„Dad“, platzte es aus mir heraus und überflutete mich mit einer Welle von Glückseligkeit. Doch das Gefühl des Glücks hielt nicht lange an. Überfordert sprang ich von der Bank auf und wollte ihm in die Arme fallen, doch etwas, fast wie eine unsichtbare Kraft, hinderte mich daran. Die Freude verschwand und anstatt Ihrer, machte sich in mir eine böse Vorahnung breit. Plötzlich verschwamm die Umgebung vor meinen Augen und ich stolperte zu Boden, obwohl ich nicht einmal einen Schritt vorwärts gemacht hatte. Völlig hilflos lag ich nun vor meinem Vater und hielt die Hände schützend vor den Kopf. Von wegen ich könnte alleine auf mich aufpassen! Nicht lange verharrte ich in dieser Position und sprang Kampfbereit auf. Ich weiß nicht genau was es war, das mir sagte, dass diese Begegnung nicht real sein konnte, aber es bestimmte alle meine Handlungen. Vielleicht war es sein Schweigen oder dieses eigenartige, verschmitzte Lächeln?
Das Verschwommene wurde immer stärker, bis ich nur noch Umrisse erkennen konnte. Ein Schwindelgefühl überkam mich und brachte mich zum Taumeln. Er hatte keine Mühe meinen langsamen Schritten zu folgen und so klebte er schon jetzt an meinen Hacken. Plötzlich umklammerten seine heißen Finger mein Handgelenk und zogen mich zu sich.
„Es ist besser, für uns beide. Das kannst du verstehen, nicht wahr?“ Meine trägen Augen entdeckten das, im Mondschein blitzende, Messer. Hitze stieg in mir auf und nahm mir den Atem. Ohne über etwas nachdenken zu können, riss ich mich von ihm los und steuerte geradewegs den Wald an, der ein paar Meter von hier entfernt war. Warum der Wald? Weil es dort eine Abkürzung zu mir nach Hause gab, ob ich diese jedoch finden würde war fraglich. Zu meinem Schwindelgefühl und dem Verschwommenen vor meinen Augen, begann mein ganzer Körper vor Angst zu zittern und die Schritte wurden immer unkontrollierter. Die Geräusche um mich herum blendete ich aus und hörte schließlich nur noch ein lautes, schrilles Piepen, das meine ganze Konzentration forderte.
Keinen Blick wagte ich nach hinten. Ich konnte nur Schatten erkennen und mir war klar, dass ich bald zu Boden fallen würde. Endlich, endlich sah ich den Eingang zum Wald. Vergebens versuchte ich das mulmige Gefühl in meinem Bauch zu ignorieren und hoffte ich würde dort lebend wieder raus kommen. Auch wenn es unvernünftig war, so wurden meine Beine immer schneller und die Angst größer. Das Licht um mich herum verschwand und ich wurde in elendige Dunkelheit getaucht. Jetzt musste ich mich auf mein Gefühl verlassen, das mir sagte, wann ich die Füße heben musste, um nicht über die Wurzeln zu stolpern. Den Wald kannte ich fast auswendig.
Eine Zeit lang bin ich jeden Tag durch diesen Wald gelaufen. Meinem Gefühl vertrauend, bog ich nach links ab und wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte. Die Luft um mich fühlte sich plötzlich zehn Grad wärmer an und ließ mich vergessen, dass ich mich Draußen befand. Letzte Nacht musste hier ein Sturm geherrscht haben. Ein Baum war schräger, als sonst zu dem kleinen Trampelpfad geneigt und versperrte mir nun den Weg. Den hatte ich logischer Weise nicht mit eingeplant und war nun mit voller Wucht gegen ihn gerannt.
Stöhnend fiel ich in das nasse Laub und merkte wie die Luft immer knapper wurde. Auch wenn ich dafür keine Zeit hatte, schloss ich für einen Augenblick die Augen und versuchte mich zu sammeln. Dunkelheit, Stille und einen Moment der Ruhe. Ängstlich öffnete ich die Augen und blickte plötzlich unendlich vielen, gelbe Augen entgegen. Ohne zu blinzeln gafften sie mich an und durchbohrten mich mit ihren kalten Blicken. Jede ihrer Musterung konnte ich genau erkennen, nur alles außerhalb dieser Augen war immer noch verschwommen. Ein Blinzelschlag verging und sie stürzten sich alle auf mich.
Ich schrie, ich schrie sie alle zusammen, doch sie rüttelten und kratzten weiter. Spitze Krallen bohrten sich in meine zarte Haut, fauler Atem trat mir in die Nase und spitze Zähne ragten mir entgegen. Sie stürzten ich auf meinen Brustkorb, drückten ihn runter und nahmen mir die Luft. Das ist nur in deinem Kopf. Das ist Alles nicht real, nein das kann es nicht sein!
Die Arme nach vorne gestreckt, sprang ich auf und versuchte sie von mir zu stoßen. Doch ich war zu schwach. Das ist nur in deinem Kopf! Wie eine Mauer standen sie vor mir und kratzen an mir, ohne Gnade. Ein Schrei entwich meiner trockenen Kehle, während ich mich aufrichtete und durch die seelenlosen Augen glitt. Mit einem kalten Luftzug raste ich direkt durch sie hindurch und brachte somit das leuchtende Gelb zum Verschwinden. Meine schweißnassen Hände strichen an der unebenen Rinde entlang, während ich versuchte die Orientierung wiederzufinden.
Schwankend irrte ich durch den Wald und schrie vor Freude auf, als mir helles Licht in die Augen drang. Das Verschwommene verschwand und verwandelte sich zu schwarz-weißen Umrissen. Trotz meiner Desorientierung fand ich die Straße. Meine Füße verließen den weichen Matschboden und erklommen die geteerten Straßen. Schnaufend schloss ich die Augen, doch als ich bereit war sie zu öffnen, spürte ich bereits den harten Boden an meinem Rücken und Gesicht. Dunkelheit holte mich ein und ließ meine Gedanken verschwinden.
Mit eiligen Schritten verließ ich das klare Wasser. Bis eben war es vollkommen ruhig gewesen, doch jetzt befanden sich hinter mir wellige Linien, die langsam über das Wasser, bis ans Ufer glitten. Der dichte Nebel wollte nicht verschwinden und verschlechterte die Sicht vor mir, aber das war kein Problem. Ich wusste wo ich war und ich kannte den Weg nun gut genug. Meine nackten Füße sprinteten über die unebenen Wurzeln und riefen in mir das Gefühl der Vertrautheit hervor. Eigenartig, wenn man bedenkt, dass es eigentlich sogar schmerzte, aber dieses Gefühl gab mir Sicherheit, was ich Zuhause nicht mehr hatte.
Als ich an der kleinen Holzhütte ankam war mir bereits bewusst, dass ich zu früh war und so wartete ich ganz ruhig auf den kleinen, schwarzhaarigen Jungen. Den frischen Kieferduft atmete ich genüsslich ein, der schon die ganze Zeit in der Luft lag und schreckte plötzlich zusammen, als sich die Sträucher neben mir zu bewegen begannen und aus ihnen der blauäugige Junge sprang. Mit der gleichen verängstigten Miene wie zuvor, lief er auf das Parkett zu und stellte sich vor mich. Ich konnte nicht anders als zu schmunzeln, während ich seine Sommersprossen begutachtete, die ganz meiner Mutter zu gleichen schienen.
„Verschwinde hier“, flüsterte er und versuchte mich mit seiner leichten Handbewegung in die kleine Siedlung aus Holzhütten zu scheuchen. Nicht lange zögerte ich und ließ mich auf sein wildes Gefuchtel ein. Gespannt schlich ich hinter die Holzhütte, auf dessen Terrasse sich der kleine Junge befand und lugte an der Wand hervor, um erkennen zu können, vor wem er sich so fürchtete. Erst ertönten die dumpfen Schritte, dann schob jemand die weiße Gardine beiseite und schließlich wurde die Tür von der unbekannten Person, mit voller Wucht aufgeschlagen. Ein breit gebauter Mann sprang aus dem Türrahmen und kam in Windeseile auf mich zu gelaufen. Dem Jungen hatte er keine Aufmerksamkeit geschenkt und ihn nur unachtsam zur Seite geschoben. Dunkle Adern traten unter seiner unreinen Haut hervor und er begann mich ganz einschüchternd anzustarren.
Eng kniff er die Augen zusammen und stemmt die Hände in die Hüfte, um den möglichst größten Einfluss zu ergattern. Unbemerkt lief ich einen Schritt zurück und stolperte über eine breite Wurzel, die mich zu Boden fallen ließ. Ich schloss gerade die Augen, als der Moment kommen sollte, wie sich das Holz in meinen zarten Rücken bohren würde, doch das Gefühl des Schmerzes blieb aus und ich fiel plötzlich in seelenlose Dunkelheit. Die ungewöhnlich hohe Stimme des Mannes folgte mir und seine aufgeregten Worte drangen in meine Ohren.
„Miss?“
„Geht es Ihnen gut?“ Seine Worte wurden immer deutlicher und mit ihnen drang mir ein ewiges Hupen in die Ohren und laute Reifen begannen knapp neben mir zu quietschen. In der Morgendämmerung öffnete ich die Augen und starrte dem Mann aus meinem Traum direkt in seine dunklen Augen. Unkontrolliert schliffen schwarze Reifen über die geteerte Straße und die Stoßstange eines Mercedes kam direkt auf mich zugerast. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sprang ich von der kalten Straße auf, zog den Mann mit mir und brachte uns in Sicherheit, bevor der Wagen direkt in die Motorhaube des Fahrzeugs neben uns, krachte. Der Airbag breitete sich rasend schnell aus und rettete der Fahrerin das Leben. Noch bevor ich zum Wagen stürmen konnte, um der Frau behilflich zu sein, wurde die Autotür aufgeschlagen und eine Frau mittleren Alters taumelte aus dem Auto. Unsicher stützte ich mich an der Laterne neben mir ab, als mich kurz ein Gefühl des Schwindels überkam.
„Oh mein Gott, habe ich jemanden verletzt? Geht es ihnen gut?“, schrie sie panisch und kam mit zittrigen Beinen auf mich zu.
„Mir geht es gut“, sagte ich knapp und ließ den Arm des Mannes los.
„Wo zur Hölle haben sie ihren Fahrschein gemacht?“, brüllte der Mann aufgebracht und musterte den Schaden seines Wagens. Ich warf dem kaputten Schrotthaufen ebenfalls einen Blick zu und muss zugeben, dass selbst ein Profi da nicht mehr viel machen konnte.
„Es tut mir so leid, ich habe nur kurz auf mein Handy gesehen und schon bin ich von der Spur abgekommen.“ Etwas Blut rann an ihrer Schläfe hinunter, doch das interessierte sie nicht besonders. Stattdessen wischte sie es nur kurz ab und fuhr sich dann schwer atmend durch die Haare. Der Geruch von Metall drang mir in die Nase und rief in mir die Angst hervor, die ich schon die ganze Zeit zu unterdrücken versuchte. Ich mochte den Geruch nicht, trotzdem bildete ich mir ein, dass der Geschmack von Blut unwiderstehlich sein musste.
„Nur kurz auf ihr Handy ja? Stellen Sie sich mal vor, sie hätten nicht nur den Wagen zu Schrott gefahren!“ Während seine strengen Worte Aufmerksamkeit bei der besorgten Frau fanden, richtete er seine linke Hand auf mich und fuchtelte vor mir, wild damit herum.
„Ich weiß, es tut mir unglaublich leid, ich weiß auch nicht was mit mir los ist“, seufzte sie und legte ihre Hände hinter den Kopf. Während ich ganz sprachlos neben den beiden stand und dem Gespräch folgte, brüllte der Mann ganz außer sich vor Wut. Ich hatte fast Mitleid mit der etwas, zu klein geratenen Frau, die durch seine Worte immer mehr schrumpfte und fragte mich, wie ich aus dieser Situation wieder raus käme. Ich hatte keine Ahnung wie ich hier überhaupt hineingeraten war und der Fakt, dass ich mich an die letzten Stunden kaum erinnern konnte, rief in mir ein ungutes Gefühl hervor. Zuletzt war ich im Wald gewesen und hatte diesen eigenartigen Augen entgegen gestarrt und dann? Wieder hatte ich diesen Traum gehabt. Na ja ein Traum konnte es kaum sein. Zögerlich starrte ich meine Füße an und bemerkte, dass Schuhe und Socken fehlten. Ich musste an diesem Ort wirklich gewesen sein, schon wieder. Aber wie war ich dort hingekommen? Wie?
„Ich habe so viel mit meinem Job zu tun, dass ich manchmal neben der Spur bin.“
„Natürlich der Job, damit können Sie ihre Unachtsamkeit aber nicht im Geringsten rechtfertigen!“
„Also ich habe noch eine Menge zu tun, klären Sie das untereinander“, schlug ich vorsichtig vor und machte kleine Schritte in die Richtung unseres Hauses, das auf der anderen Seite der Straße stand.
„Na na, Sie bleiben schön hier. Sie schulden mir noch einen Gefallen, immerhin habe ich sie von der Straße geholt, außerdem sind Sie Zeugin.“ Ich wollte gerade zu rechtfertigenden Worten ansetzen, da wurde unsere weiße Haustür aufgeschlagen und aus ihr trat Leandro. Er hatte sich nur flüchtig einen Mantel übergezogen und warf mir einen fragenden Blick zu. Hastig winkte ich ihn zurück und wollte, dass er bloß verschwand, doch diese Gelegenheit ließ er sich natürlich nicht durch die Lappen gehen. Ich seufzte, vielleicht war es gut, dass er kam, aber das würde ich natürlich nicht zugeben. Immerhin konnte ich dem Mann kaum erklären, dass wir eigentlich quitt wären, schließlich hatte ich uns beide vor dem rasenden Auto gerettet. Wenn ich das ansprechen würde, dann gäbe es nur unnötig Fragen, also wartete ich bis Leandro zu uns kam. Die perfekte Situation damit er sich wieder wie sonst wer aufspielen konnte, aber solange ich endlich ins Warme käme, würde ich auch seine arroganten Worte vertragen können.
„Gibt es ein Problem?“ Und er legte gleich los. Mit geschwellter Brust trat er an uns heran und musterte mich von oben herab. Seufzend fuhr er sich durch die frisch gegelten Haare und stemmte die Hände in die Hüfte, während er seine Blicke nicht von mir abwandte. Und schon wieder tat er es, stand vor mir, als müsse er mir einen Vortrag über Manieren halten, als wäre ich seine kleine Schwester, die sich nicht zu benehmen wüsste.
„Nein alles Bestens, du kannst gehen“, antwortete ich schnell und verschränkte die Arme vor der Brust. Okay vielleicht konnte ich seine arroganten Worte doch nicht so gut ertragen. Wenn er sich so aufführte, dann würde ich mir lieber selbst eine Ausrede überlegen.
„Sie kennen ihn?“, fragte der Autofahrer verblüfft, während er nach dem Arm der jungen Frau griff, damit sie nicht die Flucht ergreifen konnte.
„Ja ich kenne ihn und er mischt sich leider viel zu schnell in anderer Leute Angelegenheiten ein“, zischte ich und warf ihm einen genervten Blick zu, um verdeutlichen zu können, dass ich in keinster Weise auf ihn angewiesen war. Alles was er tun könnte, wäre die Situation schneller auflösen zu können, als ich. Er musste doch nur ein bisschen seinen Scharm spielen lassen und schon hätten alle das Szenario vergessen. Warum hatte er mir auch noch keine Hypnose beigebracht? Sicher nur um weiterhin den Beschützer spielen zu können. Typisch!
„Nur wenn diese Leute meine Hilfe brauchen.“ Verächtlich begann ich zu schnaufen. Gott er dachte echt immer noch, er müsse mich vor allem beschützen, vielleicht sollte er sich mal ein Kind anschaffen, da könnte er den ganzen, lieben, langen Tag den Beschützer spielen.
„Vielleicht sind die Leute von deinen ständigen Kommentaren und Versuchen, die Welt zu retten, genervt. Schon mal daran gedacht?“
„Sicher...“
„Ihre Streitigkeiten gehen mich nichts an und mittlerweile gehörig auf die Nerven, ich rufe jetzt die Polizei. Die soll sich den Sachschaden anschauen und überlegen, ob sie einen Krankenwagen rufen“, unterbrach ihn der Mann unhöflich und holte ein Telefon aus der Jackentasche.
„Ich denke das wird nicht nötig sein.“
„Ich dafür schon. Immerhin lag ihre Freundin bewusstlos auf der Straße.“
„Wir sind nicht zusammen“, riefen wir beide synchron und schufen damit für kurze Zeit eine unangenehme Stille. Super, jetzt hatte Leandro die beste Vorlage dafür, mich ausfragen zu können. Ich wusste ja noch nicht einmal selbst, wie ich hier gelandet war, da konnte ich getrost darauf verzichten, von ihm verhört zu werden.
„Legen Sie das Telefon zur Seite.“
„Nein.“
Mein Lachen konnte ich kaum verstecken, als ich sah, wie gern sich der Mann Leandro´s Worten widersetzte. Endlich mal jemand der ihm verklickerte, dass er nicht alles mit ein paar Worten wieder grade biegen konnte. Leandro´s Blick wurde zu Stein und er versuchte vergebens seine Gedanken, dem Mann ihm gegenüber, einzutrichtern.
„Geh, ich mach das hier.“
„Das kannst du vergessen, ich bleibe hier. Ich habe ja noch nicht mal um deine Hilfe gebeten.“
„Los verschwinde mach dich nützlich, deck den Tisch oder was weiß ich“, knurrte er gleichgültig und winkte mich zur Seite. Spinnt der?
„Was soll das denn? Ich bin nicht deine Hausfrau!“
„Alex, schon schlimm genug dass ich dir bereits am ersten Tag in deiner Heimat, aus der Klemme helfen muss, jetzt stress` mich nicht auch noch.“
„Zum hundertsten Mal, ich habe nicht um deine Hilfe gebeten! Wann geht das endlich in dein Erbsenhirn rein?“
„Alex!“, brüllte er nun mit Nachdruck und fuchtelte wild mit seiner freien Hand vor meinen Augen herum.