Seelenruhig stand er in der Mitte des leeren Raumes. Uns kehrte er den Rücken zu, während er fast benommen auf etwas starrte. Etwas kleines, das er sich mit seinen großen Klauen genommen hatte. Schweigend versuchte ich mich leise an ihn ranzuschleichen, der Rest folgte mir nicht. Es wäre wohl zu riskant gewesen, wenn sie mir gefolgt und damit Geräusche von sich gegeben hätten. Fest umklammerte ich das Messer in der Hand und versuchte alle Fragen in meinem Kopf zu löschen. Egal was er über mich und diese Welt wusste, wir würden es auch ohne ihn rausbekommen.
Alles was ich zu tun hatte, wäre ein Stich, ein Treffer und die ganze Aufregung würde sich legen. In mir pulsierte alles, meine Hand war voller Energie und sie sprudelte fast über. Warum musste ich es übernehmen? Warum waren sie selbst so feige und überließen mir, einem einfachen Mädchen, diese Aufgabe? Wollten sie mich testen? Vorführen oder stärker machen? Versprachen sie sich überhaupt etwas von diesem Versuch? Sollten sie das? Sollte ich das?
Meine Gedanken und Fragen verdrängte ich. Es wurde ernst, denn nun trennten uns nur noch wenige Zentimeter. Umso näher ich ihm kam, desto nervöser wurde ich. Er stand völlig ausgeliefert dar und trotzdem machte er mir Angst. Wir waren zu dritt und er allein.
Ich machte einen letzten Schritt auf ihn zu, sprang vorsichtig ab und führte das Messer sicher an seinen Hals. Die Spitze streifte gerade seine bleiche Haut, als er sich ruckartig umdrehte, mein Handgelenk packte, das Messer aus meiner Hand schlug und mich mit einem kräftigen Stoß nach hinten schob. Erschrocken stolperte ich rückwärts und fiel zu Boden.
Gehässig lachte er und trat bedrohlich auf mich zu. Schmunzelnd streckte er seine dürren Finger nach mir. Kopfschüttelnd lehnte ich sie ab und stand ohne seine Hilfe auf. Er war noch viel größer und furchteinflößender, als ich es in Erinnerung hatte. Leandro und Lucas waren bereits zur Hilfe geeilt und versuchten sich bedrohlich in Szene zu setzten, doch davon ließ er sich natürlich nicht einschüchtern.
„Hast du wirklich geglaubt, du könntest mich töten? Auf diese lächerliche Weise? Daran werden wir wohl noch arbeiten müssen“, lachte er dunkel und blickte mir dabei tief in die Augen. Schnell wollte ich seinem fesselnden Blick entkommen, doch ich zwang mich selbst dazu, in seine verhängnisvollen Augen zu schauen, bis er den Blickkontakt selbst brechen würde. Er sollte denken, dass ich mich nicht vor ihm fürchtete.
„Ich muss schon sagen, dass ich überrascht war, als ihr mich das letzte Mal so überrumpelt habt. Einen unschuldigen, alten Mann.“
„Unschuldig? Du hast meinen Vater getötet!“, zischte ich wütend und machte einen Schritt auf ihn zu, bevor er das tun konnte.
„Du glaubst immer noch daran, dass er dein Vater war?“, lachte er spöttisch und musterte mich.
„Was ist das für eine Frage? Natürlich ist er das!“
„Deine Naivität ist wirklich entzückend und belustigend.“ Seine Stimme war dunkler geworden. Kälter und Rachsüchtiger.
„Freut mich, dass ich dich amüsiere.“
„Ach Alexandra, dein ganzes Leben steht auf dem Kopf, ich mache mir Vorwürfe deswegen. Ich hätte dich von Anfang an aufklären sollen.“
„Ich verstehe nicht“, antwortete ich leise. Mein Atem ging schnell und meine Knie waren weich. Mein ganzer Körper zitterte vor Anspannung und ich wusste, dass ich meine Aufregung nicht mehr verbergen konnte.
„Ich dachte ich würde das Richtige tun, wenn ich dich vorerst aus Allem raushalte, dich normal aufwachsen lasse, aber es war wohl ein Fehler. Diese Welt ist zu gefährlich für Unwissende, gut Behütete. Ich konnte dich nicht beschützen während ich weg war.“
„Beschützen?“, lachte ich. Wann hatte er mich jemals beschützt? Er hatte mir so viel genommen. Er war ein Monster!
„Ich bin nicht der, für den du mich hältst.“
„Hör auf so zu reden! Wir sind hier nicht für ein Kaffeekränzchen. Drück dich endlich klar aus oder wir werden unseren Versuch fortsetzten!“, drohte ich mit Nachdruck und warf Leandro einen fragenden Blick zu. Doch dieser schien mich nicht wahrnehmen zu wollen. Stattdessen starrte er nur auf die Lippen des Grafen´s und versuchte seinen Worten einen Sinn zu geben. Etwas Zeit verging, in der er weiter so mysteriös und geheimnisvoll sprach, doch Leandro schien es allmählich verstehen zu können, denn das Fragezeichen in seinem Gesicht wurde immer kleiner.
„Ich könnte dir erzählen, warum deine Mutter sterben musste.“
„Schwachsinn, sie lebt und wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, dann mach ich dich fertig. Dann werde ich dich windelweich prügeln, bis du darum bettelst, endlich sterben zu dürfen!“, schrie ich nun außer mir vor Wut und funkelte ihn böse an. Doch er zeigte sich weiterhin unbeeindruckt.
„Ich rede nicht von der Frau, von der du denkst, dass sie deine Mutter ist. Ich rede von der großen Liebe meines Lebens.“ Ich schluckte. Wollte er mir gerade erklären, dass er mein Vater war? Dass meine Mutter tot war? Was zur Hölle ging hier ab?
„Alexandra, zusammen könnten wir so viel schaffen, wir könnten diese Welt regieren, dieses Universum! Du musst mir nur vertrauen“, erklärte er euphorisch und kam mir nun so nah, dass ich seinen warmen Atem an meinen Wangen spüren konnte. Lächelnd reichte er mir seine Hand. Ich musterte ihn kritisch. Er sprach, als wäre er sich keiner Schuld bewusst. Als wären wir so etwas, wie Freunde. Ich vergaß seine Taten nicht, aber wenn er mich so ansah, dann überkam mich plötzlich das Gefühl, ich könnte ihm vertrauen. Schwachsinnig natürlich. Unmöglich, aber in diesem Moment schien es beinahe so, als wäre er aufrichtig. Also bräuchte ich keine Angst haben, ihm zu vertrauen.
„Bevor ich mich dir anschließe, sterbe ich lieber!“, zischte ich. Warum hatte ich kein zweites Messer in meinem Ärmel? Dieser Moment wäre perfekt gewesen, um ihn zu töten.
„Lass es mich erklären, dann verstehst du, warum ich so handeln musste.“ Unsicher sah ich zu Leandro. Was wollte er mir erklären? Egal was es war, wenn er in seine Erzählungen vertieft wäre, hätten wir vielleicht ein leichtes Spiel. Vielleicht könnten wir ihn dann umbringen.
„Lass es ihn versuchen“, sagte Leandro klar und stellte sich zusammen mit Lukas, neben mich.
„Wollt ihr euch nicht setzen?“
„Nein, wir stehen lieber“, zischte ich immer noch wütend. Er zeigte sich weiterhin unbeeindruckt. Mit versteinerter Miene holte er sich einen Stuhl aus dem Nebenraum und setzte sich. Ich war fest entschlossen gewesen, während seiner Erzählungen aufmerksam zu bleiben, doch seine Worte zogen mich schon ab dem ersten Satz, in ihren Bann:
„Ich hatte meine Augen noch geschlossen, als ich nach ihrem schmächtigen Körper greifen wollte und mich ihrer zu nähern versuchte. Doch neben mir befand sich nur noch ein Haufen von Kissen und Decken, die schon lange kalt geworden waren. Seufzend verließ ich die wohlige Wärme und schlenderte in die Küche, aus der der Geruch von frisch gemahlenen Kaffee drang. Bezaubernd wie immer, stand sie in der Mitte des Raumes und wusch die Teller des gestrigen Tages ab. Den Tisch hatte sie bereits gedeckt und wartete nur noch auf mich. Stumm schritt ich zu ihr und platzierte meine kühlen Hände, an ihre warme Taille. Kurz erschrak sie, dann aber erkannte sie mich und lehnte ihren Kopf sanft an meine Schulter.
„Wir haben Sonntag. Warum bist du so früh auf?“, erkundigte ich mich und führte sie an ihrer noch nassen Hand zum Tisch.
„Ich konnte nicht schlafen, Larissa war früh erwacht. Außerdem war ich gewollt, mich um den Garten zu kümmern“, erklärte sie schmunzelnd und nahm sich eine Scheibe Brot vom Tisch.
„Du hast heute deinen freien Tag. Den Garten wird Ms. Charls zu pflegen wissen.“ Mr. Charls war ein freundlicher Gesell und der Butler des Hauses. Er besaß nicht viel Verstand, aber seine Aufgaben erledigte er stets gewissenhaft. Außerdem war er ein ausgezeichneter Zuhörer, der einem meist mit einem gut gemeinten Rat zur Seite stand. Auf Mr. Charls hatte ich mich mein ganzes Leben verlassen können.
„Das ist mir bewusst, aber ich genieße es, wenn die Sonnenstrahlen auf mein Gesicht fallen und ich währenddessen in der Erde graben kann.“ Zufrieden lächelte ich sie an. Ihr Strahlen warf mich immer wieder aus der Bahn. Jeden Tag begann sie mit Dankbarkeit und Liebe. Sie ließ mich den Hass, den ich viele Jahre gespürt hatte, vergessen. Ihre Augen hatten etwas ganz Besonderes an sich. Sie waren voller Güte und Liebe. Ebenso, wie die Augen meiner Larissa. Zusammen machten sie mich vollkommen und gaben mir die Erkenntnis, der wirklich bedeutsamen Dinge des Lebens. All das Schlechte, was mir widerfahren war, gehörte längst der Vergangenheit an und fand keinen Platz mehr in meinem Leben.
„Gehen wir spazieren?“, fragte ich in die Stille hinein, als ich bemerkte, dass ich sie die ganze Zeit angestarrt haben musste.
„Gewiss mein Liebling.“
Nachdem wir unsere Speisen gegessen und uns frisch gemacht hatten, verließen wir das Schloss und begaben uns in den Wald. Sonnenstrahlen fielen durch die Äste und Zweige der Bäume, die langsam wieder Blätter bekamen. Es war ein frischer Frühlingsmorgen, an dem die Vögel schon fleißig sangen. Wie zufällig und gleichzeitig selbstverständlich, verschränkten sich unsere Finger ineinander und brachten mir die Nähe, die ich seit diesem Morgen vermisst hatte. Nach einer Weile kamen wir zu einem Baumstamm, dort ließen wir uns nieder und verschnauften für einen Augenblick. Stürmisch küsste sie mich und drückte mich so fest an sich, dass mir die Luft wegblieb. Ihre Nähe machte mich zu der glücklichsten Person auf diesem Planeten. Sie war der Grund meiner Glückseligkeit. Ich liebte sie und das, was sie aus mir gemacht hatte. Einst war ich so machtgierig und unausstehlich gefühlskalt gewesen. Alles hatte sich um meinen Bruder und mich gedreht, wer die größere Macht von uns habe und wer am Grausamsten herrschen konnte. Doch dann begegnete ich ihr, zuerst mit reinem Hass. Habe sie für nicht mehr, als eine Zwischenmahlzeit gehalten. Doch dann trafen sich unsere Blicke zum ersten Male und ihr bescheidenes Lächeln machte mich benommen. Für all das, was sie mir tagtäglich gab, war und bin ich dankbar. Sie war die beeindruckendste und liebevollste Person, auf die ich je getroffen bin.
„Ich liebe dich“, flüsterte ich sachte in ihr Ohr und legte meinen Arm um sie, damit sie sich enger an mich schmiegen konnte. Genüsslich nahm ich ihren Geruch in mir auf. Sie roch frisch, nach Blumen.
„Ich liebe dich auch. Womit habe ich dich verdient? Diese Frage begleitet mich jeden einzelnen Tag“, entgegnete sie leise und legte ihre kühle Hand an meine Wange. Ihre Berührungen ließen mich verrückt werden. Sie machte mich verrückt.
„Einfach, weil du du bist. Für deine unbeschreibliche Fürsorge und Güte. Für die Liebe, die du teilst und dafür, dass du immer erst an andere denkst. Mein Engel“, erklärte ich lächelnd und sah, wie helle Röte in ihr Gesicht stieg. Wieso konnte sie nicht verstehen, wie großartig sie war? Sie war das reine Gute. Sie war unschuldig und reinen Herzens. Immer wieder fragte ich mich, ob sie sich jemals zu schlechten Taten hatte hinreißen lassen, doch dann trafen sich unsere Blicke wieder und ich war mir sicher, dass diese umwerfende Frau, nicht einmal schlechte Gedanken besaß.
Eine Weile noch verweilten wir nebeneinander und genossen unsere seltene Zweisamkeit. Irgendwann jedoch begann sie zu frieren und wir machten uns wieder auf den Heimweg. Wir waren so im Gespräch vertieft, dass ich nur noch Augen für sie hatte und die lauernde Gefahr, um uns herum, nicht erkannte. Mich ereilte ein heftiger Schlag auf den Hinterkopf, der mir die Dunkelheit näher brachte.
Als ich die Augen wieder zu öffnen wagte, war ich tief im Wald versunken. Panisch versuchte ich mich in die Senkrechte zu begeben, doch die Stricke um meine Handgelenke hatten mich fest im Griff. Ein Zauber hatte das Seil versiegelt, der nur aufgehoben werden konnte, wenn die Hexe, die ihn ausgesprochen hatte, ihn auflösen würde.
Eine sehr große Frau schritt auf mich zu und beugte sich zu mir runter. Sunshine! Sie hatte so einen großen Hass auf mich, dass sie alles für mein Verderben tun würde. Vor einem knappen Jahrhundert war sie in mich verliebt gewesen, doch ich hatte diese Liebe nie erwidern können. Seitdem versuchte sie mein Leben zu zerstören. Sie wollte mich umbringen. Man ließ sie in dem Glauben, dann von mir loskommen zu können und jemand anderen zu finden. Doch diese Annahme war nur eine Theorie. Es hieß, dass man eine geringe Chance auf eine weitere Liebe hatte, wenn die eigene, große Liebe, den wahren Tod finden würde. Aber wie konnte sie mir das antun? Nachdem wir so viele Jahrzehnte befreundet gewesen waren?
Als ich in ihre bedrohlichen, grünen Augen starrte, erkannte ich ihren teuflischen Plan. Sie hatte alle zusammen getrommelt, alles Übernatürliche, was hier Zuhause war. Sie hatte sie überzeugen können, dass meine große Liebe, meine Alexandra, eine Bedrohung darstellte. Unruhig sah ich mich nach meiner Geliebten um. Dort saß sie. An einen Baum gefesselt. Nie könnte sie irgendjemanden etwas zu Leide tun. Es war lächerlich, dass sie Angst vor ihr hatten.
„Was willst du?“, fragte ich laut und hoffte sie provozieren zu können. Sie sollte einen Fehler begehen, ihr verdammt gut ausgeklügelter Plan, sollte scheitern!
„Lawrence, du weißt genau weshalb ihr hier seid. Deine Sterbliche könnte uns in ernste Gefahr bringen.“
„Was gibst du nur für einen Unsinn von dir? Du besitzt genügend Verstand, um zu wissen, dass sie niemanden etwas tun würde. Sie lebt jetzt schon seit fünf Jahren hier und es gab noch nie unangenehme Vorkommnisse, sie betreffend.“
„Das mag sein, aber ruf` dir die Vergangenheit in Erinnerung. All das Leid, das dir und uns widerfahren ist. Wegen Ihresgleichen. Erinnerst du dich noch an deine Qualen? Wie du von ihnen verstümmelt wurdest? Von den Menschen? Wie sie dich fürchteten, dich töten wollten? Noch schlimmer, wie sie an dir experimentiert haben? Sie haben auch dir diese grausamen Dinge angetan!“ Ihre Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht, all die Erinnerungen, die ich vergessen hatte, kamen zurück und überrollten mich für einen Moment. Schwach starrte ich nur in den Wald hinein, ehe ich mich endlich fing und ihr die Stirn bieten wollte.
„Wie kannst du es wagen, sie mit ihnen zu vergleichen? Ist es dir in Vergessenheit geraten, dass sie es war, die uns befreit hat? Mich und alle anderen von euch?“ Mit durchdringenden Blicken versuchte ich an ihre gute Seite zu appellieren, doch sie schaute mir nur kalt und desinteressiert entgegen.
Unermüdlich versuchte ich sie von meinen Ansichten zu überzeugen, während sich immer mehr zu uns gesellten und sich auf ihre Seite stellten. Alle waren sie gekommen! Hexen, Werwölfe, Panuletas, ja und sogar meine eigenen Leute. Alle waren sie gekommen, um meiner Liebsten weh zu tun.
„Was gedenkst du zu tun, wenn ihre Eltern sie suchen sollten?“
„Ihre Eltern sind tot“, entgegnete ich und versuchte mich von den einengenden Stricken losreißen zu können, vergebens.
„Und wenn sie lügt? Sie ist redegewandt und mit Sicherheit eine ausgezeichnete Lügnerin“, sprach Sunshine und warf Alexandra einen eiskalten Blick zu.
„Wenn Verrat ihr Ziel ist, dann hätte sie ihn schon längst begangen!“ Meinem unschlagbaren Argument schenkte sie keinen Funken Aufmerksamkeit, stattdessen schloss sie ihre Augen und gab unverständliche Worte von sich.
„Das ist erbärmlich!“, ergriff ich erneut das Wort und hoffte sie zum Schweigen bringen zu können. Ihre, für mich, sinnlosen Worte, hatten durchaus eine verheerende Wirkung, dessen war ich mir bewusst und so versuchte ich Zeit schinden zu können. Das Amulett, welches ich in meiner Jackentasche getragen hatte, half mir nun, die Seile durchtrennen zu können. Etwas Magisches konnte nur mit etwas Gleichartigem besiegt werden. Trotzdem benötigte ich Zeit. Zu viel Zeit
„Was?“
„Ihr fürchtet euch vor Menschen, vor diesen lächerlichen Menschen? Sie sind schwach. Sie könnten sich alle gegen uns verschwören und würden gnadenlos verlieren. Sie könnten einem beinahe leidtun.“
„Muss ich dich schon wieder an die Vergangenheit erinnern?“
„Das ist nicht nötig. Aber was soll dieses unschuldige Menschenwesen tun?“, fragte ich aufgebracht und versuchte mich weiterhin befreien zu können. Für einen Moment lag schwere Stille zwischen uns. Nur das Rascheln ihrer Schuhe auf dem Waldboden war zu hören, als sie plötzlich alle auf mich zuschritten und sich in einem Kreis um uns Beide aufstellten. Verdutzt starrte ich die Vampire an. Erst jetzt fiel mir auf, wie ungewöhnlich ihre Erscheinung im Tageslicht war. Doch dann schaute ich in den wolkenverhangenen Himmel und verstand langsam. Seitdem sie uns mitgenommen hatten, war die Sonne längst hinter den dicken Wolken verschwunden.
„Wir sollten kein Risiko eingehen“, erhob ein Mann seine Stimme und verursachte damit lautes Gemurmel in der Menge.
„Genau!“, stach eine hasserfüllte, weibliche Stimme aus dem Gewühl heraus und ihr folgten Weitere, Zustimmende. Ihre Unaufmerksamkeit nutzte ich und machte mich immer heftiger am Seil zu schaffen, bis ich es endgültig durchtrennt hatte. Doch noch bevor ich die Unruhe für einen Angriff oder die Flucht hätte nutzen können, brachte Sunshine alle zum Verstummen. „Fangen wir an“, beschloss sie und griff nach den Händen ihrer Hexenschwestern und Brüder. Die Werwölfe traten, zusammen mit den Vampiren, aus dem Kreis zurück und schauten den Hexen mit sicherer Distanz, bei ihrem Werke zu. Die Wölfe verwandelten sich, während die Vampire ihr hässliches Ich zum Vorschein brachten.
Zusammen schlossen sie ihre Augen und wollten sich dem schrecklichem Vorhaben ganz und gar hingeben. Diesen Moment der Schwäche konnte ich nicht ungenutzt lassen und so sprang ich auf. Ich eilte zu Alexandra. Ich wollte zu ihr, sie nehmen und sie weg von diesem grausamen Ort bringen, weg von diesen menschenverachtenden Wesen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Doch kurz bevor ich zu ihr gelangt wäre, prallte ich gegen eine Schutzwand, die sie bereits errichtet hatten. Gelächter war zu hören, doch das stachelte mich erst so richtig an. Mit vereinten Kräften pochte ich gegen diese unsichtbare Schutzmauer und hoffte sie zum Einstürzen bringen zu können. Vergebens. Dann kam mir die Kraft des Amulettes in den Sinn und ich versuchte es gegen die Mauer einzusetzen. Mit dem Risiko es zu zerstören. Verzweifelt suchte ich nach dem Zweiten, was sich bis eben noch in meinem Besitz befunden haben musste, doch es war weg. Egal, wie oft ich es versuchte und wie sehr ich um Gnade betete, ich blieb erfolglos.
Ohne Schwierigkeiten trat Sunshine über die selbst erschaffene Grenze und befreite Alexandra von ihren Fesseln.
„Alex, renn!“, schrie ich, doch sie regte sich kein Stück.
„Deine Stimme dringt nicht in ihren Verstand vor“, lachte Sunshine gehässig und trat in ihren Hexenzirkel zurück.
„Renn!“, schrie ich erneut. Wie hypnotisiert stand sie dort und starrte vor sich auf den Boden. Dann, mit einem lauten Klatschen, hob sie plötzlich ihren Kopf und lief langsam auf einen Haufen von Holz zu. Ihr Leben sollte auf einem Scheiterhaufen ein Ende finden.
„Verdammt Alexandra! Wach auf!“, schrie ich mit dem vollen Volumen meiner Stimme, doch auch dieses Mal drang ich nicht zu ihr durch. Energisch begann ich gegen die Mauer zu schlagen und immer wieder ihren Namen zu rufen, doch sie wollte einfach nicht aufwachen. Im Bann von etwas unheimlich Mächtigem, vor dem ich mich langsam zu fürchten begann, schritt sie immer weiter auf den Holzhaufen zu, bis sie ihn schließlich erklommen hatte und sich an einem Balken selbst fesselte. Ihre glasigen Augen blieben leer, bis sie sich endgültig an das Holz gebunden hatte und es für sie unmöglich gewesen wäre, wieder frei zu kommen.
Die Hexen ließen ihre Hände los und klatschten ein weiteres Mal gemeinschaftlich in die Hände. Feuer entfachte sich um Alexandra herum und wollte sie auffressen. Das Glasige in ihren Augen verschwand und ihre Seele kam wieder zum Vorschein. Ich hatte dafür gebetet, dass es nicht zurückkehren würde, dass sie die Qualen des Verbrennens nicht erleben müsse, doch meine Gebete wurden nicht erhört. Sunshine war die grausamste Person an diesem Ort.
Schreie ertönten und ließen mich zusammenzucken. Es waren ihre Schreie, die ich noch nie zuvor gehört hatte, trotzdem erkannte ich sie. Sie hatte vor nichts und niemanden Angst, sie ließ keinen Schmerz an sich ran oder zumindest hatte sie den nie gezeigt. Umso mehr brach es mir mein untotes Herz, sie so leiden zu sehen. Sie leiden zu sehen, für etwas, das sie nie tun würde.
„Alexandra!“ Schreiend versuchte sie sich von den Seilen zu befreien. Doch Sunshine hatte schon längst einen Zauber darüber gelegt.
„Es tut mir leid!“, fluchte ich und hämmerte immer heftiger gegen diese verdammte Mauer. Tränen rannen meine Wangen hinunter und ließen die Sicht verschwommen werden.
„Sunshine, hol´sie da raus!“
„Oh Darlin, tut mir leid, das steht leider nicht mehr in meiner Macht.“
„Verzeih mir, ich habe das andere Amulett versteckt“, keuchte Alexandra, mit den Kräften am Ende.
„Natürlich verzeihe ich dir.“ War das, das Einzige was ich noch für sie Tun konnte? Ihre lauten Schreie erfüllten den stummen Wald und jagten mir eine gewaltige Gänsehaut über den Rücken. Ich konnte mich selbst nicht mehr zügeln und schlug nun so heftig auf die Wand ein, dass meine Hände bereits aufrissen und das kalte Blut auf den trockenen Waldboden tropfte. Ihren Zauber erhielten sie nicht mehr aufrecht und so fing ihre magische Wand an zu bröckeln.
„Alexandra halte durch...!“, rief ich, als ihre Schreie fast verstummt waren und sie dem Ende so nah war. Knacken war zu hören und endlich, mit einem festen Schlag, zerbrach die Mauer in tausend Teile. Glassplitter flogen in Zeitlupe durch die Gegend und versuchten wieder zueinander zu finden. Schnell eilte ich zu ihr, sprang ins Feuer und befreite sie von ihren Fesseln. Anschließend legte ich sie behutsam auf das trockene Gras und versuchte sie zurückzuholen. Doch es war zu spät. Ich war zu spät und sie tot. Gestorben in den Flammen, die von denen erschaffen worden waren, die sie gerettet hatte. Was war das nur für eine gottlose Welt?
„Alexandra“, flüsterte ich heiser, doch sie regte sich kein Stück. Ich konnte ihr nicht mehr helfen. Das Amulett heilte sie nicht und beißen konnte ich sie auch nicht, das hatte ich in der Vergangenheit bereits tun müssen. Ich hatte versagt, ich hatte mein Versprechen, was ich ihr nur zu oft gegeben hatte, gebrochen. Ich hatte sie nicht beschützen können.
„Ihr Monster habt sie umgebracht!“, schrie ich. Meine Stimme schallte in den endlosen Weiten des Waldes und ließ alle Schuldigen zusammenzucken. Hasserfüllt versuchte ich ihnen allen, ihren Mördern, in die Augen zu schauen. Ich wollte das sie meinen Schmerz erkannten, dass sie die Ungerechtigkeit sahen, die sie verursacht hatten. Doch dafür waren sie zu feige. Wie kleine, schuldige Kinder, die die Fensterscheibe des Nachbarhauses zerbrochen hatten, schauten sie zu Boden und scharrten verlegen mit ihren Schuhen im Waldboden herum. Sie alle mieden meine Blicke, nur Sunshine nicht. Sie schritt auf mich zu und schaute voller Stolz in meine verweinten Augen.
„Nun kannst du mich wieder lieben!“ Das hatte sie sich von dieser Tat erhofft? Sie glaubte, ich würde sie lieben können, wenn sie meine große Liebe umbrachte? Dieser Frau hatte man den Verstand geraubt.
„Ich werde nie ein Monster, wie dich lieben können!“, fluchte ich wütend und enttäuscht zugleich.
„Wir gehören zusammen! So wird es schon Jahrtausende vorhergesagt. Wir sollen dieses magische Kind zur Welt bringen. Du und ich!“ Sie legte ihre kalte Hand an meine Wange und wollte mich küssen, doch ich stieß sie weg von mir und stand auf. Knurrend warf ich sie zu Boden und ließ meine spitzen Zähne zum Vorschein kommen. Mächtig baute ich mich vor ihnen allen auf und setzte den düstersten Blick auf, den ich besaß. Ich spürte wie die Adern unter meine Augen traten und wie das Blut in mir zu pulsieren begann.
„Bei Gott schwöre ich, dass ich mich rächen werde. Um euer Leben müsst ihr nicht bangen, ich werde euch nicht töten. Ich werde nur eure Kinder, Verwandten und Freunde holen, damit ihr alle den Schmerz des Verlustes erlebt. Damit ihr fühlt, was ich bis in alle Ewigkeit fühlen werde!“
Mein Worte brüllte ich in die eigenartige Stille hinein und verschwand. Alexandra ließ ich zurück, ich konnte sie keine einzelne Sekunde mehr ansehen. Sie war meine Schwäche und das konnte ich mir kein einziges Mal mehr leisten.
Ihr Tod war es, der die Sonne von hier, bis heute fernhält.“