„Du hast sie angelogen und in große Gefahr gebracht.“
„Unsinn, ich habe ihr geholfen, als du es nicht konntest.“
„Sie hätte sich immer an mich wenden können und das wusste sie auch, sie war einfach nur zu stur!“, zischte Leandro wütend und beschleunigte seine Schritte ein weiteres Mal, obwohl schon jetzt, alle Probleme hatten ihm folgen zu können. Mit breiten Falten auf der Stirn folgte ihm Lucas angespannt.
„Und warum hat sie es dann nicht gemacht? Hm? Du warst nicht für sie da! Du elendiger Lügner!“
„Immerhin habe ich ihre Schwierigkeiten nicht noch größer werden lassen“, antwortete Leandro spöttisch und warf Lucas einen Todesblick zu.
„Hallo? Ich bin anwesend! Redet mit mir und nicht über mich. Außerdem hört endlich auf euch wie kleine Kinder zu verhalten, die sich um einen Lolly streiten!“
„Wie oft denn noch? Ich habe ihr geholfen“, erklärte Lucas aufgebracht, ohne meinen Worten Aufmerksamkeit zu schenken. Seufzend legte auch ich einen Schritt zu, während ich Tomi lieblos hinter mir her zog. Warum rannten sie nicht gleich?
„Du hättest sie über die Nebenwirkungen aufklären müssen, dann hätte sie sich mit Sicherheit dagegen entschieden. Du hast sie verdammt noch mal angelogen!“
„Da habe ich wohl nichts anderes gemacht, als du. Wenigstens habe ich sie nicht gleich betrogen!“, fluchte Lucas nun außer sich vor Wut und sah Leandro mit zusammengekniffenen Augen an.
„Das Reicht!“, mischte ich mich schreiend ein, da sie ja nichts anderes verstehen wollten und zwängte mich, zusammen mit meinem Bruder, an ihnen vorbei.
„Hört endlich auf! Wir sind hier nicht im Kindergarten!“, ordnete nun selbst meine Mutter an und brachte die Streithähne endlich zum Schweigen. Sie hatte den ganzen Weg über fast keinen Ton von sich gegeben. Von dem Zeitpunkt an, als sie erfahren hatte, was noch Großes vor uns lag. Jetzt schwiegen wir wieder.
Wir legten noch einen ordentlichen Fußmarsch an den Tag, bis wir endlich an den Häusern der Panuletas ankamen und kurz verschnaufen konnten. Melonie wartete bereits draußen und empfing uns mit offenen Armen. Leandro hatte sie zu Beginn unseres Aufbruchs benachrichtigt und sie gebeten einige Räume für uns herzurichten. Noch in Hamburg hatten wir alle Handys wegwerfen müssen, damit uns niemand folgen würde. Wir konnten es nicht riskieren, dass sie die Handys abhören und den verborgenen Ort finden würden. Dort hatte ich die letzte Hoffnung verloren, mit Maya und Melina in Kontakt bleiben zu können. Freunde wie sie würde ich nie wieder finden.
„Schön das ihr sicher angekommen seid.”
„Sag mal, bist du gewachsen?“, fragte Melonie meinen Bruder freundlich und versuchte die angespannte Stimmung aufzulockern. Doch der rollte nur mit den Augen und starrte gelangweilt an ihr vorbei.
„Und du bist noch viel hübscher geworden“, schwärmte Melonie und umarmte mich fest.
„Danke“, antwortete ich peinlich berührt.
„Wir sind nicht hier, um über die guten, alten Zeiten zu quatschen. Wir haben Großes vor uns“, mischte sich Leandro ein, während er mir einen eigenartigen Blick zuwarf, den ich nicht deuten konnte. Irgendeine Mischung aus Eifersucht und Hass. So wirkte es jedenfalls auf mich, aber was er mir damit genau sagen wollte, fand ich nicht heraus.
„Du hast dich am Telefon nicht ganz klar ausgedrückt. Ich dachte ihr würdet uns nur besuchen kommen?“
„Glaub mir, auf Laureen könnte ich getrost verzichten“, erklärte ich schnell, bevor Leandro das Wort ergreifen konnte und brachte Melonie damit zum Lächeln. Ganz im Gegenteil zu Leandro, der mich nun mit genervten Blicken durchbohrte und mich zum Schweigen bringen wollte.
„Ich habe dich auch nicht vermisst“, ertönte plötzlich eine bekannte und doch gehasste Stimme. Arrogant und nervtötend, wie immer, stand Laureen neben mir und musterte meine Kleidung abwertend. Mir war nicht ganz klar was man bei einer schwarzen Jeans, einem einfachen, schwarzen Pullover und weißen Schuhen alles falsch machen konnte, aber sie schien ganz offensichtlich etwas zu finden.
„Wir denken, dass der Graf zurück ist und bevor er zu mächtig wird, müssen wir uns um sein Verschwinden kümmern “, sagte Leandro streng und erklärte die Pläne, die wir uns während der Autofahrt ausgedacht hatten. Von seinen Erzählungen driftete ich schnell ab und versuchte stattdessen jeden seiner Blicke zu folgen und seine Gesten zu analysieren. Gelegentlich warf er Laureen einen mysteriösen Blick zu, den ich weder kannte, noch verstehen konnte. Es war eine Mischung aus Neugierde, Vorwürfen und einem nachdenklichen Überlegen.
„Wollt ihr nicht reinkommen?“, warf Melonie plötzlich in die Runde und machte mich damit wieder aufmerksam.
„Nein, wir werden sofort aufbrechen“, entgegnete Leandro bestimmend und stellte endlich seinen Rucksack ab, während er Melonie auffordernd entgegen blickte.
„Was?”, schoss es aus Laureen und mir gleichzeitig heraus. Noch bevor Leandro antworten konnte, ergriff ich schnell das Wort, während ich Laureen zweifelnde Blicke zuwarf. Sie würde mir immer unsympathisch bleiben, selbst wenn sie plötzlich die freundlichste Person auf Erden werden würde.
„Hatten wir nicht gesagt, dass wir erst morgen aufbrechen sollten?“
„Du kannst machen was du möchtest, aber ich werde ihn heute noch zur Strecke bringen. Er weiß vielleicht noch nicht, dass wir bereits in England sind und es kann nur von Vorteil sein, wenn wir ihn überraschen.“ Schwer seufzte ich. Seine Argumente waren gut, aber ich war noch nicht bereit. Ich konnte nicht verstehen, dass er noch am Leben war und, dass wir ihn schon wieder töten sollten. Ich war aufgeregt und unheimlich nervös.
„Der Plan klingt gut, aber ich denke ihr solltet bis zur Morgendämmerung warten. Ihr habt seine Amulette, also ist er im Sonnenlicht geschwächt“, warf Melonie kritisch in die Runde. Verwirrt starrte meine Mutter in die Runde und wurde kreidebleich. Erst jetzt begriff sie wohl, welcher Gefahr wir uns schon wieder aussetzten würde. Melonie bekam das mit und nahm meine Mum tröstend in die Arme. Sie beruhigte mich ein wenig. Ich war mir sicher, dass sie sich gut um meine Mum kümmern würde... falls mir etwas passieren sollte.
„Bestimmt hat er sich das verschollene Amulett unter die Finger gerissen. Außerdem wird morgen ganz sicher nicht die Sonne scheinen“, entgegnete er geschickt und fing an in seinen Hosentaschen herumzuwühlen, bis er etwas gefunden hatte und dann seine Arme vor der Brust verschränkte.
„Es wird noch eine Weile dauern, bis wir Verstärkung zusammengetrommelt haben...“
„Das wird nicht nötig sein. Er soll nicht aufmerksam werden,... außerdem denke ich, dass er besonderes Interesse an Alex hat. Auf diese Weise könnten wir eventuell einen Pakt schließen, wenn wir ihn nicht überraschen können“, erklärte Leandro siegessicher und schaute dabei in die Runde. Nun verschränkte auch ich die Arme vor der Brust. So wie er sich ausdrückte, klang es beinahe so, als wolle er mich ihm überlassen. Als wolle er mich ihm ausliefern. Ich war mir plötzlich kaum noch sicher, dass mich Leandro im Zweifelsfalle wirklich beschützen würde. Kritisch sahen mich auch alle anderen an, die seinen merkwürdigen Unterton auch mitbekommen hatte. Alle, bis auf Laureen. Die nickte ihm nur eifrig zu und hing gebannt an seinen Lippen.
„Vorerst natürlich...“
„Haltet ihr es wirklich für klug, dort alleine hinzugehen?“, entgegnete Melonie besorgt und musterte ganz besonders mich, als könne ich ihn zur Vernunft bringen. Ich konnte ihn auch nicht zur Vernunft bringen, aber das wollte ich auch nicht mehr. Wir mussten das endlich beenden und Leandro hatte Recht. Mir schien der Graf aus irgendeinem Grund vertrauen zu wollen. Dieser Ort brauchte Frieden, endgültig. Frieden zwischen allen. Auch zwischen den Werwölfen und den Hexen. Den Werwölfen und uns. Dieser Wald brachte schreckliche Erinnerungen in mir hoch. Bedrohlich lag der Vollmond am Himmel, finsterer Nebel kreiste uns ein und die Dunkelheit war so schwarz, dass ich kaum etwas erkennen konnte.
„Für klug vielleicht nicht, aber für notwendig“, antwortete ich knapp. Vorsichtig schlich ich zu Melonie und flüsterte ihr ins Ohr, dass sie sich gut um meine Mum und meinen Bruder kümmern sollte. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen nickte sie mir zu und zog meinen Bruder näher zu sich ran. Sie versuchte mich in unserem Vorhaben zu bestätigen, doch etwas Besorgnis lag in ihren Augen und die ließ mich unruhig werden. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wir mussten ihn noch heute Nacht töten! Also zogen Lucas, Leandro und ich los.
„Ich bin echt gespannt, wie er aussieht, ob er tatsächlich so blutrünstig und mächtig ist, wie alle sagen“, erklärte Lucas plötzlich und ließ uns aufmerksam werden. Seine Augen glitzerten vor Aufregung und ließen mich denken, dass er den Ernst der Lage immer noch nicht begriffen hatte. Mir graute es vor der Begegnung und Lucas schien sich beinahe darauf zu freuen. Was dachte er? Wir würden dort reinspazieren, abfeuern und wieder gehen? Schon meine Vernunft überzeugte mich vom Gegenteil und das mulmige Gefühl, in meinem Bauch, machte das Ganze nicht besser.
„Du solltest nicht so euphorisch sein. Es besteht eine große Chance, dass du draufgehen könntest“, entgegnete Leandro forsch.
„Lass ihn in Frieden!”, zischte ich und strafte Leandro mit wütenden Blicken. Wie konnte man nur so taktlos und kindisch sein?
„Falls es euch noch nicht aufgefallen ist, wir haben etwas Entscheidendes zu erledigen und sind nicht auf dem Weg zur Schule.“ Meine Worte verstummten und mit ihnen tauchten wir wieder in gewohnte Stille ein. Ab und zu knackten ein paar Zweige unter unseren Füßen, während der Wind an uns vorbei sauste und mich zum frösteln brachte.
Den weiteren Weg über versuchte ich ihre kindische Art zu ignorieren und mich nicht länger darüber aufzuregen. Stattdessen spielten sich jegliche Szenarien in meinem Kopf ab. Immer wieder ging ich alle erdenklichen Möglichkeiten durch, wie wir dem Graf gegenüberstehen könnten und ihm geschickt entkommen würden. Wie und wann ich ihn endgültig umbringen würde. Mein Hass auf ihn war mindestens so groß, wie der auf Laureen und diesen Ort zusammen. Seine Taten verachtete ich zu tiefst und nur kurz fragte ich mich, ob er jemals anders gewesen war. Warmherziger. Dann aber erinnerte ich mich an vergangene Zeiten und beschloss, dass es so eine Zeit nie gegeben hatte. Wahrscheinlich war er nicht mal als Baby niedlich gewesen.
„Wohin jetzt?“, riss mich Lucas aus den Gedanken und blickte tatendurstig in meine Augen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Lucas seine Antwort bekam. Leandro und ich schweiften unbewusst in Erinnerungen. Erinnerungen an diesen Ort und unsere erste Begegnung. Das war mein Grund jedenfalls. Ob er auch daran dachte? Wie ich, starrte er der Rezeption entgegen und wirkte auf jeden Außenstehen, als wäre er nicht im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte.
„Nach oben“, murmelte Leandro nun geistesabwesend und brachte mich dazu, konzentrierter zu werden. Leise tasteten wir uns die Treppe hinauf. Das Knarren der Stufen ließ mich das ein oder andere Mal zusammenzucken, letztendlich kamen wir jedoch unbemerkt nach oben. Selbstsicher stand ich vor dem Geländer und machte mich bereit darüber zu klettern. Die ersten Schritte waren getan und ich hatte mich voll und ganz auf den Sprung vorbereitet. Ein Blick hinter mich genügte und ich war bereit loszulassen und zu springen, doch so weit kam ich nicht, denn plötzlich packten mich zwei kalte Hände und hielten mich davon ab. Empört stieß ich einen Laut aus und starrte Lucas vorwurfsvoll entgegen.
„Was zur Hölle sollte das?“, blaffte ich und drehte mich vorsichtig um, damit ich weiterhin tötende Blicke von mir geben konnte.
„Was auch immer du vor hattest, es wäre mit Sicherheit nicht gut ausgegangen“, lachte Lucas erleichtert und seufzte.
„Wir müssen durch das Portrait, es ist ein Portal. Ist eigentlich nicht so schlimm, wie man sichs vorstellt“, erklärte ich gehetzt und hoffte angespannt, er würde kein großes Drama daraus machen. Klar, es war eine verrückte Vorstellung, aber für Erklärungen hatten wir keine Zeit.
„Nicht so schlimm, wie man´s sich vorstellt? Wollt ihr mich verarschen. Ich weiß nicht wer von euch auf diese Schnapsidee gekommen ist, aber ich werde sicher nicht...“, fing er an zu fluchen, doch stoppte noch mitten im Satz, als ich mich einfach vom Geländer stürzte und ihn damit zum Schreien brachte.
Mein Körper tauchte sicher in die tristen Farben und fing an zu kribbeln. Angespannt versuchte ich den Bilder und ihren Geschichten keine Aufmerksamkeit zu schenken, doch so viel Beherrschung hatte ich dieses Mal nicht. Viel zu schnell gab ich mich ihnen hin und fing an nach einem Zusammenhang zu suchen. Ich wollte sie verstehen, verstehen warum sie existierten, was sie bedeuten sollten. Es konnten keine Erinnerungen sein, denn ich kannte sie nicht, trotzdem hatte ich nicht das Gefühl, sie wären mir fremd.
Um mich herum tauchten Bilder auf, die mehr und mehr Zusammenhang mit sich brachten, trotzdem verstand ich sie nicht. Das ich immer noch durch ein Portal flog, hatte ich längst vergessen und versank gnadenlos in einer anderen Welt.
Wieder zeigten sie mich und wieder konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie irgendetwas mit meinem Leben zu tun haben sollten. Sie zeigten mich, als ich noch ein Kind war. Ich hatte eine wilde, kurze Lockenfrisur, die mich nicht zweifeln ließ, dass ich das kleine Mädchen war. Außerdem hatte sie einen kleinen Leberfleck, über ihrem linken Auge, so wie ich. Meine neugierigen Augen strahlten mich an. Eifrig rannte ich über eine kleine Blumenwiese, direkt auf eine hübsche, blonde Frau zu. Sie lächelte mir entgegen und breitete schon jetzt ihre Arme aus, obwohl ich noch ein gewaltiges Stück von ihr entfernt war.
Schon beim reinen Zusehen konnte ich die Liebe zwischen uns spüren, wie ich mich nach ihr gesehnt hatte und es kaum erwarten konnte, den süßen Duft ihres Parfums einatmen zu können. Obwohl diese Frau mir in keinster Weise bekannt vorkam, hatte ich ihren Geruch in der Nase und ich war mir sicher, dass ich sie irgendwann mal gemocht hatte. Wie konnte ich diese Liebe spüren und mich plötzlich selbst nach dieser Frau sehnen, wenn ich sie doch nicht einmal kannte? Waren es die Gefühle, die ich für jemand anderes hegte? Waren es vielleicht die Sehnsuchtsgefühle, die sich auf meinen Vater bezogen?
Die Beiden beobachtete ich neugierig weiter und obwohl mein junges Ich, sich alle Mühe gab so schnell wie möglich zu ihr zu gelangen, ging es nur schleppend voran. Die Füße wetzten schnell über den geschnittenen Rasen, trotzdem schien die Zeit nur in Zeitlupe zu vergehen. Diese Schwere löste sich jedoch auf, als ihre sanfte Stimme in meine Ohren trat. Erst war sie so ruhig und unbeschwert, irgendwie neugierig. Doch mit der Zeit wurde sie energischer und nervöser. Ich verstand kein einziges Wort, es klang eher wie eine Melodie, die immer energischer wurde. Als würde Gefahr vor mir stehen, als müsste sie mich wecken, doch daran glaubte ich nicht. Ich wollte diesem Bild, dieser schönen, harmonischen Atmosphäre weiter zusehen und ignorierte alle warnenden Zeichen.
Für eine Weile konnte ich dieses Bild noch genießen und zusehen, wie Mutter und Tochter fast vor Vorfreude platzten. Doch dann spürte ich plötzlich einen starken Griff an meinem Handgelenk, der mich wegzerren wollte. Die Sonne hörte auf einmal auf zu scheinen und Raben zogen über unsere Köpfe umher, während sie schlechte Nachrichten verkünden wollten. Frischer Wind kam auf und ließ alles Schöne verschwinden. Die Gesichter verzogen sich zu Unglücklichen, Verängstigten und die einst so geborgene Stimmung, war längst verschwunden.
Gebannt starrte ich der Mutter entgegen, die nun auch zu laufen anfing und plötzlich wie hypnotisiert zu sein schien. Sie blickte weder links, noch rechts. Sie hatte kaum einen Fuß vor den Anderen gesetzt, da trat sie unüberlegt auf eine Straße, die vorher nicht dagewesen war und sackte zu Boden. Ein Auto erfasste sie von der Seite.
Viel zu spät hatte der Fahrer auf die Bremsen getreten und die Frau ohne Gnade erwischt. Ungute Stille lag in der Luft, jeder hielt die Luft an, wagte sich nicht, auch nur einen Ton von sich zu geben. Selbst das Stürmen und die Raben hatten aufgehört Geräusche von sich zu geben. Bis vier Schreie auf ein mal ertönten, die die Dunkelheit beschworen und mich wieder zurück katapultierten. Mit unaushaltsamer Geschwindigkeit raste ich durch den nun schwarzen Tunnel, immer noch fest von dieser Hand umschlungen. Lautes Piepen drang in meine Ohren, was mich dazu brachte, die Augen zu schließen und der Hand zu vertrauen, die mich leiten würde. Piepen und Geschwindigkeit wurden immer extremer, bis ich letztendlich vollkommen die Kontrolle verlor und ziellos durch die Unendlichkeit flog. Wahrscheinlich hätte ich aus ihr nie entkommen können, wenn diese Hand mich nicht zur Seite und damit aus allem heraus gezogen hätte. Mein Körper prallte unsanft zu Boden und brachte mit einem Mal Stille mit sich.
Doch dann ertönte eine Stimme, die mir bekannt vorkam und von der ich wusste, dass ich ihr vertrauen könnte. Erschöpft öffnete ich die Augen und blickte Leandro erleichtert entgegen. Schnell sprang ich auf und fiel ihm in die Arme. Ich drückte ihn immer fester an mich und nahm seinen Geruch voller Vorfreude auf. Er roch noch besser, als es die Frau getan hatte und meine Zuneigung zu ihm wurde immer stärker.
Stumm ließ er mich wieder los und machte einen Schritt zurück. Ehrlich gesagt hatte ich freundliche Augen und ein mitfühlendes Lächeln erwartet, doch stattdessen trat er mir nur mit Enttäuschung und Vorwürfen entgegen. Angespannt hielt ich die Luft an und hoffte er würde nichts sagen, denn jetzt, wo ich wieder klar denken konnte, wusste ich, welche Vorwürfe er mir an den Kopf werfen würde.
Kopfschüttelnd ließ ich von ihm ab und trat zurück, während ich anfing die Orientierung wiederzufinden.
„Du hast dich hinreißen lassen, schon wieder!“, zischte er vorwurfsvoll und versuchte meine Blicke aufmerksam zu fangen. Doch diesen Gefallen tat ich ihm ganz gewiss nicht. Lucas hingegen blickte immer noch fassungslos und verwirrt in der Gegend herum. Seufzend ließ ich die Beiden stehen und machte mich auf den Weg.
„Alex, verdammt rede mit mir. Du hättest sonst wo landen können“, fluchte er und rannte mir hinterher, während er Lucas mit sich zog. Was wollte er denn bitte von mir hören? Sollte ich zu Boden fallen und um Vergebung betteln? Wann begriff er endlich, dass ich nicht ansatzweise im Bilde über diese Welt war und das er mich gefälligst aufklären sollte, anstatt Vorwürfe zu machen? Seinen Wünschen ging ich nicht nach und so stürmte ich immer schneller den langen, schmalen Gang entlang, bis er mich plötzlich an der Schulter packte und zu sich zog.
„Hör bloß auf die Eingeschnappte zu spielen! Das können wir jetzt ganz gewiss nicht gebrauchen.“
„Schön. Dann hör du auf, mich wegen jedem Bisschen anzumachen und mir alles vorzuwerfen. Dann habe ich mich eben in den Bann reißen lassen und jetzt? Ich bin noch da, also freu dich doch einfach und lass diese ewigen Predigten. Die gehen mir nämlich gehörig auf die Nerven!“
„Alex!“, zischte er erschrocken und blickte mir gar enttäuscht entgegen.
„Was willst du hören? Lass mich doch einfach in Frieden!“, knurrte ich wütend, riss mich von ihm los und setzte meinen Weg fort.
Ohne weitere Worte folgten sie mir und vertrauten auf mein Wissen, das ich dieses Mal nicht hatte. Ich hatte keine Lynn mehr, die mir wertvolle und lebesrettende Tipps gab. Ich hatte keine Visionen, ich hatte nichts. Ich hatte nur einen Traum, von einem komplett leerem Raum. Mehr nicht. Instinktiv entschied ich mich also die kalte Steinwand entlang zu schleichen, vorbei an allem, was wir bereits kannten. Alte Erinnerungen kamen hoch und für einen kurzen Augenblick ließ ich sie zu.
Ich ließ die Bilder vor meinen Augen tanzen. Wie ich erschrocken in den Raum der Leichen gelangt war, wie ich meine Familie gefesselt hatte sehen müssen und wie ich ihm gegenübergestanden hatte. Schwer atmend schloss ich die Augen für einen Moment, ließ sie verschwinden und brachte meine gewöhnliche, versteinerte Miene an die Oberfläche.
Wenn ich ihm gegenüber treten würde, müsste ich bei der Sache bleiben, ich musste jegliche Ängste und schwächende Gefühle verborgen lassen. Entschlossen und nun voller Neugierde folgten wir dem Gang, bis zu seinem Ende, wo sich eine rabenschwarze Tür vor uns offenbarte.
Zögernd öffnete ich sie und trat in den Raum, ohne auf die anderen zu warten. Sie waren noch ein Stück von mir entfernt und schienen über etwas zu diskutieren. Seufzend ließ ich sie zurück und fing an, in seinen privaten Sachen herumzuschnüffeln. Als hätte er einen Fimmel für Ordentlichkeit, war sein Schlafgemach bis zur letzten Ecke akkurat gesäubert und die Decke auf seinem Bett glatt gestriffen. Sie endete auf den Millimeter genau, an der Bettkante. Die Wandfarbe irritierte mich etwas, da ich von tristen und trüben Farben ausgegangen war. Stattdessen jedoch strahlte mir ein helles Orange entgegen, das die ganze Atmosphäre etwas auflockerte. Offen gesagt hatte ich einen altmodischen und wohl viel zu klischeehaften Sarg erwartet. Aber wahrscheinlich war er einfach im hier und jetzt angekommen und hatte sich an den besonderen Komfort, eines Bettes, gewöhnt.
„Und jetzt“, fragte Lucas beinahe gelangweilt, als er ins Zimmer trat. Wahrscheinlich hatte auch er sich das Zimmer etwas mystischer vorgestellt.
„Durchs Fenster“, erklärte Leandro selbstsicher und trat zu uns. Schulterzuckend lief ich also auf das einzige Fenster, im Raum, zu und öffnete es. Ich kletterte auf das Fensterbrett und setzte mich an die Kante, sodass meine Beine in der Luft baumeln konnten. Lächelnd blickte ich gesundem Rasen entgegen, der freudig im leichten Wind wehte und mich für einen Moment gelassener werden ließ. Ohne länger drüber nachzudenken, stieß ich mich ab und landete sanft auf dem Boden. Das Fenster war nicht mal zwei Meter über mir, wieso sahen mir Leandro und Lucas dann kritisch hinterher? Schmunzelnd legte ich den Kopf in den Nacken und genoss ein paar Sonnenstrahlen, die mir ins Gesicht fielen. Immer wieder vermisste ich diese Wärme, immer wieder, wenn ich hier war.
Noch bevor ich die anderen zu mir rufen konnte, zerbrach der Boden plötzlich in Zwei und ich stürzte der Dunkelheit entgegen. Kurz ließ ich mich fallen und redete mir ein, dass ich träumen würde, dass es nur ein Teil einer Vision war, dass ich sicher wieder auf normalen Boden ankommen würde, doch dann gestand ich mir ein, dass das Gefühl anders war.
Es war fast wie ein Reflex, als meine Flügel zum Vorschein kamen und mich retten wollten. Fuck! Wie sollte ich die denn auf die Schnelle benutzen? Ich war noch nie geflogen! Gnadenlos zischte eiskalter Wind durch meine Haare und drängte mich immer näher an die kalte Steinwand. Ich war viel zu dicht an der Wand und konnte meine Flügel nicht richtig ausbreiten. Schmerzhaft kratzte der linke Flügel an dem Gemäuer. Der Wind drückte mich gnadenlos in die Tiefe. Panisch versuchte ich mich umzudrehen, damit ich mich mit den Füßen von der Wand wegstoßen könnte. Nach einigen Versuchen gelang es mir und ich konnte mich mit einem kräftigen Stoß aus dieser Enge befreien. Ich hatte einen guten Abstand zur Wand bekommen und konnte endlich meine Flügel richtig ausbreiten. Mit großen Schlägen trat ich dem Sturm entgegen und schaffte es allmählich wieder nach oben zu kommen. Meine Flügel fühlten sich schwer an, als hätte jemand Steine an sie geklebt. Nur schwer kam ich gegen den Wind an und er brachte mich viel zu oft ins Wanken.
Endlich hatte ich das Loch erreicht, aus dem ich gefallen war und visierte es unsicher an. Schaukelnd flog ich dem Fenster entgegen und versuchte durch die Öffnung zu gelangen. Kurz bevor ich den Fensterrahmen erreicht hatte, überraschte mich eine starke Böe von der Seite und schubste mich nach links. Mit einem lauten Knall flog ich gegen den Fensterrahmen und raste mit gigantischer Geschwindigkeit in den kleinen Raum. Scheppernd landete ich in einem Bücherregal.
„Was war das denn?“, fragte Leandro kurzatmig und nahm ein Buch von meinem Kopf, das beim Sturz auf mich gefallen war.
„Woher soll ich das wissen!“, zischte ich und strich mir eine wilde Strähnen aus dem Gesicht.
„Okay. Lasst uns weitergehen“, beschloss er und machte sich wieder auf den Weg zum Fenster, ohne mir aufhelfen zu wollen.
„Gibt es keinen anderen Weg?“, keuchte ich und stand auf. Eben hatte ich wohl mehr Glück, als Verstand gehabt. Es war reines Glück gewesen, dass ich nicht in der Tiefe verloren gegangen war. Ich hatte meine Flügel zuvor noch nie genutzt und ich hatte Angst, dass sie versteckt bleiben würden, wenn ich erneut springen müsste.
„Nein“, sagte er knapp und setzte sich auf das Fensterbrett.
„Entschuldigung! Ich bin gerade zum ersten Mal gesprungen!“
„Du hast doch hinbekommen, keinen Grund zur Sorge“, antwortete Leandro gleichgültig und stürzte sich in die Tiefe. Lucas zögerte nicht lange und machte seine gewagten Kunststücke nach, während er versuchte diese zu toppen. Ich konnte nur meinen Kopf schütteln. Das sie aus allem einen Wettbewerb machen mussten... Den einen Tag konnte er nicht aufhören mich zu bevormunden, mich beschützen zu wollen und schon am nächsten Tag war ihm plötzlich egal was mit mir passieren würde? Der Typ war so merkwürdig!
Mit einem unguten Gefühl im Bauch, ließ auch ich mich fallen und versuchte an ihnen dran zu bleiben. Doch dieses Mal ließen mich meine Fähigkeiten ziemlich im Stich, weswegen ich einige Anläufe brauchte, bis ich nicht mehr gegen die Wände flog oder ungebremst auf den Boden zuraste. Leandro hatte sich natürlich über meine Probleme ereifert und erklärt, dass es wohl das Einfachste auf Erden wäre. Diese Aussagen versuchte ich zu ignorieren, doch innerlich kochte ich vor Wut. Er konnte es einfach nicht lassen! Immer und immer wieder musste er mich provozieren und meinen Hass auf ihn schüren.
Eine Weile flogen wir den schmalen Gang einfach nach oben und ich fing an daran zu zweifeln, dass wir jemals ankommen würden, doch dann trafen wir endlich auf ein Fenster, das Leandro mit einer Leichtigkeit zerbrach. Unbeschwert schwebten Leandro und Lucas ins Zimmer. Ich hingegen fiel unsanft auf mein Hinterteil und erntete dafür von beiden schadenfrohe Blicke. Augen rollend schüttelte ich den Kopf und rappelte mich wieder auf, bevor jemand von ihnen auf die Idee kommen würde, mir hoch zu helfen. Wir hatten weitaus Wichtigeres zu tun. Sie verhielten sich kindisch und ich konnte mir kaum noch vorstellen, dass sie ein Jahrhundert älter, als ich sein sollten.
Eilig wollte ich aus dem Badezimmer stürmen, doch da hielt mich Leandro zurück und drückte mir etwas Kaltes in die Hand. Erschrocken starrte ich das Silbermesser an und verfiel für einen Moment in Starre. Bekannte Gefühle kamen in mir auf, mächtige Erinnerungen und Sorgen. Beim letzten Mal hatte ich gezögert, ich hatte ihn nicht töten können. Heute müsste ich den Mumm dazu haben! Ich musste es tun, schon allein aus Rache, für all das, was er mir und meiner Familie angetan hatte.
„Alles in Ordnung?“, fragte Leando plötzlich besorgt und legte seine Hand schützend auf meine Schulter. Zögernd nickte ich und legte meine schweißnassen Finger auf seine. Es war unsinnig sich wegen Kleinigkeiten zu streiten, wenn etwas so Beängstigendes und Furchterregendes vor uns lag. Angespannt umklammerte ich den kalten Griff des Messers fest und ging die Bewegungen durch, die sein Töten verlangen würde.
Leise schlichen wir nun aus dem kleinen Gang hinaus, bis wir auf einen schmalen Flur kamen, der uns direkt zu einer einzelnen Tür führte. Unsicher lief ich vor und versuchte die ungewöhnliche Enge des Flures zu ignorieren. Innerlich war ich aufgewühlt und unkonzentriert. Immer wieder malte ich mir die verschiedensten Szenarien aus, wie es verlaufen könnte, wie es verlaufen sollte.
Doch umso mehr ich darüber nachdachte, desto unruhiger wurde ich. Allmählich kamen wir der Tür näher und somit auch ihm. Wir wussten nicht, ob er sich wirklich dahinter befand. Doch mein Bauchgefühl sagte mir, dass er gefährlich nah sein musste. Ich war nicht bereit zu kämpfen. Ich hatte keine Vorbereitung, ich hatte kaum Wissen über diese verrückte Welt und ich konnte meine Fähigkeiten immer noch nicht richtig kontrollieren. Aber ich wollte ihn besiegen. Ich musste ihn besiegen. Das Grauen musste endlich ein Ende haben!
Mit zittriger Hand griff ich nach dem Türknauf. Die Schritte verstummten und wir hielten den Atem an. Nervös drehte ich den Knauf und öffnete die knarrende Tür.