Elendiges Schweigen hatte sich über uns niedergelassen, das nur noch durch das Rollen unserer Fahrradreifen im Kies, unterbrochen wurde. Wir befanden uns kurz vor dem Gelände der Schule und schon jetzt hörte ich das viel zu laute Grölen, übermotivierter Schüler.
Auch wenn ich uns wieder zum Schweigen gebracht hatte, so hasste ich diese Stille zwischen uns. Sie ließ mich glauben wir hätten uns nichts mehr zu sagen und gab mir das Gefühl, als wären wir Fremde. Es war nicht, dass ich nicht wusste worüber wir reden sollten, ich wollte nur nicht. Unsere Gespräche endeten doch immer gleich. Wir schaukelten uns gegenseitig hoch und zum Schluss stand wieder etwas zwischen uns, was völlig uneindeutig war und mit dem niemand etwas anfangen konnte.
Seufzend fuhren wir auf den Hof der Schule und steuerten direkt die Fahrradständer an. Uninteressante Wortfetzen drangen in meine Ohren, doch schon bald hörte ich sie nicht mehr, denn ich war ganz in meiner eigenen Gedankenwelt versunken.
Mit weit aufgerissenen Augen zuckte ich zusammen, als Anne`s kalte Hand meinen Nacken streifte und sie mich zu sich in die Arme zog. Da mein Fahrrad noch nicht ganz gestanden hatte, lag es nun auf dem Boden und hatte ein ohrenbetäubendes Scheppern von sich gegeben, welches beinahe die gesamte Aufmerksamkeit aller Schüler, auf sich gezogen hatte.
Anstatt mich loszulassen, damit ich es peinlich berührt wieder aufheben konnte, drückte sie mich immer enger an sich und erstickte mich damit fast. Da ich Anne nur allzu gut kannte, wusste ich, dass es ihr ziemlich recht war, dass nun alle Blicke auf uns lagen. Wie auch sonst hätte sie sich am ersten Schultag in Szene setzen können? Endlich wurde ihr Klammern weniger und ich wollte mich gerade dazu durchringen das Fahrrad wieder aufzuheben, da war mir Leandro längst zuvor gekommen.
„Was für ein Gentleman“, quietschte Anne begeistert und funkelte ihn mit ihren grünen Augen an.
„Ach, der tut nur so“, lachte ich und stieß ihm verächtlich in die Seite. Plötzlich überkam mich das Bedürfnis allen zeigen zu wollen, wie er wirklich war. Sie kannten ihn noch nicht und so sah ich mich beinahe gezwungen, ihnen klar zu machen, dass er ein verdammtes Arschloch war. Ich war wieder in meiner vertrauten Umgebung und ich spürte, wie ich zunehmend sicherer wurde. Hier galten meine Regeln und hier hatte ich das Sagen. Leandro war ich an dieser Schule überlegen, schon alleine weil sie mich alle kannten und mochten. Es war ein tolles Gefühl ihm überlegen zu sein und ich konnte es kaum erwarten, das auszunutzen.
„Schau mal wer da kommt“, sagte Anne begeistert und machte eine sanfte Kopfbewegung nach rechts. Lächelnd drehte ich mich um und schaute in Tobis müdes Gesicht. Fast hätte ich ihn nicht wieder erkannt. Seine blonden Haare waren über die Ferien länger geworden und er hatte es verpasst sie wieder kürzen zu lassen. Seine sonst so strahlenden Augen waren müder geworden und seine Körperhaltung schlaff.
Er ließ mir ein kaum aufmunterndes Lächeln zu kommen und zog mich dann in seine Arme. Auch wenn ich ihn die ganzen Ferien über vergessen hatte, so fühlte ich mich plötzlich ganz wohl in seinen Armen und drückte ihn immer fester an mich. Im Augenwinkel sah ich, wie Anne ihren Arm lässig über Leandro´s Schulter schwang und ihn mit unwichtigen Dingen zu textete. Die kurze Freude über Tobi´s Aufmerksamkeit verschwand und die wütenden Gedanken über Leandro kamen zurück. Wie er dastand, sich bestens mit Anne verstand und sich betatschen ließ, obwohl sie sich nicht einmal kannten. Ich machte Anne keinen Vorwurf, sie war schon immer so gewesen und das würde sich wohl auch nicht mehr ändern, aber warum stieß er sie nicht weg? Natürlich wusste sie nicht, dass zwischen uns mal etwas gelaufen war, aber er wusste dass sie meine beste Freundin war und damit für ihn ein No- go!
Um nicht die ganze Aufmerksamkeit des Schulhofes auf uns zu ziehen, stieß ich Tobi etwas abseits von den anderen und verschränkte meine Hände in seine, achtete dabei aber ganz genau darauf, dass Leandro uns noch beobachten konnte. Ihn jedoch schien Tobi nicht im geringsten zu interessieren, nicht ein kurzen Blick schenkte er uns, stattdessen hörte er Anne`s Geschwafel ganz interessiert zu und lächelte ihr immer wieder verständnisvoll entgegen. Gut, wenn er mich so nicht bemerkte, dann musste ich eben einen drauf setzen. Ich wollte ihn endlich so verletzen, wie er mich verletzt hatte. Ja ich wollte Rache! Die Gedanken an unsere mögliche Versöhnung, daran es vielleicht doch lieber aufgeben zu wollen und daran, von ihm abhängig zu sein, verschwanden. Stattdessen wollte ich ihn nur noch leiden sehen. In mir kam ein Gefühl auf, das ich zuvor noch nie gehabt hatte. Klar, ich hatte mich schon oft an jemanden rächen wollen, aber noch nie zuvor hatte ich so sehr das Bedürfnis gehabt, jemanden zu zeigen, wie es sich anfühlte, so richtig verarscht und verletzt zu werden. Ich wollte, dass er es auch spürte, ich wollte dass er verletzt wird und ich wollte endlich das Gefühl haben, dass er all die Spielchen mit mir bereute. Dass er endlich mal verstand, wie es sich anfühlte unterlegen, abhängig von jemanden zu sein und sich ohne ihn einsam zu fühlen. Egal wie viele Menschen um einen herum standen.
„Warum hast du nicht angerufen?“
„Du weißt doch, ich war in England.“ Ununterbrochen starrte ich zu Leandro und wartete darauf, dass er uns endlich Aufmerksamkeit schenkte. Ich wollte doch nur einen Blick, um die Gelegenheit zu nutzen, Tobi zu küssen. Denn wenn ich das schon tat, gegensätzlich zu meinen Gefühlen, dann sollte er gefälligst auch herschauen!
„Alex?“ Ich war es gewohnt meinen Namen zu hören, doch wenn Tobi mich so nannte, wenn wir dabei so nah standen, dann fühlte es sich einfach falsch an. Leandro sollte meinen Namen so begehrend und liebevoll aussprechen.
„Was?“
„Hörst du mir noch zu?“
„Ja natürlich, ich habe mich nur gerade gefragt, wer der neue Lehrer ist.“
„Hm, also warum hast du nicht angerufen?“
„Habe ich dir doch eben schon gesagt, ich war in England.“
„Die ganzen zwei Wochen?“
„Ja? Anscheinend hörst du mir nicht zu“, fuhr ich ihn scharf an, wendete dabei aber meine Augen von Leandro nicht ab. Endlich, während er sich lachend eine Strähne nach hinten streifte, drehte er sich kurz zu uns um und musterte Tobi. Das war meine Chance! Ohne ihn auch nur noch ansatzweise zu Wort kommen zu lassen, drückte ich ihm einen Kuss auf, der letztendlich doch länger und intensiver von statten ging, als ich es geplant hatte. Und dafür erntete ich endlich die eifersüchtigen Blicke, die ich schon die ganze Zeit wollte. Als uns das Klingeln wieder auseinander riss, blickt ich Leandro für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen. Dieser Moment war fast magisch gewesen.
Ertappt hatte er sich schleunigst wieder zu Anne umgedreht, aber diesen einen, knappen, eifersüchtigen Blick, hatte ich bemerkt und dieser schwebte noch Ewigkeiten in meinen Gedanken herum. Seine Augenbrauen hatten fast bedrohlich nah an seinen Augen gelegen und sein Mund hatte einen Spalt weit offen gestanden. In seinen Augen hatte ich ein eifersüchtiges Funkeln erkennen können, das mein Herz hätte höher schlagen lassen, wenn es denn überhaupt noch geschlagen hätte.
Siegessicher konnte ich mein zufriedenes Lächeln nicht unterdrücken und gab Tobi einen Abschiedskuss, ehe ich mit Anne und Leandro in der Menge verschwand. Irgendetwas belangloses hatte mir Tobi noch hinterher gerufen, aber über das würde er mich spätestens nächste Pause aufklären. Auch wenn mein Gefühl des Sieges gerade alle negativen Gedanken verschwinden ließ, so war ich sehr froh, dass ich mit Tobi nicht in einer Klasse war. Dieser Kuss war nur wegen Leandro passiert und wenn ich daran dachte, dass ein Weiterer folgen würde, musste ich mich beinahe schütteln.
Während wir auf die überfüllten Flure zustürmten, überlegte ich kurz, wie ich mit Tobi Schluss machen sollte, doch dieser Gedanke verschwand, als Anne und ich von einem fetten, rothaarigen, mit Sommersprossen übersähten Jungen, zur Seite geschubst wurden. Er konnte maximal aus der Neunten sein und dafür führte er sich ganz schön auf.
„Na, jetzt wisst ihr wie es hier läuft“, lachte er dreckig und streckte uns den Mittelfinger entgegen. Empört über diese Unhöflichkeit, sahen Anne und ich uns irritiert an und forderten Leandro dazu auf, uns zu verteidigen. Doch so schnell wie dieser Winzling gekommen war, so schnell war er auch schon wieder verschwunden.
„Spast”, rief ich laut durch die Flure, aber die vielen Stimmen um uns herum übertönten mein Gekreische und das hätte ihn sowieso nicht sonderlich interessiert. Während wir uns durch die gefüllten Flure drängten, musste ich einer Menge von gestellten Beinen ausweichen und sah mich manchmal dazu gezwungen, die Luft anzuhalten, da sehr vielen Schülern ein Deo, kein Begriff war. Für Leandro war dieses Gewusel neu und man sah ihm die Erleichterung an, als wir in der ersten Etage ankamen und in unseren Klassenraum platzten.
Englisch, ein fast mörderischer Start für einen Montagmorgen. Nach jeden Ferien stand es uns offen, die Plätze zu wechseln, was ein kleiner Teil der Klasse gelegentlich auch nutzte, nur gewohnter Weise hielten sie uns die Plätze in der Mittelreihe frei. Nur dieses Mal hatten sie sich an das unausgesprochene Gebot nicht gehalten.
Die zwei Klassenstreber hatten sich auf unsere begehrten Plätze gesetzt und schauten uns nun mit großen Augen an, als wir plötzlich vor ihnen standen.
„Zischt ab“, fauchte ich und machte eine Kopfbewegung auf die erste Reihe zu.
„Wir dürfen uns umsetzen, ihr seid zu spät für diese Plätze.“
„Tina, Hörst du schlecht? Du sollst verschwinden und nimm dein Anhängsel von Bruder gleich mit“, knurrte Anne wütend und seufzte.
„Wir waren zuerst da, sucht euch einen anderen Platz“, murmelte sie, die Augen zu Boden gerichtet und versuchte mit einem Räuspern das Zittern in ihrer Stimme zu überdecken. Lachend stemmte ich meine Arme auf den Tisch und beugte mich zu ihr nach unten. Durchdringend blickte ich ihr in die Augen und zog eine Augenbraue hoch, die ihren Bruder fast zusammenzucken ließ.
Kleine, besserwisserische Streber. Wie ich sie hasste! Plötzlich war es ganz ruhig geworden und die gesamte Klasse lauschte, was wir uns zu sagen hatten. Der Druck wuchs und mit ihm meine Selbstsicherheit.
„Tina, ich hatte gehofft wir könnten das dieses Mal auslassen, aber wenn du...“, begann ich und setzte die restlichen Worte flüsternd in ihr Ohr fort.
„Ansonsten haben Anne und ich immer noch deine Tagebuchseiten, also falls du noch irgendwelche Einwände gegen meinen Vorschlag hast, wundere dich nicht, wenn sie auf Facebook auftauchen.“
Mit diesen Worten sprang sie auf, riss ihren Bruder mit sich und warf ihren Kram eine Reihe weiter nach vorne. Lauthals begann die Klasse zu grölen. Lachend schlugen Anne und ich ein, während wir unsere Taschen auf die Tische warfen.
Ich schenkte den beiden noch ein verächtliches Grinsen, ehe ich mich setzte und die Nachrichten auf meinem Handy zu lesen begann. Anne hatte sich auf meine linke Seite gesetzt, während sich Leandro mit meiner rechten zufrieden geben musste. Neben Anne hatte sich Emely niedergelassen, mit der wir nun vollständig waren. Ein paar der Jungs warfen mir anerkennende Sprüche zu, doch mit erhobenen Kopf ging ich nicht weiter darauf ein. Ich wusste, dass ich mir ganz schön etwas auf die Stellung innerhalb der Klasse einbildete, aber ich beschloss einfach den Ruhm solange zu genießen, wie ich ihn haben würde.
Allmählich kamen die Gespräche wieder in Gange und es herrschte eine allgemeine Unruhe, die langsam in zu lautes Schreien überging. Teilweise brüllten sie sich über Bänke hinweg an und schilderten ihre tollen Ferienerlebnisse. Die Erkenntnis, bei diesem Thema nicht mitreden zu können, ließ mich etwas runterfahren und katapultierte meine Gedanken an einen ganz anderen Ort. Ein paar Wortfetzen drangen mir in die Ohren, doch schon bald konnte ich auch diese ausblenden und begann darüber nachzudenken, ob ich zu Tina und ihrem Bruder hätte freundlicher sein sollen. Vielleicht, ja vielleicht wären wir so sogar Freunde geworden, dann hätte ich jedoch mein Ansehen und den Belibtheitsstaus verloren, den ich mir vor zwei Jahren so mühselig, zusammen mit Anne, aufgebaut hatte. Das Leben an der Schule war hart und so war ich lieber unfair und gemein zu anderen, als selbst fertig gemacht zu werden. Ich würde noch Probleme damit bekommen, einige Sprüche ertragen zu müssen, weil ich nicht geschminkt war. Außerdem war das Leben auch nicht fair zu mir, also brauchte ich kein schlechtes Gewissen zu haben.
In den zwei Wochen war ich viel zu selbstlos und freundlich geworden. Gott ich hatte mir wirklich Gedanken darüber gemacht, was andere von mir dachten, wie es ihnen ging und ob ich ihnen helfen konnte. Ja ich hatte mich sogar auf einen Geist eingelassen und war bereit gewesen ihr zu helfen. Und wo war sie gewesen, wenn ich sie gebraucht hatte? Richtig nicht da! Das war sie nie. Lynn tauchte nur auf, wenn es ihr gerade in den Kragen passte und wenn sie meine Hilfe benötigte. Also warum genau sollte ich meine Freundlichkeit beibehalten? Es hatte mir nichts gebracht, im Gegenteil, es hatte mich schwächer, verletzlicher und angreifbarer gemacht. Wäre ich dem alten Ich treu geblieben, hätte mich der Tod meines Vaters nicht so tief getroffen und auch die Spielereien von Leandro wären mir am Arsch vorbeigegangen. Es hatte mir verdammt noch mal nichts gebracht, stattdessen machte ich mir immer noch zu viele Gedanken über Leandro und warum er sich für Laureen entschieden hatte. Ich bekam die Befürchtung er hätte ein falsches Bild von mir, dass er mich beschützen müsste, doch dass wollte ich endgültig ändern. Wenn ich ihn nur unbeliebt genug in der Klasse machen würde, dann bräuchte er mich und nicht anders herum. Denn ich hatte feststellen müssen, dass mein komplettes Leben mit ihm verbunden war. Selbst wenn ich mich fern halten wollte, ja selbst dann führten alle Wege immer wieder zu ihm, also musste ich den Spieß doch nur umdrehen, richtig?
Seine Eifersucht schüren, ihn verzweifeln lassen und testen wie weit seine Geduld reichen würde. Seine Geduld mit mir und dem Leben eines Menschen, denn seinen Äußerungen nach zu urteilen, bekam ich das Gefühl, dass ihn das Leben als Menschen fast nervig vorkam.
Ich spürte wie mein Plan Hand annahm und wie ich sicherer darin wurde, gewinnen zu können. Zufrieden ließ ich den Blick über die Klasse schweifen und erschrak beinahe, als ich die ganzen Veränderungen bemerkte.
Einige hatten sich die Haare geschnitten und sie gefärbt. Andere hingegen waren vom Glitzer- Girl zum echten Emo konvertiert. Bei einem Jungen musste ich zwei Mal hinschauen, um zu erkennen, dass er überhaupt in unsere Klasse gehörte. Seine sonst natürlich, braunen Haare, hatte er blau gefärbt und sich einen Zeitcut rasieren lassen. Verwundert stellte ich fest, dass sich in den zwei Wochen nicht nur mein Leben verändert hatte. Wenn sich das Leben der anderen so drastisch verändert hatte, wie ihre Frisuren und Kleider, dann konnte ich mich wohl kaum beschweren. Ungeduldig schenkte ich für einen Moment der Uhr, über der Tafel, meine Aufmerksamkeit und bemerkte, dass sich unsere Englischlehrerin langsam sputen sollte.
„Hast du dich eigentlich angemeldet?“, flüsterte ich Leandro zu, um wenigstens einiger Maßen beschäftigt zu wirken. Sie waren allesamt so in ihre Gespräche vertieft, dass ich mir fast wie ein Außenseiter vorkam. Das konnte ich nicht leiden, auch wenn ich wusste, dass es ganz und gar nicht so war. Sie mochten mich, da war ich mir sicher und früher oder später, würden sie eh wieder auf mich zukommen und ein Gespräch mit mir anfangen.
„Hm.“
„Wann?“
„Was kümmert dich das?“
„Weiß nicht. Hast du irgendwie schlechte Laune?“, lachte ich schadenfroh und setzte mich auf den Tisch, eine Reihe hinter mir, wo es sich Emely und Anne längst bequem gemacht hatten. Gerade als ich mich an dem Gespräch beteiligen wollte, wurde die Tür mit einem lauten Knall aufgeschlagen und die Lehrerin stolzierte mit erhobenen Kopf herein. Ein verdammt amüsanter Anblick, wenn man bedenkt, dass sie kurze, eineinhalb Meter groß und auch sonst ein sehr zierliches Wesen war.
Keine Ahnung wer ihr erklärt hatte, sie könnte es mit einer zehnten Klasse aufnehmen, aber anscheinend hatten wir ihre Hoffnungen noch nicht völlig zerstört. Noch nie war sie auch nur ansatzweise ernst in unserer Klasse genommen worden. Es war für uns ein grandioser Sieg gewesen, als sie drei Wochen vor Ferienbeginn in der Klasse einen Nervenzusammenbruch erlitten und sich daraufhin die verbleibende Zeit krankgeschrieben hatte. Ein Grund mehr, warum sie keiner von uns zu akzeptieren wagte.
Üblicher Weise gab sie uns zehn Minuten, um über die Ferienerlebnisse plaudern zu können. Dass das bei zehn Minuten nicht bleiben würde, war hier jedem bewusst und mit Sicherheit auch ihr. Die für uns freie Zeit nutzte sie, um sich vorne sortieren zu können und sich den ersten Kaffee zu holen. Nachdem sie den Raum endlich wieder verlassen hatte, widmete ich mich erneut den Gesprächen.
“Wer ist der Neue, den du dort angeschleppt hast?“, fragte Albert, ein großgewachsener, blonder Typ, mit kleinen, unschuldigen und braunen Augen. Ich mochte ihn noch nie besonders. Vielleicht wegen seinen Sprüchen, die ich oft nichts kontern konnte oder wegen seinem Leben, auf das man neidisch war. Eigentlich hatte ich nicht so ein großes Problem damit, wenn Leute mehr Geld und Luxus hatten, aber er musste es uns jeden Tag unter die Nase reiben und das nervte.
„Der? Das ist nur mein Bruder.“
„Was? Warum wussten wir davon nichts?“
„Wie auch? Das wusste ich bis vor ein paar Wochen selbst nicht.“
„Sag mal, was ist das für ein eigenartiger Rotstich in deinen Augen?“
„Was?“, fragte ich verblüfft und fasste mir unbewusst an die Wimpern. Warum hatte er mir nichts gesagt? Mich gewarnt oder irgendwas der Gleichen?
„Ich ähm, also...“
„Ja,v das sieht echt interessant aus, steht dir“, meldete sich Albert zu Wort und zwinkerte mir entgegen, was ich nur mit einem Augenrollen abtun konnte.
„Das sind Kontaktlinsen.“
„Kontaktlinsen? Warum? Wofür jetzt dieser mystische Schein? Also ich finde ja, dass ihr das gar nicht steht, aber gut das fällt bei ihren heutigen... ähm Aussehen?... nicht mehr ins Gewicht“, lachte Anne und versuchte mich damit vor den anderen bloß zu stellen. Sie hatte wieder diesen abwertenden Blick drauf, den sie erst mir schenkte und dann den anderen. Doch davon ließ ich mich nicht beeindrucken. Ich hatte keine Ahnung warum sie das tat, vielleicht aus Neid, aber ich hatte mich dran gewöhnt und momentan störte es mich nicht mehr.
„Witzig, ich probiere mich für Halloween aus. Ist ja schließlich nicht mehr lange hin.“
„Na dann hast du dein Kostüm ja schon parat, aber jetzt ist es gar keine Überraschung mehr.“
„So unglaublich charmant, wie immer, nicht wahr Anne?“
„Halloween? Du willst dich doch wohl nicht so albern verkleiden oder?“, lachte Albert und stupste mir verächtlich in die Seite. Auch wenn ich ihn nicht mochte, so gefiel es mir, dass er es schaffte, Anne manchmal bloßstellen zu können.
„Klar verkleiden wir uns. Perfekt, da du es gerade ansprichst. Bei mir ist eine Homeparty geplant, heute natürlich“, warf Anne begeistert in die Ruhe und gab mir einen kontrollierenden Blick, der ihr versicherte, dass ich noch nichts besseres vor hatte.
„Klasse.“
„Wer hat gesagt, dass ich dich einlade Albert?“
„Ich bin das Anhängsel von Toni, also wenn du ihn dabei haben willst, musst du wohl auch mit mir Vorlieb nehmen.“
„Na gut, aber ohne Kostüm kommst du nicht rein, außerdem ist Kleopatra schon an mich vergeben.“
„Warum heute? Halloween ist doch erst in zwei Tagen?“, fragte ich verwundert und seufzte. Eigentlich hatte ich keine Lust auf eine Party zu gehen, dafür war ich viel zu müde, aber bei Anne durfte man nicht absagen, also musste ich das Beste daraus machen.
„Ach Albert, an Halloween bin ich bereits ausgeplant und woanders eingeladen, eine Party wollte ich trotzdem schmeißen.“
„Na gut, wenn du das nicht für albern hältst...“
„Albern? Ich bitte dich!“
„Wie kommst du eigentlich auf Kleopatra? Was hat das denn mit Halloween zu tun? Außerdem glaube ich nicht, dass sich Albert als Kleopatra verkleiden wollte“, lachte ich spöttisch und sprang vom Tisch, da unsere Lehrerin wie wild vorne rumzuzappeln begann und damit wohl versuchte, unsere ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen.
„Ist doch egal, Hauptsache hübsch, ach und bring dein Brüderlein mit, verstanden?“ Mit einem Augenzwinkern setzte auch sie sich und allmählich wurde die Klasse ruhiger. Das konnte sie getrost vergessen.
„Ich denke das waren jetzt mehr als zehn Minuten. Von daher werden wir gleich beginnen, doch bevor wir uns unserem neuem Thema widmen, möchte ich Ihnen noch den neuen Schüler vorstellen.“ Langsam schlich sie um unseren Tisch herum und deutete mit ihren knöchernen Fingern auf Leandro.
„Würden Sie sich bitte vorstellen”, forderte sie ihn mit einer knappen Geste auf und schritt wieder zu ihrem Tisch zurück, um sich dort von ihrem ersten Gebrülle erholen zu können. Den Kopf zu Boden gesenkt trottete er nach vorne und begann mir Hilfe suchende Blicke zuzuwerfen, die ich mit einer Leichtigkeit zu ignorieren wusste. Er sollte sich mal nicht so anstellen, er kam schließlich nicht aus der Steinzeit und hatte von Vorstellungen sicher schon einmal etwas gehört.
Unsicher räusperte er sich und zog damit sogar die Aufmerksamkeit der Träumer auf sich, zu denen ich an diesem Tag ebenfalls gehörte.
„Ich ähm... also bin hun...“, seine Worte stockten und mit hochgezogenen Augenbrauen musterte er mich. Dabei starrte er mich angestrengt an und suchte in meinem Kopf nach passenden Antworten. Doch ich ließ mich nicht auf seine bettelnden Blicke ein, wozu auch? Immerhin befanden wir uns im Krieg! Amüsiert lehnte ich mich zurück und hörte seinem Gestotter belustigt zu, während ich Anne vielsagende Blicke zuwarf. Fast jeden Tag hielt er mir ellenlange Vorträge drüber, selbst Lösungen finden zu müssen, dann sollte er jetzt mal zeigen, wie diese eigenen Lösungen aussahen.
„Also ich bin sechzehn Jahre und... komme aus... ähm... England.“ Prompt schloss ich die Augen, um vor Wut, die auf seiner Blödheit beruhte, nicht alle Bänke durch die Gegend zu schleudern. Schneller als gewollt, klebte meine flache Hand an der Stirn und hatte ein lautes Klatschen von sich gegeben, das nun die Aufmerksamkeit aller auf mich gelenkt hatte. England? Hatte er Selbstmordgedanken oder hatte er mir vorhin nicht zugehört, als ich meinte, wir hätten Englisch? Obwohl er in England gelebt hatte, so konnte er kaum einen Englischen Satz zustande bringen. In diesem Dorf hatten alle Deutsch gesprochen, warum auch immer. Mit dieser Aussage hatte er sich ziemlich in die Scheiße geritten. Mal sehen, wie er da alleine wieder rauskommen wollte. Von ihm erwartete sie nun akzentfreies Englisch, ohne Fehler, das er ihr bei Weitem nicht bieten konnte. Trotz aller Erwartungen entließ sie ihn schon nach diesen kurzen Worten und fuhr dann mit ihrem stumpfsinnigen Unterricht fort.
„Und war ich überzeugend?”, fragte er zweifelnd und ließ sich auf den Sitz neben mich fallen. Ungewöhnlicher Weise hörte ich seinen Atem und hätte schwören können, dass die gesamte Klasse seinen Herzschlag hätte hören können, wenn er noch existiert hätte.
„Ja, bis du etwas gesagt hast. Ernsthaft? England? Du weißt schon, dass wir Englischunterricht haben und du kein Wort davon sprechen kannst? Und jetzt mal ehrlich, warst du dort vorne festgewachsen? Also daran solltest du wirklich noch üben.“ Auf meine niederschmetternden Worte fiel ihm nichts besseres als Schweigen ein. Nachdenklich starrte er nach vorne und versuchte dem Unterrichtsgeschehen zu folgen.
Gelangweilt stützte ich meinen schweren Kopf auf die Handflächen und tat so, als wäre ich aufmerksam. Es war äußerst erstaunlich, wie selten die Lehrer einen dran nahmen, wenn man zwischendurch ein paar Mal nickte und erleuchtende Laute von sich gab. Müde starrte ich den tickenden Sekundenzeiger an und zählte die Minuten, Sekunden, bis wir endlich den Raum verlassen könnten.