Zwei Tage später saß Jan mit Alex beim Mittagessen. Wie vereinbart würde Diana den Kleinen am Nachmittag in der Kita abholen und Jan hatte sich nur schweren Herzens von seinem Sohn verabschiedet. Er lenkte seine Gedanken wieder auf das Gespräch am Tisch. Mehr oder weniger erfolgreich. Man hatte ihm tatsächlich ein Engagement in München angeboten. Ab Februar. Jetzt beim Essen sollte er den Intendant kennen lernen. Mit dabei war auch Robert, ein Kollege, der bei diesem Stück erstmals Regie führen sollte.
Nervös und etwas unkonzentriert versuchte Jan dem Gespräch zu folgen. Aber er war mit seinen Gedanken woanders. Die Unsicherheit schlug ihm auf den Magen, er bekam kaum einen Bissen herunter. Zudem sah er dauernd auf die Uhr. Nachdem er sein Wasserglas umgestoßen hatte und ihn eine Frage des Intendanten quasi unvorbereitet traf, da er ihm nicht zugehört hatte, wurde es Alex zu bunt. Er bat ihn kurz nach draußen und sah ihn dann ernst an.
"Jan, das geht so nicht. Ich erwarte jetzt, dass du da rein gehst und dich fokussierst. Es geht um deine Zukunft. Und Robert gegenüber ist dein Verhalten nicht fair. Er hat sich so für dich eingesetzt", schalt er ihn. Doch Jan hörte ihm kaum. Ihm war hundeelend zumute. Der Knoten in seinem Magen fühlte sich immer größer an. Er hatte das Gefühl, als könnte er kaum noch atmen. Warum meldete sich dieses Labor denn nicht endlich?
"Jan?", fragte Alex und berührte ihn kurz am Arm. Blass war er in den letzten Wochen immer gewesen, aber jetzt wirkte er geradezu wächsern. Alarmiert sah sich Alex um und zog einen Stuhl aus dem Raucherbereich heran.
"Setz dich und atme mal durch." Er schob Jan auf den Stuhl und ging vor ihm in die Hocke. In Jans Ohren rauschte es und die Übelkeit nahm weiter zu. Er beugte sich nach vorne und ließ den Kopf zwischen die Knie sinken, versuchte ruhig zu atmen. Prüfend sah Alex ihn an, langsam bekam er wieder etwas Farbe im Gesicht. Mit verschleiertem Blick hob Jan den Kopf und lehnte sich im Stuhl wieder zurück. Er fühlte sich schweißnass und nur langsam nahm das Rauschen und die Übelkeit ab. Alex war kurz verschwunden und brachte ihm dann ein Glas Wasser.
"Geht es wieder?", fragte er ihn, als er das Glas langsam leerte. Jan nickte mit dem Kopf und stand vorsichtig auf. So ganz vertraute er seinen Beinen dann aber doch nicht und er setzte sich wieder. Nachdenklich sah Alex ihn an. "Okay, bleib` sitzen. Ich regle das da drinnen und rufe Jule an."
Keine Viertelstunde später holte Jule ihn ab. Sie war gerade in der Agentur gewesen, als Alex sie erreichte und ließ sich nun Jans Autoschlüssel geben.
Schweigend fuhr sie ihn nach Haus und begleitete ihn nach oben. Er verzog sich direkt auf das Sofa. Jule kochte Tee, brachte ihm diesen und setzte sich dann in den Sessel. Still studierte sie das Gesicht ihres besten Freundes.
Schmal war es geworden, fiel ihr auf.
"Angst?", fragte sie.
Als er nickte, fragte sie weiter. "Was würde ein negatives Ergebnis denn ändern? Du liebst ihn doch."
Ja, was würde das ändern? Eine Frage, die Jan seit einigen Tagen umtrieb.
Es wäre letztendlich der letzte Beweis, dass Diana ihn betrogen hatte. Vielleicht hätte er das irgendwann vergessen können, dachte er. Wäre David aber auch noch das Ergebnis dieser Untreue, dann würde der Kleine ihn immer wieder daran erinnern. Er hatte in den letzten Tagen an viele Ereignisse gedacht; wann ihn Diana betrogen haben könnte, wo sie wohl gelogen hatte und wie einfach sie es wahrscheinlich auch gehabt hatte. Denn er hatte in seiner Gutmütig- und Leichtgläubigkeit ja keinerlei Aktionen von ihr hinterfragt. Was ein Idiot er doch gewesen war. Vermutlich hatten sich Diana und Karsten darüber köstlich amüsiert.
Seufzend sah er Jule an.
"Er muss einfach mein Sohn sein."
Das Labor ließ nichts von sich hören und irgendwann musste Jan ins Theater. Während er seine Hände schminkte, dachte er weiter über das mögliche Ergebnis und dessen Bedeutung nach.
Vielleicht hätte er den Test einfach bleiben lassen sollen.
Als David auf die Welt gekommen war, hatte seine Mutter ihm dauern erzählt, dass der Kleine wie Jan als Baby aussah.
Isabelle behauptete, David habe seine Augen und sein älterer Bruder Martin erkannte wiederum Jan als kleines Kind in David. Vielleicht hätte er das einfach weiter glauben sollen. Wozu dieser Test? Sollte er morgen Dr. Frey anrufen und ihm sagen, dass er das Ergebnis gar nicht haben wollte?
Zwischenzeitlich war Susanne dazu gekommen und hatte sich um das Make-up gekümmert.
Anschließend sang er sich ein.
20 Minuten vor der Vorstellung klingelte sein Handy.
Erschrocken starrte Jan auf das Display.
Die Festnetznummer von Dianas Eltern.
Er atmete kurz durch und nahm das Gespräch an.
Diana.
Sie bat ihn kurz mit David zu sprechen, da der ohne Gute-Nacht-Wunsch von seinem Papa nicht ins Bett wollte.
Jan lächelte und sprach kurz mit dem Kleinen.
Ohne sich zu bedanken legte Diana danach wieder auf.
Zeit, in Position zu gehen.
Er schaltete das Handy auf lautlos, legte es in die Schublade des Schminktischs und verließ seine Garderobe.
Die ersten Szenen beobachtete er von der Seitenbühne und schließlich war er selbst an der Reihe. Zufrieden gab ihm Cornelius ein Zeichen, als er nach seinem ersten Part zurück kam. Zu seinem zweiten Aufgang stand er bereit und wartete auf seinen Einsatz. Er öffnete den Mund und wollte zu singen beginnen, doch kein Laut verließ seine Kehle. Irritiert begann Jan erneut, doch wieder passierte nichts. Der Dirigent sah ihn fragend an und irgendwer ließ den Vorhang herunter. Cornelius eilte zu Jan. Der versuchte wiederum verzweifelt, einen Ton herauszubekommen und hatte die Augen vor Panik weit geöffnet.
Nichts.
Kein Ton.
Fassungslos starrte Cornelius Jan an.
Irgendjemand zog Jan am Arm, weg von der Bühne. Im Saal wurde ein kurzer Showstopp verkündet und aus den Augenwinkel sah er, wie Josh vorbei eilte. Vermutlich wurde er als Ersatz fertig gemacht. Cornelius stand wieder vor ihm und sah ihn entgeistert an. Jan nahm sich zusammen und öffnete den Mund, doch wieder brachte er keinen Ton heraus. Ihm wurde schwindlig. Was war das? Wieso ging nichts? Er wollte den Mund öffnen um zu sprechen, aber in diesem Moment sackte ihm der Kreislauf weg. Er hörte, wie Cornelius nach den Sanitätern rief und dann wurde ihm schwarz vor Augen.
"Ah, okay. Da ist er wieder", hörte er eine Stimme sagen, als er langsam wieder zu sich kam. Er blinzelte und sah dann Susanne, wie sie sich über ihn beugte. Sie hatten ihn irgendwie in die Garderobe gebracht, denn er erkannte, dass er auf dem dortigen Sofa lag.
"Junge, Junge", sagte Susanne. "Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt." Sie hatten ihm schon die Perücke abgenommen und Susanne wischte gerade vorsichtig das Make-up aus dem Gesicht.
"Geht schon", murmelte Jan heiser und wollte sich aufsetzten.
"Nichts da!", dröhnte eine Stimme von der Tür. "Du bleibst so lange liegen, bis der Arzt dir grünes Licht gibt", hörte er Cornelius bestimmt sagen. Es schwang tatsächlich etwas Besorgnis mit. Susanne nickte, während sie ihn so gut es ging abschminkte.
"Hanno ist unterwegs. Der dürfte gleich hier sein.", informierte sie ihn. Jan sank wieder ins Kissen, das man ihm untergeschoben hatte.
"Keine Ahnung, was da vorhin los war", sagte er an Cornelius gerichtet. Der nickte ihm zu.
"Das wird sich aufklären. Ich muss zurück zur Bühne."
Susanne hatte ihm auch die Hände gesäubert, als Hanno herein eilte. Er nickte der Maskenbildnerin zu und sie ließ die beiden alleine. Der Arzt öffnete seinen Koffer und untersuchte Jan kurz.
"Dein Blutdruck ist sehr niedrig", stellte er fest. "Was genau ist denn passiert?", fragte er dann nach, während er in Jans Augen leuchtete. Der erzählte, dass er nicht hatte singen können.
"Hm", meine Hanno. "Komm morgen früh in die Praxis, dann checken wir dich komplett durch." Er kramte in seiner Tasche und nahm ein kleines Fläschchen heraus. "Hier, du nimmst jetzt von diesen Tropfen, sind auf pflanzlicher Basis." Der Arzt zählte zehn Tropfen ab und reichte Jan den Löffel. "Kann dich jemand nach Hause bringen?", fragte er dann. In diesem Moment wurde die Garderobentür aufgerissen und Jule stand schwer atmend in der Tür.
"Jan!", rief sie und eilte auf ihn zu. "Was machst Du denn? Erst heute Mittag und nun...", aufgelöst sah sie ihn an. Hanno hob den Kopf.
"Was war heute Mittag?", fragte er dann.
"Nichts weiter....", begann Jan, doch Jule unterbrach ihn.
"Bitte? Laut Alex bist du ihm vor dem Restaurant zusammengeklappt!", schrie sie ihn an.
"Das war doch was anderes, gerade konnte ich nicht singen und da bekam ich es mit der Angst", entgegnete Jan unwirsch.
"Langsam", unterbrach Hanno die beiden. "Wir prüfen dich morgen auf Herz und Nieren, sei um Zehn in der Praxis. Jule, kannst du ihn heimbringen? Ich möchte ihn nicht am Steuer wissen." Sie nickte. Der Arzt drückte ihr die Tropfen in die Hand. "Sollte was sein, dann soll er nochmal zehn Tropfen nehmen. Sollte das nicht helfen, dann rufe den Notdienst."
Pünktlich saß Jan am nächsten Morgen in der Praxis und ließ eine Vielzahl von Untersuchungen über sich ergehen. Die Auswertung würde ein paar Tage dauern, meinte der Arzt anschließend.
"Aber einen körperlichen Grund für die Stimmaussetzer finde ich ehrlich gesagt nicht. Deine Stimmbänder sind in Ordnung." Er tippte etwas in seinen PC. "Sollte irgendwo eine Entzündung sein, finden wir die. Warten wir mal die Blutwerte ab", meinte er. Jan nickte. Dann reichte er Hanno ein Formular, dass Alex ihm mit den Unterlagen für München mitgegeben hatte.
"Ich brauche für eine neue Produktion wieder so eine Untersuchung. Damit die sicher gehen können, dass ich denen nicht laufend krankheitsbedingt ausfalle." Der Arzt warf einen Blick darauf und sah ihn dann mit ernstem Gesichtsausdruck an.
"Das kann ich dir derzeit so nicht bestätigen. Bis auf weiteres würde ich dich zudem gerne krankschreiben." Überrascht sah Jan ihn an.
"Bitte? Warum denn?"
"Die Fragen hier zielen auf deine grundsätzliche körperliche Konstitution und natürlich auf die Stimme ab. Für beides kann ich, gerade nach gestern, derzeit nicht bestätigen, dass es keine Probleme gibt", erklärte der Arzt ihm. "Vielleicht, wenn wir Freitag die Werte haben." Er reichte Jan eine Krankmeldung bis Sonntag. Mit gekräuselten Lippen saß Jan vor ihm. Sprachlos starrte er auf die Krankmeldung.
"Cornelius rastet aus", sagte er leise. Der andere schüttelte den Kopf.
"Das sollte dir jetzt egal sein. Als dein Arzt ziehe ich dich hiermit aus dem Verkehr. Ich möchte, dass du viel schläfst, regelmäßig isst und Spaziergänge an der frischen Luft machst. Was ich dir untersage, mindestens bis Sonntag, ist die Bühne. Und wenn du dorthin zurückkehren willst, dann solltest du dich daran halten."
Hanno notierte etwas in Jans Papierakte und legte das Formular hinein. "Du weißt, dass du dem Theater keinen Grund für deine Krankmeldung nennen musst. Und wir sehen uns Freitag wieder, außer es treten vorher Beschwerden auf." Er reichte Jan die Hand und brachte ihn zur Anmeldung. "Ach, und Jan. Dein Manager, der Sander, der hat eine wirklich hervorragende Kollegin an der Hand. Vielleicht solltest du mal mir ihr sprechen."
Völlig überrumpelt verließ Jan die Praxis und zog sein Handy aus der Tasche. Alex hatte angerufen und auf die Mailbox gesprochen.
"Komm sofort ins Büro wenn du beim Arzt fertig bist. Das Labor hat das Ergebnis zugestellt."
Zitternd ließ er das Handy sinken.
Okay, nun würde er also endlich Gewissheit bekommen.
Alex nahm ihm am Eingang in Empfang und brachte ihn in den kleinen Besprechungsraum, in welchem sie letzte Woche zusammengesessen hatten. Auf dem Tisch lag ein Umschlag. Jan warf einen kurzen Blick darauf und atmete tief aus.
"Du hast hier alle Zeit der Welt", merkte Alex an. "Bleib` so lange hier wie du brauchst. Ich bin drüben im Büro. Dr. Frey ist telefonisch erreichbar." Zögernd setzte sich Jan hin.
"Ich warte auf Jule", teilte er Alex mit. Er hatte sie von unterwegs angerufen. Dann drückte er seinem Manager die Krankmeldung in die Hand. Mit einem kurzen Nicken nahm jener sie an.
"Cornelius hat schon nach dir gefragt. Ich rufe ihn mal an. Kaffee kommt."
Das Warten fühlte sich furchtbar an.
Aber alleine wollte Jan den Umschlag nicht öffnen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit klopfte es kurz und dann steckte Alex den Kopf herein.
"Jule ist da", sagte er und ließ sie in den Raum. Er ließ die beiden alleine. Jule kam auf ihn zu und umarmte ihn stumm. Schweigend setzte sie sich dann neben ihn, musterte ihn lange. Dann griff sie entschlossen nach dem Umschlag.
"Soll ich aufmachen?", fragte sie dann. Nach einem kurzen Zögern gab ihr Jan seine Zustimmung. Vorsichtig öffnete sie den Brief und schob ihn dann offen zu ihm.
"Jetzt bist du dran", flüsterte sie.
Mit zitternden Finger zog Jan den Briefbogen heraus und schloss dann kurz die Augen. Langsam faltete er den Bogen auseinander und sah Jule unsicher an. Aufmuntert nickte sie ihm zu. Er begann zu lesen. Gespannt beobachtete Jule sein Gesicht. Warum sagte er denn nichts? Jan starrte mit versteinertem Gesicht den Brief an und sie sah, wie ihm Tränen über die Wangen liefen. Sie wagte nicht sich zu rühren. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und schluchzte laut auf. Jule blieb weiter schweigend sitzen und sah ihn einfach nur an. Sah ihm zu, wie er den Bogen sorgfältig wieder zusammenfaltete und ihn zurück in den Umschlag schob. Plötzlich stand er auf und ging zur Tür, drehte sich kurz zu Jule um.
"Ich muss an die frische Luft." Mit diesen Worten verließ er den Raum und dann die Agentur. Sie blickte ihm nach. Alex erschien auf dem Gang, sah erst Jan hinterher und kam dann in den Besprechungsraum.
"Und?", wollte er wissen. Sie zuckte die Schulter.
"Keine Ahnung, er hat nicht gesagt, was drin steht."