Sie hatte kein gutes Gefühl. Die Telefonate mit Jan waren in den folgenden Tagen nicht ergiebig. Er reagierte mal zornig, mal aufgewühlt auf ihre Nachfragen. Wenn er sich tagsüber meldete, konnte es sein, dass seine Stimmung extrem schwankte. Abends war er meist müde und blockte tiefer gehende Gespräche ab. Daher war Isabelle über ihren Schatten gesprungen und hatte Alex angerufen. Sie hatte ihn und dessen Frau gestern Abend besucht und auch ihren Eindruck von David geschildert. Heike hatte ihr ruhig zugehört und auch Alex hatte sich Zeit genommen. Arianes Gedankengänge musste sie ebenfalls unbedingt loswerden. Letztendlich war ihr Alex dankbar für die Informationen. Doch Heike konnte ihr nicht weiterhelfen. Bei ihr hatte David hauptsächlich von dem Zimmer berichtet, in dem er eingesperrt gewesen war. Andererseits war Jan die ganze Zeit dabei gewesen.
In Isabelles Kopf hatten sich hunderte Bilder abgewechselt, was der Kleine erlebt haben könnte. Einiges ließ sie erschaudern, doch Heike schloss jegliche körperliche Gewalt aus. Das hätte der Junge geschildert, so aufgeregt wie er insgesamt gewesen war. Zudem hatte sie ihn indirekt danach befragt und sie versicherte Isabelle glaubhaft, dass sie es bemerkt hätte. Auf der einen Seite hatte diese Informationen sie erleichtert, andererseits war sie auch jetzt keinen Schritt weiter. Auf jeden Fall würde sie am Wochenende nach München fahren. Ob sie zur Premiere bleiben konnte, darüber musste sie noch mit Hannah sprechen, die jetzt drei Tage frei gehabt hatte. Dadurch hatte sie selbst viel zu tun gehabt.
Alex hatte ihr dann berichtet, dass er im engen Austausch mit Jule und Robert stand. Ihn selbst drückte die Frage, ob er Jan mit der Ernsthaftigkeit seiner beruflichen Lage konfrontieren sollte oder konnte. Die Premiere war bedeutend, aber er wollte Jan nicht noch mehr unter Druck setzen. Fürchtete, dass dies zum Gegenteil führen könnte. Isabelle hatte schweigend zugehört, als Alex ihr anvertraut hatte, dass er erstmals in all den Jahren nicht wusste, was er tun sollte. Sollte er Robert über Jans psychische Probleme doch noch informieren? Was würde dies für Folgen haben? Sollte er Jan offen legen, dass im Grunde alle Entscheider abwarten wollten, wie er sich jetzt schlug? Weil die Gerüchteküche längst auf Hochtouren lief und es die Spatzen von den Dächern pfiffen, dass eine Zusammenarbeit mit ihm ein Risiko war? Sie hatten eine Weile darüber gesprochen und auch Isabelle hatte keinen Rat gewusst. Aber sie spürte, dass Ariane auf dem richtigen Weg war mit ihrem Verdacht, aber gleichzeitig noch mehr dahinter steckte.
Als sie jetzt nach Hause kam und müde ihr Abendessen zubereitet, dachte sie ununterbrochen an Jan und David. Sicher waren die beiden noch nicht zu Hause, an den letzten Abenden hatte sie auch immer erst gegen Neun kurz mit David gesprochen, der ohne Gute-Nacht-Wunsch von ihr nicht ins Bett wollte. Sie wusste von Alex, dass Jan noch keinen passenden Kindergarten für den Kleinen hatte und nun eine Tagesmutter suchte. Er wollte für David einen geregelteren Alltag, sobald er allabendlich auf der Bühne stand. An den Abenden würde zunächst Jule einspringen. Sie würde noch ein paar Wochen vor Ort sein und aushelfen, bis sich eine andere Lösung fand.
Wahrscheinlich würde es ihm helfen, wenn sein Tag wieder strukturierter war.
Als Jan endlich anrief, merkte sie sofort, dass er mehr als nur fertig war. Fast kommentarlos reichte er sie an David weiter. Der war schnell glücklich, dass er mit ihr hatte sprechen dürfen und versprach, gleich brav in seinem Bett zu schlafen.
"Ich vermisse dich, Isi", sagte er dann noch. "Papa auch", ergänzte er. Isabelle lächelte und spürte, wie sehr ihr die beiden trotz aller Sorgen auch fehlten. Nichts wünschte sie sich gerade mehr, als bei ihnen zu sein. Kurz hörte sie Jan zu, der mit müder Stimme sich nur kurz verabschieden wollte.
"Jan, du klingst furchtbar", sagte sie vorsichtig.
"Es war ein harter und langer Tag", gab er knapp zurück.
"Lass uns gleich noch reden, wenn der Kleine schläft", bat sie eindringlich. Doch Jan wiegelte ab.
"Bin viel zu müde. Wahrscheinlich schlafe ich vor ihm."
Isabelle spürte regelrecht, wie er ihr entglitt. Seit gestern waren seine Nachrichten immer knapper geworden und im Gegensatz zu den Tagen davor, hatte er sich nicht in den Pausen gemeldet. Gestern hatte er mittags noch mit ihr gescherzt und nun das.
"Ist was passiert?", fragte sie nochmal, wohl wissend, dass er das Nachbohren nicht leiden konnte. Und ja, in der Tat änderte sich sein Tonfall.
"Bitte, es war ein übler Tag", fauchte er. Doch sie wollte ihn nicht vom Haken lassen. Irgendwie bekam sie es mit der Angst. Zeitgleich wurde sie wütend. War er es nicht gewesen, der es unbedingt mit ihr schaffen wollte? Dann sollte er bitte auch etwas dafür tun. Lauter, als sie es beabsichtigt hatte, konterte sie daher.
"Und genau deswegen solltest du mit mir reden. Mach doch nicht immer alles mit dir selber aus. Das führt doch zu nichts." Im Hintergrund hörte sie David plappern, doch von Jan hörte sie nur noch leise Atemgeräusche.
"Jan?", fragte sie nach.
"Ich bring jetzt David ins Bett", antwortete er nach einer Pause.
"Ruf bitte nochmal an", versuchte sie es versöhnlicher. Doch er meldete sich an diesem Abend nicht mehr. Isabelle fühlte sich hilflos wie selten zuvor.
Unsicher, ob sie nun wütend oder besorgt sein sollte, ließ Isabelle das Handy sinken. Mehrmals hatte sie es nun versucht, Jan zu erreichen. Erfolglos. Sein Handy war aus, im Apartement ging niemand ans Telefon. Ihr Blick wanderte zur Uhr in der Küche. Am Morgen hatten sie kurz telefoniert, seitdem hatte Jan keine Nachrichten gelesen, noch sich selbst gemeldet. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Letztendlich rief sie erst Gina, und dann, nachdem diese ihr nicht helfen konnte, Jule an.
"David ist noch bei mir", meinte diese. Wieder fiel Isabelles Blick auf die Wanduhr. Schon am Nachmittag hatte Robert alle in den Feierabend geschickt, erzählte Jule weiter. Da sie vor Jan fertig gewesen war, hatte sie David noch mit auf den Spielplatz genommen und nun mit ihm gebastelt. Ihr war gar nicht aufgefallen, wie die Zeit vergangen war.
"Vielleicht ist sein Akku leer", meinte sie weiter. "Und vielleicht spricht er noch mit Robert, es gab noch ein paar Differenzen und morgen muss die Hauptprobe über die Bühne."
Doch Isabelle spürte, wie es ihr das Herz zusammen zog. Wie eine kalte Hand, die sich in ihren Körper schob. Nur mit Mühe brach sie nicht in Tränen aus. Das ging so nicht. Sie hier, er dort und keine Möglichkeit, sich kurz zu vergewissern. Schließlich schüttete sie Jule lange hier Herz aus. Danach lauschte sie fassungslos dem Bericht der Anderen. David machte Kummer. Schon die ganze Woche. Jan hatte es mit keiner Silbe erwähnt und abends war der Kleine immer lieb und fröhlich am Telefon. Wie passte das alles nur zusammen? Nachdenklich blieb sie am Küchentisch sitzen, nachdem sie das Gespräch beendet hatte. Ein Gedanke kroch ihr in den Kopf und ließ sie nicht mehr los.
Als ihr Handy wieder klingelte, fuhr sie zusammen.
Jule.
"Jan war zwischenzeitlich hier und hat David abgeholt, Ich habe ihn gebeten, dass er dich anruft, sobald er Zuhause ist."
"Danke", murmelte Isabelle den Tränen nahe.
"Was ist los?", fragte Jule.
Erst schwieg Isabelle doch dann erzählte sie von dem Gespräch mit Ariane, von Jans Launen und ihren Sorgen.
"Ich habe so eine Angst um ihn", schloss sie. Dann setzte sie sich energisch auf. "Auf jeden Fall komme ich so schnell als möglich nach München. Morgen früh muss ich mit meiner Kollegin noch einiges besprechen, dann setze ich mich ins Auto."
"Weiß Jan, dass du kommst?", fragte Jule nach.
"Nein, er hat sich auch immer noch nicht gemeldet. Sag ihm bitte auch nichts, ich möchte nicht, dass er sich wieder irgendeine Geschichte zurecht legen kann."
*
Sie hatte Glück gehabt und war gut durchgekommen. Den Wagen parkte sie im Parkhaus des Theaters und ging die paar Meter dann zu Fuß. Während der Fahrt hatte Isabelle vergessen ihr Handy mit der Freisprecheinrichtung zu verbinden. Verärgert hatte sie dies erst festgestellt, als sie kurz vor München Jule hatte anrufen wollen. Nun nahm sie es in die Hand und stellte verwundert fest, dass Jan quasi im Sekundentakt angerufen hatte. Erschrocken blieb sie am Bühneneingang stehen und scrollte sich durch die Anrufliste. Sie bemerkte kaum, wie die Tür auf ging, erst als sie Ariane rufen hörte, sah sie hoch.
"Du kommst genau richtig!", meinte die Andere und zog sie ins Gebäude. Überrascht folgte ihr Isabelle in das Theaters und ließ sich von Ariane erzählen, wie Jan mehr oder weniger während der Probe zusammengebrochen war.
"Er hat sich in seiner Garderobe verschanzt. Mich hat er auch weggeschickt, als ich nach ihm sehen wollte. Robert wollte ihn eigentlich umgehend sprechen, aber ich denke, dass bringt jetzt nichts." Eilig war Isabelle Jans Kollegin durch die Gänge gefolgt. Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust.
"Wo ist er jetzt?", fragte sie besorgt. Nun war es also passiert. Sie dankte ihrer inneren Eingebung und dass sie doch so schnell wie möglich nach München gekommen war. Ariane stoppte vor Jans Garderobe.
"Ich war so erleichtert, als ich dich gerade unten ankommen sah. Ich war schon auf dem Weg zu Robert, als du auf den Hof kamst." Isabelle atmete tief durch. In Arianes Blick lagen Sorge und Angst. Zögernd klopfte Isabelle an die Tür, es kam kein Laut aus dem Inneren. Dennoch legte sie eine Hand auf die Türklinke, sie würde sich diesmal nicht abwimmeln lassen.
"Lass mich mal alleine rein, okay? Ich melde mich nachher bei dir und bin dir dankbar für alles!" Verständnisvoll zog sich Ariane zurück.
"Jan, ich bin es, Isa, und ich bin alleine. Ich werde jetzt reinkommen", kündigte sie sich an. Die Garderobentür war nicht verschlossen, stellte sie erleichtert fest. Mutig drückte sie die Klinke und trat ein.
Jan lag auf dem Sofa, mit dem Rücken zur Tür und reagierte nicht, als sie die Tür leise schloss. Sie sah sich um. Der Raum wirkte unaufgeräumt und auf dem Schminktisch lagen leere Zigarettenschachteln und Tablettenpackungen. Stirnrunzelnd griff sie nach letzteren. Woher hatte Jan wieder diese Beruhigungstabletten bekommen? Kopfschütteln sah sie hinein, diese Packung war ebenso leer, wie die der Kopfschmerztabletten. Sie kippte das Fenster und näherte sich langsam der Couch. Jan hatte sich weder bewegt noch irgendeinen Laut von sich gegeben. Am Boden lag sein Handy und eine halbleere Wasserflasche. Beides hob sie auf und setzte sich dann vorsichtig auf die Kante.
"Jan?", fragte sie. Behutsam streichelte sie ihm ein paar Haare aus der Stirn und beobachtete ihn. Die Augen waren fest geschlossen und sein Atem hatte sich etwas beschleunigt.
"Jan, ich bin hier und für dich da. Was ist passiert?", fragte sie leise. Bitte sprich mit mir, dachte sie. Das Schweigen würde sie diesmal nicht aushalten. Mit einer schnellen Bewegung drehte sich Jan zu ihr und vergrub seinen Kopf in ihrem Schoss. Die Arme schlang er um ihre Mitte und rührte sich dann nicht mehr. Wieder streichelte sie ihn sanft, erst durch die Haare und dann über den Rücken. So saß sie bestimmt 15 Minuten, als es wieder klopfte. Auf ihr leises "Ja" steckte Ariane den Kopf hinein.
"Alles gut?", fragte sie leise. "Ich habe Robert gebeten, das Gespräch auf morgen früh zu verschieben. Er hat es akzeptiert, verlangt aber eine Erklärung."
Isabelle nickte, blieb aber bei Jan sitzen. "Das ist gut, danke Ariane." Sie war der Älteren dermaßen dankbar.
"Übrigens hat Jule David mitgenommen", erfuhr sie noch. Isabelle lächelte. Das war gut, und sie dankte der Freundin lautlos dafür.
"Brauchst du mich noch?", fragte Ariane. Kurz zögerte Isabelle. Dann bedankte sie sich und schickte die Andere nach Hause.
Als es zu dämmern anfing, wurde ihr die Haltung unbequem. Schon seit fast zwei Stunden hielt sie Jan nun schon im Arm. Bisher hatte er nur Wortfetzen verlauten lassen, mit denen sie nichts anfangen konnte. Zwischendurch hatte sie ihm geholfen aus dem Anzug zu schlüpfen und das Kostüm aufgehängt. Mit sanftem Druck und einiger Überredungskunst bekam Isabelle ihn dazu, dass er sich nun anzog und sie ihn mit nach Hause nehmen konnte. Unterwegs hatte er darauf bestanden, dass sie David holten, obwohl es Isabelle fast lieber gewesen wäre, der Kleine hätte bei Jule geschlafen. Am Appartement angekommen drückte Jan ihr wortlos die Schlüssel in die Hand. David hatte Isabelle freudig begrüßt und war seitdem sehr still. Die Hand seines Vaters wollte er aber nicht los lassen. Als sie den Wohnungsschlüssel ins Schloss schob, hielt Jan sie kurz zurück.
"Sei nicht böse", sagte er leise.
"Nun lass uns erstmal reingehen", meinte sie.
Was denn hier nur passiert? Mit großen Augen folgte sie Jan durch die kleine Wohnung. In der Küche stapelte sich das Geschirr, im kombinierten Wohn- und Schlafzimmer hatte Jan überall Klamotten, Noten und leere Flaschen verstreut. Nur Davids Kinderzimmer wirkte aufgeräumt. Aber auch auf dem kleinen Tisch stand ein leerer Teller. Der Kleine verschwand auch direkt in seinem Zimmer.
„Sorry“, murmelte Jan und fuhr sich durch die Haare. „Es war ein bisschen stressig über die Woche und ich dachte, du kommst erst morgen.“ Schnell sammelte er ein paar Zeitungen und weiteres Papier von der Couch auf. Isabelle sah sich fassungslos um. Sie war nur fünf Tage weg gewesen. Jan lehnte am Türrahmen und hatte den Blick gesenkt. David tauchte hinter ihm auf.
"Essen wir wieder Pizza?", fragte er und sah fragend zwischen Isabelle und Jan hin und her. Sie warf einen schnellen Blick zur Uhr.
"An und für sich ist für dich Schlafenszeit. Hast du bei Jule nichts gegessen?"
Betrübt nickte David.
"Brot. Aber Papa macht immer Pizza wenn wir heimkommen."
Sie sah wie Jan auf der Lippe kaute und bat David, in seinem Zimmer auf sie zu warten.
Gleichzeitig knurrte ihr aber der Magen, eine Pizza wäre gar keine so schlechte Idee. Nochmal ließ sie den Blick durch das Zimmer schweifen. Es nützte ja nun nichts. Es war, wie es war.
„Komm, ich bringe David ins Bett und aufräumen können wir morgen zusammen, es ist ja schon spät. Mach, dass du unter die Dusche kommst“, schlug sie vor.
David ließ sich von ihr ohne Probleme bettfertig machen und vorlesen. Der Kleine schmiegte sich eng an sie und hörte ihr aufmerksam zu.
"Isi, kannst du nicht bei uns bleiben?", fragte er weinerlich. Sie klappte das Buch zu und tröstete ihn leise. Immerhin konnte sie bis Montag früh bleiben, das hatte sie mit Hannah geklärt. Der Kleine schlief dann doch sehr schnell ein und hielt dabei ihre Hand. Sorgsam deckte sie ihn zu. Sie hörte noch immer das Wasser der Dusche rauschen.
Isabelle sah sich seufzend im Nebenzimmer um. Und hier, zwischen all dem Papier und Klamotten hatte er geschlafen? Sie konnte nicht anders, sie sammelte alles ein und räumte die Schlafcouch frei. Dann lüftete sie und schüttelte die Bettdecke auf. Schon etwas besser, dachte sie. In der Küche suchte sie nach einer Flasche Wasser und zwei sauberen Gläsern. Ob das Chaos in Jans Wohnung ein Abbild seines Inneren war? Nachdenklich öffnete sie die kleine Spülmaschine und räumte das saubere Geschirr in die Schränke. Mit wenigen Handgriffen hatte sie die größte Unordnung beseitigt. Mit gerümpfter Nase entsorgte sie Essensreste und ließ eine weitere Ladung Geschirr laufen. Noch nicht mal Männerhaushalt konnte sie hier als Entschuldigung gelten lassen, denn Zuhause hatte er es auch im Griff gehabt.
Im Tiefkühlfach fand sie in der Tat noch eine Pizza, die sie in den Ofen schob, der Kühlschrank dagegen war komplett leer. Die gestapelten Pizzakartons hatte sie schon unten im Müll entsorgt. Definitiv hatte Jan einiges nicht mehr im Griff. Im Wohnzimmer sammelte sie dann noch die Flaschen ein und deponierte die volle Tüte dann im Flur. Wenigstens fand sie kaum Bier- oder Weinflaschen, fast hatte sie damit gerechnet. Auf dem Tisch vor der Couch lagen nur auch wieder Zigaretten und Tabletten. Sie warf alles in eine kleine Schachtel, die auf der Fensterbank stand. Dann befeuchtete sie einen Lappen und wischte alle Oberflächen in beiden Räumen ab.
„Du musst das nicht machen“, meldete sich Jan, der nur in Pyjamahose in die Küche trat. Seine Haare waren noch feucht und er roch nach seinem Lieblingsduschgel.
„Ist doch kein Ding“, meinte sie und kam auf ihn zu. Er war wieder etwas schmaler geworden, wie sie sah. Deutlich zeichneten sich die Rippen ab, von der Muskulatur seiner Schultern und seiner Brust waren kaum noch etwas zu erahnen.
Dann nahm sie ihn an die Hand und zog ihn ins Wohnzimmer.
"Was ist hier passiert, Jan? Können wir über den Nachmittag sprechen?" fragte sie, während sie ihn mit zur Couch nahm. Sie zündete zwei kleine Kerzen an, löschte das große Deckenlicht und reichte ihm ein Glas Wasser.
Er nahm einen großen Schluck.
"Okay, dann fangen wir anders an."
Sie griff hinter sich und zog die Tablettenschachteln hervor.
"Was genau hast du hiervon genommen und wann?", wollte sie wissen.
Er deutete auf die Kopfschmerztabletten.
"Eine, direkt nach der Probe."
Okay, ein Anfang.
"Und hiervon?"
Sie hielt ihm die andere Schachtel hin.
"Auch eine, gleicher Zeitpunkt."
Prüfend sah sie ihm in die Augen.
"Heute Nacht, vier oder fünf", gab er schließlich zu.
"Wo hast du die her?", fragte sie weiter.
"Theaterarzt, wegen dem Lampenfieber."
Sehr gut, er antwortete.
"Es sind keine mehr da", sagte er dann leise.
"Gut. Wann ist aus deiner Wohnung eine Müllhalde geworden?"
Jan zuckte mit den Schulter und wich ihrem Blick aus.
"Ich habe Kopfschmerzen."
Wieder sah er sie so flehentlich an, wie in der Garderobe. Kurz schloss sie die Augen. Es brachte nichts, wenn sie ihn zwang.
"Ich hole mal die Pizza", sagte sie und ging kurz in die Küche. Als sie mit dem Teller und einem Messer zurückkam, lag er ausgestreckt auf der Seite. Sie bot ihm ein Stück an, doch er lehnte ab. Isabelle aß selbst nur ein paar Stücke, dann stellte sie den Teller beiseite. Sie rückte hinter ihn und strich ihm sanft über die Schulter und den Oberarm.
"Es ist alles so viel", stammelte er, als sie eine Hand auf seiner Hüfte ruhen ließ. "Und ich bin so müde", flüsterte er, als sie seinen Rücken küsste.
"Ich bin da für dich. Jederzeit habe ich ein offenes Ohr oder bin einfach nur da, wenn du mich brauchst, aber du musst es mir auch sagen. Es ist nicht schön, dich gerade so zu sehen. Und ich bin ehrlich, am Wohlsten wäre mir, wenn ich dich jetzt mit nach Hause nehmen und bei Dr. Jäger abliefern könnte. Jan, ich habe große Angst, verstehst du das?"
Bei ihren Worten hatte er sich etwas entspannt und die Augen geschlossen.
"Er ist ich oder ich bin er", murmelte er. Was meinte er damit? Vorsichtig streichelte sie ihm über den nackten Rücken. Wieder zuckte er erst zusammen, ehe er die Berührung zu ließ. Nachdenklich intensivierte sie die Bewegungen. Er war vollkommen verspannt und nach einigen Minuten schien er die Behandlung auch zu genießen. Sein Atem wurde ruhiger und Isabelle akzeptierte, dass er heute nichts mehr erzählen würde. Wie er in diesem Zustand am morgigen Tag allerdings eine Generalprobe und am Abend darauf eine Premiere meistern sollte, war ihr ein Rätsel. Hatte er Ersatz? Was würde das insgesamt bedeuten? Unruhig regte sich Jan und murmelte wieder etwas. Isabelle ahnte, dass es eine lange Nacht werden könnte.
Als er fest schlief, brachte sie die restliche Pizza in die Küche und sah kurz nach David. Dort war alles ruhig, wie sie erleichtert feststellte. Die Kerzen waren längst herunter gebrannt, nur das Mondlicht schimmerte durch die Vorhänge.
Auch Isabelle war sehr müde und noch immer liefen ihre Gedanken pausenlos im Kopf um her. Sie zwang sich, das Gedankenkarrussel anzuhalten, um etwas Schlaf zu bekommen. Mitten in der Nacht riss Jan sie aus demselben. Er warf sich unruhig von links nach rechts und musste sie dabei leicht geschubst haben. Als er anfing zu schreien, versuchte sie ihn zu wecken. Seine Worte waren unverständlich, sein Blick gehetzt und er rollte sich direkt zusammen, kaum dass sie ihn wach bekommen hatte.
"Erzähl es mir. Bitte", flüsterte sie beruhigend. So ging das nicht weiter, er schlief ja kaum mehr eine Nacht durch.
"Ist sie noch hier?"
Die Panik in seiner Stimme war nicht zu überhören. Fantasierte er? War er immer noch im Traum? Isabelle hielt mühsam die Tränen zurück.
"Hier sind nur du und ich", antwortete sie und wartete auf eine Reaktion. Und auf einmal zog er sie nah zu sich und hielt sich an ihr fest. Und er ließ sie bis zum Morgen nicht mehr los, schlief aber viel ruhiger. Isabelle bot ihm an, ihn zur Probe zu begleiten, doch er lehnte ab. Sie überredete ihn zu einem Frühstück und er verabschiedete sich mit einem Kuss von ihr. Dann sah er ihr zum ersten Mal, seitdem sie hier war, in die Augen.
"Ich liebe dich", flüsterte er. "Und ich würde dir heute Abend gerne etwas erzählen" Mit geschlossenen Augen atmete Isabelle tief durch. Geduld, sie hatte gehofft und nun kam er tatsächlich von selbst.
"Jederzeit", antwortete sie und erwiderte den Kuss.
"Lass uns was essen gehen, ich schau, dass Jule den Kleinen nimmt", sagte er und verabschiedete sich von ihr.
Nachdenklich stand sie am Küchenfenster und sah ihm nach, wie er mit langen Schritten die Straße entlang ging. Es war so weit, wie wappnete sich. Im Nachhinein musste sie zugeben, dass sie längst ahnte, was nun folgen würde.