ihn konzentrieren? Mit zittrigen Händen und rasendem Puls öffnete ich die Tür und schritt zusammen mit Leandro in das Zimmer.
Dort saßen sie. Blutverschmiert, ängstlich. Ohne länger zögern zu können, stürzte ich auf sie zu und begann meine Mutter loszubinden. Doch sie schüttelte nur mit dem Kopf und bat mich darum, erst meine Geschwister zu befreien.
Ich hatte keine Zeit, um darüber nachzudenken. Also stürzte ich mich mit rasendem Herzen auf meine Geschwister und versuchte ihnen zu helfen.
„Versteck dich!“, schrie mir Leandro plötzlich leise zu und lief zu einem Tisch, der sich in der hinteren Ecke befand. Ein langes, edles Tischtuch war über ihn gelegt, dass fast bis zum Boden reichte. Perfekt um sich darunter zu verstecken. Die Schritte wurden lauter und kamen näher. Mir rann die Zeit unter den Finger davon und ich wusste nicht wo ich hin flüchten sollte. Es war unklug sich unter dem gleichen Tisch zu verstecken, also huschte ich schnell hinter die geöffnete Tür und hoffte, er würde sie nicht schließen wollen.
Die dumpfen Schritte wurden immer schneller und plötzlich waren sie so nah, dass ich die Befürchtung bekam, er könnte mich atmen hören.
Zitternd hielt ich mir die Hand vor den Mund und hoffte inständig, er würde einfach weiterlaufen. Doch natürlich tat er das nicht. Mit mächtigen Schritten kam er in den Raum geschritten und stellte sich in seine Mitte. Ängstlich lugte ich durch das Schlüsselloch und erkannte plötzlich, dass es nur mein Vater war, der hier stand.
„Dad?“, brachte ich fast sprachlos hervor, kam aus meinem Versteck gekrochen und fiel ihm in die Arme. Meine Freude hielt jedoch nicht lange an, als ich in Leandro´s versteinertes Gesicht blickte, der an der hintersten Ecke des Tischtuches vorbeischaute. Ich erinnerte mich an seine Worte, die mich nun mehr und mehr verunsicherten. Was wenn er Recht hatte? Wenn der Mann, den ich gerade in Armen hielt, gar nicht mein Vater war? Sondern dieses Monster, das alle diese Mädchen leiden ließ?
Wenn er gewusst hatte, dass wir zusammen kommen würden, dann war es nur logisch, dass er sich mich aussuchen würde. Mich schätzte er als die Schwächere und Unwissendere ein. Und wahrscheinlich hatte er damit sogar recht. Egal wie viel Mut ich mir zusprechen würde, mein Herz könnte sich niemals beruhigen und meine schüchterne Stimme würde sich ebenfalls nicht in etwas Selbstbewusstes verwandeln.
Vorsichtig schritt ich zurück und versuchte unbemerkt einen Sicherheitsabstand zwischen uns herzustellen.
„Wie habt ihr uns gefunden?“, fragte er erleichtert und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ihr? Woher wusste er, dass sich Leandro auch in diesem Raum befand?
Das durfte er doch gar nicht wissen. Zögernd kam er unter dem Tisch hervor gekrabbelt und stellte sich neben uns. Leandro´s misstrauische Blicke und das ungewöhnliche Verhalten meines Vaters machten mich stutzig. Meine Gedanken überschlugen sich und wurden immer verrückter. Wie sollte ich bei diesem Wirrwarr eine Entscheidung treffen? Wie? Es ging um meinen Vater!
„Du fragst dich, woher ich von ihm wusste, stimmst?“ Unsicher nickte ich. Die zweifelnden Stirnessfalten wurde ich trotzdem nicht los und auch meine hochgezogenen Augenbrauen hatten keine Lust sich wieder in ihre richtige Position zu begeben.
„Ich habe euch reden hören, außerdem habe ich gesehen, wie ihr aus dem ersten Zimmer geflohen seid.“
„Und warum haben Sie uns dann nicht angesprochen?“, mischte sich Leandro ein, der ihm immer noch kein Wort glauben konnte. Zugegebener Maßen war das auch eine berechtigte Frage.
„Ich habe den Grafen versucht von euch wegzulenken. Alexandra, vertrau mir, ich bin dein Vater und niemand anderes“, flüsterte er mir ins Ohr und starrte mir durchdringend in die Augen. Vertrauenswürdig funkelten sie mich an und ich konnte mir kaum vorstellen, dass das nicht mein Vater war. Hätte er meinen Namen nicht so eigenartig ausgesprochen. Er tat, als wäre er etwas besonderes, etwas magisches. Das tat er nie. Außerdem wusste er doch gar nichts von dem Fakt, dass dieser Graf sich verwandeln konnte. Warum ging er dann davon aus, dass wir denken könnten, er wäre nicht er? Ich versuchte meine Gedanken bei mir zu halten und spielte vorerst mit.
„Wo ist er jetzt?“
„Wer?“, fragte er vorsichtig und lief auf Mum zu, die bereits völlig erschöpft den Kopf an den Tischbeinen angelehnt hatte und das Geschehen verfolgte.
„Na der Graf.“
„Ich weiß es nicht. Ich habe ihn unterwegs verloren, aber er ist bestimmt auf direkten Weg hierher, also lasst uns schnell verschwinden.“ Nickend lief ich auf Mum zu und wollte sie befreien. Er tat es mir gleich und begann meine Geschwister loszubinden. Warum sollte er mir helfen, wenn er ein anderes Ziel hätte? Das machte wirklich keinen Sinn. Er musste also wirklich mein Vater sein und mit unnützen Gefrage würden wir nur Zeit verlieren. Mich hatte er überzeugt, nur Leandro war immer noch skeptisch.
„Warum hilfst du nicht?“, fragte ich aufgebracht und starrte Leandro auffordernd entgegen.
„Ich vertraue ihm nicht“, gab er zu und verschränkte die Arme vor der Brust.
Zögernd ließ ich von meiner Mum ab und stellte mich neben Leandro. Mein Vater hörte ebenfalls auf und kam auf uns zu.
Mir kam mir ein Geistesblitz. Meine müden Augen fielen auf seinen fehlenden Ehering. Das war etwas dunkles, bedeutungsvolles und einprägsames. Ich wusste zu was der Graf im Stande war, er hätte also keine Probleme, die Gedanken meiner Mutter oder meiner Geschwister zu lesen. Umso besser war es, dass sie nicht die wahre Geschichte kannten. Das war die Chance, Lügen und Geheimnisse aufzudecken.
„Alex warum zögerst du auch?“, rief mir Mum zu und machte eine Kopfbewegung zu meinen Geschwistern hin.
„Eine Frage habe ich noch an dich Dad und du musst mir versprechen, voll und ganz ehrlich zu sein“, begann ich und blickte ihm direkt in die Augen. Wenn das der Graf war, sollte er sehen, dass ich keine Angst vor ihm hatte. Angst davor meine Geheimnisse vor ihm preiszugeben. Wenn ich mich nur genug anstrengen würde. Könnte ich die Wahrheit vor ihm verstecken und somit sein wahres Ich auffliegen lassen.
Selbstbewusst machte ich mich ganz groß und schaute ihm angespannt in die vertrauenerweckenden Augen.
„Wo ist dein Ehering?“, fragte ich knapp und verschränkte die Arme vor der Brust
„Ich muss ihm wohl beim Schwimmen verloren haben.“
„Er muss ihn beim schwimmen verloren haben.“
„Er hat ihm beim Schwimmen verloren.“ Immer wider betete ich mir diese Sätze im Kopf vor, so lange, bis ich mir selbst glaubte.
„Und?“, fragte ich ungeduldig nach und war mir meiner Sache sicher. Entweder er würde in meine Fall tappen oder es war tatsächlich mein Vater.