Seufzend ließ ich mich auf den grauen Sitz fallen und schlug mit vollem Schwung die Autotür zu.
„Ja ich weiß, das Auto ist kein Panzer“, kam ich meiner Mutter zuvor und seufzte. Hatte er mich wirklich einfach einsteigen lassen, ohne mich überreden zu wollen? Jetzt war es wohl wirklich vorbei. Ihn würde ich nie wieder sehen, ich würde nie wieder in seine schönen Augen starren können und ich würde nie wieder seine zarten Berührungen auf meiner Haut spüren. Enttäuschung machte sich in mir breit und warf die Frage auf, warum ich bis eben überhaupt noch gehofft hatte, wenn es doch so offensichtlich gewesen war, dass er hier bleiben würde?
„Was schreist du hier so patzig rum? Und abgesehen davon, habe ich sowieso noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen.“ Mit hochgezogener Augenbraue drehte sie sich vom Steuer zu uns nach hinten um und warf mir ihren typisch, enttäuschten Blick zu. Es waren keine weiteren Worte nötig damit ich wusste, dass es sich um mein Verschwinden bei der Beerdigung handeln musste. Genervt schaute ich aus dem Fenster und hoffte sie würde es bei dieser Bemerkung lassen. Erst jetzt fiel mir auf, dass wir gar nicht in unserem Auto saßen. Statt drei, hatte es plötzlich fünf Türen und die Innenausstattung war nigelnagelneu. Es roch nach frischen Blumen und die Scheiben waren komplett sauber.
„Was war das vorhin eigentlich?“, unterbrach meine Mutter meine Gedanken und bekam daraufhin nur ein leichtes Schulterzucken als Antwort. Ich hatte wirklich keine Lust ihr Rede und Antwort zu stehen. Ich versuchte mir einzureden, dass es sie gar nichts angehen würde, doch mit diesem Argument brauchte ich meiner Mutter gar nicht erst kommen. Sie war nun mal meine Mutter und nahm sich daher das Recht raus, alles über mich und mein Leben wissen zu müssen.
„Ich habe keine Ahnung wo von du redest.“
„Stell dich doch nicht blöder als du bist. Die Beerdigung meine ich natürlich.“
„Was ist damit?“, fragte ich sichtlich genervt, während ich mich anschnallte und provozierende Worte versuchte zu vermeiden.
„Weißt du wie unhöflich es ist, einfach von einer Beerdigung zu verschwinden?“
„Keine Ahnung.“
„Weißt du wie du mich damit blamiert hast? Alle Blicke lagen auf mir, weil meine Tochter einfach ohne jegliche Worte von der Feier verschwunden ist.“ Verzweifelt biss ich auf meiner Unterlippe herum und versuchte mich auf sie zu konzentrieren. Immer wieder schweiften meine Gedanken ab und kreisten nur um Leandro.
Wie konnte ich sie auch nur so vor versammelter Mannschaft blamieren? Vielleicht hätte sie mal eine Sekunde darüber nachdenken sollen, dass ich es nicht gemacht hatte um ausgerechnet sie bloß zu stellen. Vielleicht wäre sie dann darauf gekommen, dass ich momentan wirklich andere Probleme hatte, als ihren kostbaren Ruf zu wahren. Unter normalen Umständen hätte ich sie wohl darauf hingewiesen, aber im Endeffekt hätte ich ihr dann auch noch von ihm und uns erzählen müssen. Und das wollte ich ganz bestimmt nicht.
„Können wir dann endlich losfahren?“, maulte ich und schauten den Regentropfen zu, wie sie die Fensterscheibe runterrannen.
„Wir müssen noch auf deinen Bruder warten“, entgegnete sie knapp und spielte mit dem neuen Autoschlüssel rum. Verdutzt runzelte ich die Stirn. Wo zur Hölle steckte der denn jetzt schon wieder? Prüfend wanderten meine Blicke über die Rückbank, wobei ich nur Mia entdeckte, die seelenruhig in ihrem Sitz schaukelte und mit einem Zopfgummi beschäftigt war, den ihr meine Mutter vorhin gegeben haben musste.
„Von wem ist eigentlich der Wagen? Und wie hast du den hier her bekommen? Der Waldweg ist viel zu schmal.“
„Das geht schon. Melonie hat mir eine Abkürzung gezeigt die uns direkt zum Hotel führt, außerdem hat Rick den Wagen hergebracht. Unser soll wohl ein technisches Problem haben. Sie können anscheinend nicht viel mit dem Wagen anfangen und haben ihn uns als Dank gegeben.“
„Als Dank?“
„Keine Ahnung was sie meinte, aber da sag ich doch nicht nein. Er ist vielleicht nicht das teuerste Modell, aber er fährt bestimmt besser, als unsere alte Schrottkarre.“
„Kann ich mir gut vorstellen, ich verstehe sowieso nicht, warum wir uns bis heute nichts neueres angeschafft haben, ich meine Anne...“
„Anne, immer musst du dich mit ihr vergleichen. Alte Sachen können auch ihren Wert haben, dass war der erste gemeinsame Wagen von eurem Dad und mir“, unterbrach sie mich und warf mir einen rechthaberischen Blick durch den Innenspiegel zu.
„Schrottkarre halt.“
„Ach ich wäre ihn auch noch eine Weile gefahren, aber der soll wohl keinen Muchs mehr von sich geben.“
„Woher kennst du eigentlich Rick?“
„Ich kenne ihn nicht, nur seinen Namen, aber er scheint ein netter Kerl zu sein, immerhin hat er auch schon unsere Sachen im Hotel zusammengepackt.“
„Was? Das ist doch nicht sein Ernst?“
„Entspann dich mal. Dann sind wir schneller zuhause und er wird schon nichts geklaut haben.“ Schwer atmend nickte ich. Na super, erst vermöbelte er Leandro und dann wühlte er auch noch in unseren Sachen herum. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass er das Packen unserer Koffer nur aus Nächstenliebe getan haben soll. Irgendetwas hatte er bestimmt gesucht und ich konnte nur hoffen dass er es nicht gefunden hatte. Sein erster freundlicher Eindruck muss wohl getäuscht haben oder ich schreibe ihm gerade Absichten zu, die ihm gar nicht in den Sinn gekommen wären. Doch ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand freiwillig unsere Koffer packte, ganz ohne Hintergedanken? Das jemand meine Mutter manipuliert hatte, war nach dieser Äußerung jeden Falls keine Frage mehr. Nie wäre sie so entspannt geblieben, wenn sie erfahren hätte, dass jemand unsere Sachen gepackt hatte.
„Man was macht er denn so lange? Wo wollte er denn hin?“
„Keine Ahnung was er macht, ihr wart doch die ganze Zeit zusammen bei der Verabschiedung.“
„Warte was? Von wem redest du?“, fragte ich erschrocken und spürte wie Panik in mir aufkam. Sie redete doch wohl nicht von Leandro oder? Falls doch, dann war das ein verdammt schlechter Scherz!
„Na Leandro wer sonst?“ Was? Was zur Hölle hatte dieser Vollidiot meiner Mutter eingetrichtert? Er hat ihr doch wohl nicht erklärt, dass wir Geschwister wären? Das er der längst verschollene Bruder wäre? Wenn das stimmte, dann... dann schwöre ich...
Das Öffnen der Autotür unterbrach meine Gedanken und Leandro setzte sich wie selbstverständlich neben Mia. Sie hatte keine Scherze gemacht, als sie meinte mein „Bruder“, würde noch fehlen. Was fiel ihm ein solche Lügen zu erzählen? Der konnte sich auf was gefasst machen!
„Und was ist mit Tom?“, fragte ich nach vorne und versuchte dieses verlogene Etwas, links von mir, so gut es ging zu ignorieren.
„Der sitzt doch hier“, lachte Mum und zeigte auf den Beifahrersitz neben sich. Ich glaube ich bin im falschen Film!
„Und was hast du ihm gegeben, dass er so ruhig ist? Ich höre ihn ja nicht einmal atmen?“
„Nicht viel, nur sein komischen Gameboy oder was weiß ich.“
„Hm“, brummte er, wobei er sich keine Mühe gab vom kleinen Bildschirm aufzuschauen. Endlich hörte ich das vertraute Geräusch des Motors und ließ mich für einen Moment aus dieser überfordernden Situation reißen. Ein leisen Klicken ertönte und damit schaltete sich die Kindersicherung ein. Das Motorgeräusch war etwas tiefer, als das unseres alten Autos. Trotzdem klang es nach Heimat.
Obwohl meine Sehnsucht nach meinem Zuhause mit der Zeit immer größer geworden war, war da etwas in mir, dass meine Euphorie nahm. Zuhause würde es komisch werden. Meine Mutter würde ihren Alltag unbeschwert meistern und glauben... Ja was glaubte sie eigentlich? Was hatte ihr Leandro erzählt? Dass mein Vater Verwandte besuchte? Auf einer Geschäftsreise war oder zum Militär gegangen war? Egal was er ihr erzählt hatte, sie, Tom und Mia glaubten daran, nur ich war diejenige, die die Wahrheit kannte und die nicht an irgendwelche Lügen glauben konnte.
Mit meiner Mutter würde ich schon alleine deshalb aneinander geraten und wenn jetzt auch noch er mitkommen würde, dann würde ich nie Frieden finden.
Zum Hotel fuhren wir eine knappe Viertelstunde, da meine Mutter für den schmalen Waldweg eine Ewigkeit gebraucht hatte. Die Wurzeln und das glatte Moos hatten ihre schlechten Fahrkünste nur noch schlechter werden lassen. Die ganze Fahrt über hatte ich immer wieder zwischen meinem verregneten Fenster und Leandro hin und her geschaut. Ich hatte versucht nur für eine Sekunde seine Aufmerksamkeit zu bekommen und ihm vermitteln zu können, wie wütend ich auf ihn war, doch er hatte sich zu schützen gewusst. Stur hatte er die ganzen 15 Minuten über nur gelangweilt aus dem Fenster gestarrt, ohne auch nur ansatzweise seinen Kopf zu drehen.
„Na dann lasst uns die Koffer holen“, schlug Mum ganz aufgeregt vor und stellte das Auto auf dem leeren Parkplatz ab. Nur unser Auto konnte ich erspähen, das mit offener Motorhaube am letzten Rand des Parkplatzes stand und auch sonst einen sehr instabilen Eindruck machte, wenn ich den Kombi im Gegensatz dazu betrachtete, in dem wir gerade saßen.
„Lass mal Mum. Mein BRUDER und ich werden die Koffer holen, schau du lieber noch einmal nach unserem Auto, vielleicht lässt sich da ja etwas machen“, versuchte ich meine Mutter noch umzustimmen, damit ich mit Leandro noch ein paar klärende Minuten alleine verbringen konnte. Nichteinmal der Weckruf: „Bruder“, konnte ihn aus dieser Starre wecken, doch vielleicht war das gut so, so könnte ich ihn überrumpeln und blöd dastehen lassen.
„Seit wann interessierst ausgerechnet du dich, für den alten Wagen?“ Sie hatte Recht eigentlich gar nicht, aber irgendwie musste ich sie ja loswerden.
„Das mit den alten Erinnerungen hat mich eben berührt. Außerdem kann dann Tom mit Mia im Wagen bleiben, das geht doch eh viel schneller.“ Meine Worte mussten letztendlich wohl doch ziemlich überzeugend gewesen sein, immerhin nickte sie mir schließlich geschlagen zu und stieg aus dem Auto, um zu unseren alten Wagen zu schlendern.
„Komm“, forderte ich nur und stieg ebenfalls aus dem Wagen. Als er sich nach wenigen Augenblicken immer noch nicht regte, schlug ich die Autotür so laut zu, dass selbst meine Mutter, mehrere Meter weiter weg, zusammenzuckte.
„Sorry Mum, die Tür hat geklemmt.“ Mit dieser Lüge wanderte ich um den Wagen herum, riss Leandro´s Autotür auf und starrte ihn wütend an.
„Brauchst du eine Extraeinladung oder was? Komm gefälligst da rausgekrochen!“
„Hm.“ Wütend über die Teilnahmslosigkeit, stampfte ich auf den Eingang des immer noch finsteren und irgendwie unheimlichen Schlosses zu und blieb schließlich vor den riesigen Türen stehen. Gemütlich kam er mir hinterher getrottet und öffnete ohne jegliche Anstrengung die Tür vor mir. Als hätte er doch schon Mal was von dem Wort Gentleman gehört, ließ er mich zuerst eintreten und schloss die Tür hinter uns. Muffiger Geruch drang mir in die Nase und die dunkle Empfangshalle rief in mir alte Erinnerungen wach. Auch wenn es gerade mal vor eineinhalb Wochen war, kamen mir diese Erinnerungen so vor, als wären sie schon vor vielen Jahren entstanden. Während ich mich auf die ersten morschen Stufen wagte, blieben meine Blicke an der unbesetzten Rezeption hängen.
Dort war unsere erste Begegnung gewesen, ob er es noch genauso gut wusste, wie ich? Ob er sich auch noch an jedes einzelne Wort erinnerte? Erinnerte er sich noch an diesen magischen Moment? Wie ich ganz hilfesuchend in seinen Armen gelegen hatte und wie mein Herz das erste Mal viel zu schnell, nur wegen ihm geschlagen hatte? Kurz ließ ich mich von den alten Gefühlen und Erinnerungen überrumpeln, doch dann spürte ich seine Schuhe in meinen empfindlichen Hacken und bekam schon einen Moment später den harten Boden zu spüren.
„Sorry“, murmelte er und lief an mir vorbei, ohne auch nur die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, mir wieder aufzuhelfen.
„Was fällt dir ein?“, beschwerte ich mich und lief schleunigst auf ihn zu, um ihn dazu zwingen zu können, mir antworten zu müssen.
„Komm mal runter, Prinzesschen.“
„Wie bitte? Was erlaubst du dir eigentlich?“ Oh er brauchte mir jetzt bloß nicht mit Prinzesschen zu kommen! Was war überhaupt sein Problem? Sollte nicht nur ich diejenige sein, die wütend, pissig und besonders patzig antworten sollte?
„Keine Ahnung was dein Problem ist“, murmelte er leise vor sich hin und trat in das bereits offene Zimmer ein. Ich zögerte kurz, bog dann aber kurzerhand ins Badezimmer ab. Vor der Fahrt musste ich noch mal aufs Klo, damit ich nicht in irgendwelchen Büschen gehen müsste.
Die Hände über den Kopf zusammengeschlagen, verließ ich das Badezimmer schleunigst und schritt in unser ehemaliges Hotelzimmer rein. Ich konnte meinen Augen kaum trauen, als tatsächlich vier, fertig gepackte Koffer vor unseren Füßen standen.
„Und ich dachte er würde scherzen“, murmelte ich leise vor mich hin und begann die Räume nach vergessenen Sache abzusuchen.
„Was?“
„Nichts.“
„Aha“, knurrte er und verdrehte die Augen. Ihn schien alles was ich sagte aufzuregen, so als könne ich ihm nichts mehr Recht machen. Das wollte ich auch gar nicht, immerhin müsste er das bei mir versuchen, aber seine kalte, ungewohnte und unfreundliche Art machte mich stutzig.
„Hast du irgendein Problem damit?“ Er schwieg nur und hob den ersten Koffer an, um ihn die Treppe runter zu tragen.
„Leandro?“ Stille. Kopfschüttelnd zerrte ich meinen Koffer durch die Tür bis ins Treppenhaus. Dort angekommen hievte ich ihn Stufe für Stufe runter und hoffte Leandro würde ihn mir auf halber Strecke abnehmen. Doch so viel Anstand besaß er natürlich nicht. Während ich mich immer noch auf der Treppe mit dem Teil rumquälte, kam er dieses Mal mit Zweien um die Ecke geschossen und trug sie runter, als würden sie nicht schwerer als eine Feder sein. Ich überlegte ob ich mir meine neu gewonnen Fähigkeiten zu Nutze machen sollte, doch ich wartete lieber noch einmal und beobachtete, ob er ihn mir dieses Mal abnehmen würde.
Was hatte ich gedacht? Natürlich ging er auch dieses Mal nicht auf meine Bemühungen ein und lief schnurstracks an mir vorbei, um die Tür zu schließen.
Da er mir sowieso nicht helfen würde, nutzte ich einfach meine neu erworbenen Fähigkeiten und ließ den Koffer die restlichen Treppen hinunter schweben. Dabei hatte ich leider nicht bedacht, dass mein Koffer doch etwas schwerer war, als das einfache Messer. Auf halber Strecke verließ mich die Kraft und ich verlor die Kontrolle. Gerade als Leandro neben mich trat, drohte der Koffer zu Boden zu stürzen und er konnte die Gelegenheit nutzen, um heldenhaft einzuspringen.
„Kriegst du überhaupt etwas hin?“ Hätte er wenigstens geschmunzelt, wüsste ich er würde es nicht ernst meinen, aber seine versteinerte Miene gab mir das Gefühl, als hätte plötzlich er das Recht dazu, wütend zu sein. Dabei hatte doch er sich wie das letzte Arschloch verhalten. Er war der Schuldige, warum war er dann so abweisend zu mir?
„Das fragst ausgerechnet du?“, zischte ich entschlossen und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ja das frage ich.“
„Spinnst du eigentlich? Wie konntest du meiner Mutter ohne Absprache einreden, du wärst mein Bruder?“, fragte ich endlich und hielt ihn zurück, da er schon wieder dabei war, der Diskussion einfach aus dem Weg zu gehen. Er wusste, dass wir dieses Thema weder im Auto, noch später Zuhause anschneiden konnten.
„War nötig.“
„Ja natürlich, um sich den Platz in meiner Familie zu sicher oder was?“
„Schwachsinn.“
„Was du da veranstaltet hast, war Schwachsinn. Wie kamst du überhaupt auf diese Schnapsidee? Ich meine Bruder? Hast du ihr das nicht erklärt, als wir noch zusammen waren? Was denkst du denn wie schwer es gewesen wäre, die Wahrheit zu verstecken... Ach nein warte, du bist ja ein Meister darin“, brüllte ich durch die leere Empfangshalle und lauschte dem leisen Echo.
„Es war die beste Entscheidung und jetzt lass uns gehen.“
„Willst du mich völlig verarschen? Was soll das?“, fragte ich fassungslos und konnte kaum glauben, dass er so tun wollte, als wäre nichts dabei ihn als Bruder haben zu müssen.
„Was?“, fragte er seufzend und drehte sich mit genervtem Blick um. Wie konnte man so dreist sein und all meine Wünsche und Bitten ignorieren? Nicht nur, dass er mich absolut verarscht hatte. Jetzt ignorierte er auch noch meinen Wunsch, dass er hier bleiben sollte und tat dabei so, als würde ich mich grundlos aufregen.
„Kannst du mal damit aufhören dich wie ein kleines Kind zu benehmen? Du tust so als hätte ich dir irgendetwas getan, dabei bist du derjenige, wegen dem alles in die Brüche gegangen ist.“
„Aha.“ Seine Stimme war kalt geworden und obwohl mir dieses Verhalten noch deutlicher zeigen sollte, was für ein verdammmtes Arschloch er war, fing ich einfach an seine alte, einfühlsame Art zu vermissen.
„Willst du mich verarschen? Du bist hier das verdammte Arschloch!“
„Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?“ Das war eine gute Frage. Er hätte sie einfach nicht küssen sollen. Warum war er plötzlich überhaupt so abwensend? Die letzten Minuten hätte er sich doch wohl noch zusammenreißen können. Wenigstens das hätte er tun sollen.
„So sein wie du vorher auch warst. Gerade bist du so anders und komisch, dass ich anfange zu glauben, dass ich rein gar nichts über dich wusste.“
„Richtig dramatisch wie du das sagst, aber wir wissen ja beide dass du eine Ader für Dramatik hast.“
„Na und? Selbst wenn, was interessiert dich das noch?“
„Es interessiert mich gar nicht.
„Hast du überhaupt irgendetwas, von dem was du gesagt hast, ernst gemeint?“
„Nein, ich dachte das wäre dir mittlerweile klar gewesen. Ich bin einfach nur ein guter Schauspieler.“
„Das glaube ich nicht. Du kannst mir nicht erzählen, dass all diese schönen Momente gespielt waren.“
„Doch das kann ich.“
„Wenn du meinst, aber dann habe ich noch zwei Fragen an dich: Was ist das mit Laureen?“
„Was soll das schon sein? Ich will mit ihr zusammen sein“, flüsterte er und zerbrach das letzte Stück Hoffnung in tausend Scherben. Klar, ich hatte um Wahrheit gebeten, doch jetzt wo sie mich so sehr verletzte, wollte ich sie gar nicht mehr hören.
„Warum bleibst du dann nicht hier? Warum willst du mitkommen? Lass mich doch einfach gehen.“
„Kann ich nicht.“
„Warum? Weil du denkst ich komme nicht zurecht oder was? Weil ich in deinen Augen immer noch das kleine, hilflose und schüchterne Mädchen bin?“
„Nein, aber ich könnte mir nicht verzeihen, wenn dir etwas passiert, also komme ich mit.“
„Ach wie selbstlos von dir.“
„Hör auf mit dieser Ironie, ich bilde mir nichts darauf ein, es ist einfach eine Tatsache.“
„Schon klar, nur ziemlich widersprüchlich, wenn man bedenkt, dass ich dir im Grunde völlig egal bin.“
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Schwachsinn. So wie du mich behandelt hast, habe ich dir keine Sekunde lang etwas bedeutet. Was ist es, was du über mich noch so unbedingt herausfinden musst?“
„Da ist nichts, ich fühle mich einfach nur verpflichtet dir zu helfen, immerhin habe ich dich in das Ganze mit reingezogen“, sagte er energisch. Warum musste er sich nur so aufspielen? Der dachte wirklich ich würde ihn so dringend brauchen. Na gut vielleicht brauchte ich ihn auch bei einigen Dingen, aber ich wollte doch nicht die ganze Zeit mit ihm zusammenleben. Ich musste ihn schließlich endlich lernen zu hassen und zu vergessen! Und das würde wohl kaum funktionieren, wenn wir im selben Haus leben würden.
„Ich habe keine Lust auf dein Heldengetue und vor allem habe ich keine Lust mit dir auf Happy Family zu tun. Lass mich doch einfach in Ruhe!“, zischte ich, schnappte mir zwei Koffer und wollte zum Auto zurücklaufen. Ich wusste nicht was ich ihm noch sagen wollte. Klar brauchte ich ihn, aber ich wollte ihn nicht brauchen und genau das brachte mich in einen Zwiespalt. Und vor allem wollte ich nicht zugeben, dass ich ihn brauchte. Kopfschüttelnd hielt er mich zurück und sah mir tief in die Augen. Was soll das denn schon wieder? Der wusste doch selbst nicht was er wollte!
„Du weißt, dass du mich brauchst. Mach es dir doch nicht schwerer, als es eh schon ist.“
„Ich sehe keinen Sinn mehr in dieser Unterhaltung, also lass mich los. Dann komm eben mit, aber denk bloß nicht, dass ich dir dein Leben einfach machen werde“, zischte ich und verschwand.