Isabelle begleitete auf Bitte Jans die Übergabe an diesem Nachmittag. David hatte schon am Vorabend klar gemacht, dass er keine Lust auf ein Wochenende bei seiner Mutter hatte. Dennoch wollte Jan seiner Exfreundin die Chance einräumen, den gemeinsamen Sohn nochmal zu sehen, ehe sie für eine unbestimmte Zeit nicht wiederkommen würde. Jetzt stand sie im Flur und hielt David die Jacke hin, aber der Kleine trotzte. Jan sprach geduldig auf ihn ein. Noch immer war er nicht ganz fit, wenn auch die Naht gut heilte.
Eine Weile beobachtete Isabelle die Szenerie von der Teeküche aus, ehe sie langsam dazu kam. Kalt nickte sie Diana zu. Nein, sie würde sie nicht vermissen, ganz im Gegenteil. Ihr gefiel der Gedanke, dass die Andere bald tausende Kilometer entfernt sein würde. Vielleicht kamen David und Jan dann endlich zur Ruhe. Das Theater hier und jetzt war für beide nicht gut. David brachte klar zum Ausdruck, was er wollte und nicht. Und in Jans Augen sah sie, wie sehr ihn das mitnahm. Isabelle hatte keine Lust mehr darauf. Jede Begegnung warf Jans Bemühungen über den Haufen. Und schließlich war sie es, die die Scherben aufsammeln musste.
Schließlich ging sie zu David, der sich vertrauensvoll an sie schmiegte. Er drückte sein Gesicht an ihre Schulter und erzählte ihr aufgeregt, dass er den Papa nicht alleine lassen wollte. Isabelle streichelte ihm beruhigend über den Rücken und sah dabei Jan in die Augen. Davids Kummer berührte sie gleichermaßen. Diana sah betreten zur Seite.
"Hör mal, mein Schatz. Ich passe doch auf den Papa auf, der ist nicht alleine. Ich verspreche dir, dass ich die ganze Zeit da bin. Und Mimi und Leo auch." Lächelnd hob Isabelle eine Hand.
"Ganz großes Indianerehrenwort."
David hatte den Kopf leicht schief gelegt und beobachtete Isabelles Bewegung. Dann stahl sich ein kleines Lächeln in sein Gesicht.
"Das gilt nur, wenn du vorher spuckst", erklärte er.
"Stimmt, da hast du recht."
Sie nahm die Hand wieder runter und spuckte kräftig hinein, ehe sie sie wieder hob. Zufrieden sah David sie an. Dann sah er zu seinem Vater, der ihm zunickte.
"Na gut", murmelte David leise.
"Und wenn du nach Hause magst oder es dir nicht gefällt oder was auch immer ist, dann ruft die Mama uns an und wir holen dich sofort nach Hause, okay Großer?" Sie warf Diana einen Blick zu, gleichzeitig fiel ihr David um den Hals. Isabelle stand mit ihm im Arm auf und ging die paar Schritte zu Diana, dort setzte sie ihn ab. Schüchtern sah der Kleine zu seiner Mutter, die erleichtert ausatmete und ein leises Danke murmelte.
Als die beiden wenige Minuten später die Kita verließen, fiel auch von Isabelle die Spannung ab. Sie drehte sich zu Jan, der mit in den Händen vergrabenem Kopf noch immer auf der Bank saß.
"Jan?", fragte sie und legte eine Hand auf seine Schulter. Schließlich hob er den Kopf.
"Es zerreißt mir das Herz. Und ich bin schuld daran, dass er so leidet." Wieder verbarg er sein Gesicht in seinen Händen. Hannah warf einen besorgten Blick aus dem Gruppenzimmer in ihre Richtung, doch Isabelle winkte ab. "Komm, setz dich in mein Büro, ich räume nur schnell auf, dann kann ich Feierabend machen. In zwanzig Minuten wimmelt es hier von Müttern und Vätern, die ihre Kinder abholen." Energisch zog sie ihn hoch und dirigierte ihn in ihr Büro. Sie hatte es ja geahnt. Und der Aufbau blieb wieder an ihr hängen. Innerlich verfluchte sie Diana zutiefst.
Müde kuschelte sie sich am späten Abend an Jan. Sie waren abends, um auf andere Gedanken zu kommen, mit Jule und Tom im Kino gewesen. Jan hatte dauernd auf sein Handy gesehen, bis Diana endlich geschrieben hatte, dass David nun schlief. Anschließend waren sie noch in einer netten Kneipe gegangen, und Isabelle hatte sich gut und lange mit Jule unterhalten. Sie hatte Jans beste Freundin sehr in ihr Herz geschlossen und es war sehr einfach, sie zu mögen. Vor allem hatte Jule einen sehr unverstellten Blick. Es hatte gut getan, ein paar der Bedenken auch mal auszusprechen. Die Männer hatten sich an der Theke auch unterhalten, so dass sie beide ungestört gewesen waren.
Sie streichelte Jan über dessen Oberkörper und ließ die Hand auf seinem Nabel ruhen.
"Ich bin froh, wenn Diana weg ist", flüsterte sie.
"Ich auch", antwortete Jan mit fester Stimme. "Und wenn sie weg ist, dann kümmern wir uns intensiv um David und uns, versprochen", schob er nach. Sie kuschelte sich noch dichter an ihn. Es tat gut zu hören, dass er es genauso sah.
"Das klingt gut", antwortete sie und drückte ihm einen Kuss auf die Brust. Jan spielte mit ihren Haaren.
"Danke, dass du da warst heute", murmelte er schläfrig. "Du warst großartig" Sie spürte seine Lippen an ihrer Schläfe und genoss den zarten Kuss, der folgte. Am liebsten hätte sie jetzt die Zeit angehalten. Sie wurde einfach das Gefühl nicht los, dass irgendein Unheil drohte.
"Möchtest du mir heute von der Sitzung erzählen?", fragte sie vorsichtig. In den letzten Tagen hatte sich Jan zu den Terminen bei Dr. Jäger ausgeschwiegen. Überhaupt war er sehr still gewesen, die ganze Woche schon. Auch jetzt murmelte er, dass er nicht so weit wäre und rollte sich dann auf die Seite. Der Moment, in dem Isabelle gespürt hatte, dass alles gut werden könnte, war vorbei. Seufzend drehte auch sie sich weg.
Es überraschte sie am folgenden Nachmittag nicht, als das Telefon klingelte und David abgeholt werden wollte. Auch Jan war den ganzen Tag unruhig und unkonzentriert gewesen, es passte einfach ins Gesamtbild. Er stand schon mit Jacke im Flur, als sie aus dem Bad kam.
"Soll ich mitkommen?", fragte sie. Doch Jan schüttelte den Kopf.
"Bin ja gleich wieder da. Ich fahre nur schnell noch bei Alex vorbei und hole das Libretto ab. München hat eine überarbeitete Version geschickt", meinte er nur und griff zu seinem Schlüssel. Dann beugte er sich zu ihr und drückte ihr einen schnellen Kuss auf den Mund. An der Tür hielt er inne.
"Soll ich noch was einkaufen, wollen wir mit David Pizza machen? Wie damals?"
Er grinste etwas schüchtern und Isabelle schmunzelte bei der Erinnerung an ihr erstes Date. Sie nickte.
"Klingt gut."
Zufrieden zog Jan die Tür hinter sich zu. Etwas irritiert sah ihm Isabelle nach. Seine Laune hatte sich so schlagartig verändert. In der Küche machte sie frischen Tee und sah zum Fenster hinaus. Hoffentlich war David in Ordnung. Aber immerhin war das vorerst sein letzter Besuch bei seiner Mutter und deren Eltern gewesen. Ab jetzt würde das Gezerre um das Kind aufhören. Nun hob sich auch Isabelles Laune. Mit dem Tee und ihrem Buch machte es sie sich dann im Lesesessel bequem und wartete auf die beiden.
Nach zwei Stunden wunderte sie sich erstmalig. Da dachte sie sich noch, dass sich Jan und Alex verquatscht haben könnten. Sie hatte nur am Rande mitbekommen, dass sich der Regisseur zu zahlreichen Änderungen hatte hinreißen lassen und Jan dadurch in seiner Vorbereitung etwas hinter her hinkte. Unruhig wurde sie erst, als es eine Stunde später dunkel wurde und sie immer noch alleine mit den Katzen in der Wohnung war. Gerade als sie bei Sanders anrufen wollte, ging endlich die Haustür. Sie eilte in den Flur und blieb erstaunt stehen. Jan hatte den schlafenden David auf dem Arm.
"Du sollst doch noch nicht", meinte sie leise. Er zuckte nur mit den Schultern und steuerte das Kinderzimmer an. Seine Bewegungen wirkten irgendwie monoton. Seine Miene war ausdruckslos. Sie sah sich um. War er gar nicht einkaufen gewesen? Sie folgte ihm und beobachtete, wie er David vorsichtig in sein Bett legte. Jan küsste den Kleinen und zog die Decke hoch. Nicht mal umgezogen hatte er den Jungen. Verwundert sah sie ihm zu, wie er wortlos zurück in den Flur ging, aus den Schuhen und der Jacke schlüpfte.
"Jan? Ist alles in Ordnung?", fragte sie. Irgendetwas, das spürte sie, stimmte nicht. Er nickte, sah sie aber nicht an.
"Ich möchte nur schnell unter die Dusche.", gab er mit einem Kratzen in der Stimme zur Antwort.
"Soll ich uns dann was bestellen? Oder magst du was von den Resten von gestern?", erkundigte sie sich. Kopfschüttelnd stand er schon an der Badezimmertür.
"Keinen Hunger. David hat bei Sanders was bekommen."
Wieder sah er sie nicht an. Ohne ein weiteres Wort zog er die Tür hinter sich zu und zu ihrer großen Verwunderung hörte sie, dass er den Schlüssel herumdrehte. Was war das denn nun? Irritiert ging sie in Davids Zimmer und überlegte einen Moment, ob sie noch die Kleidung des Kleinen wechseln sollte. Jan hatte weder den Rollo herunter gelassen, noch das Nachtlicht eingesteckt. Der Junge hatte sich auf die Seite gerollt und hatte den Teddy im Arm. Zumindest den hatte Jan also neben das Kissen gesetzt. Nachdenklich kippte sie das Fenster, ließ den Rollo runter und schob das Licht in die Steckdose. Zurück im Flur lauschte sie auf das Rauschen der Dusche. Vorsichtig versuchte sie es an der Tür, aber sie war immer noch abgeschlossen.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis Jan wieder auftauchte. Sie deutete neben sich auf das Sofa, aber er ging zum Fenster und blieb mit dem Rücken zu ihr dort stehen.
"War was bei Diana? Warum wollte David nach Hause?", fragte sie. Er antwortete nicht gleich. Dann erzählte er ihr eine etwas verworrene Geschichte. Offenbar war Diana ziemlich überfordert gewesen und hatte David gar eingesperrt. Der Kleine sei daher etwas durcheinander gewesen und Jan habe den Termin bei Alex auch dazu genutzt, um Heike zu konsultieren. Deswegen war er so spät nach Hause gekommen. In der Nacht bestätigte David einen Teil der Geschichte. Er schrie nämlich unerbittlich und bestand unter Tränen darauf, dass ein Licht im Kinderzimmer an bleiben musste. Dabei verlangte er immer wieder nach seinem Vater und ließ sich ausschließlich von Jan beruhigen. Aus den Wortfetzen wurde Isabelle nicht schlau. Und auch von Jan wurde sie mehrfach geweckt, der schreckte immer wieder aus Träumen hoch und ließ Isabelle aber nicht an sich heran. Überhaupt ließ er sich nicht berühren. Selbst wenn sie ihn küssen wollte in den Tagen darauf, ging er auf Abstand. Jeder noch so flüchtigen Berührung ging er aus dem Weg, schloß sich ins Badezimmer ein und verschwand auf lange Läufe. In der zweiten unruhigen Nacht für Vater und Sohn zog Jan auf das Schlafsofa im Kinderzimmer um.
Das Schlimmste jedoch war sein Schweigen. Isabelle übte sich in Geduld. Doch es ging ihr zunehmend aus. Während sich David am Ende der Woche langsam wieder fing, schien Jan kaum noch ein Auge zu zu bekommen. Zweimal war er bei Dr. Jäger gewesen und sie betete, dass er, egal was genau passiert war, es bei ihr angesprochen hatte. Aber sie ahnte die Wahrheit. Schließlich kündigte er an, dass er für ein paar Tage mit David zu seinen Eltern fahren wollte. Im Rahmen der Trauerarbeit sollte er noch eine Aufgabe vor Ort abschließen. Wenige Tage später war seine Abreise nach München geplant. Zu gerne hätte Isabelle ihn in seine Heimat begleitet, aber sie konnte nicht frei nehmen. Jan nahm dies teilnahmslos zur Kenntnis. Keine Nacht mehr hatte er bei ihr im Bett geschlafen. Während David bewusst ihre Nähe suchte und viel kuscheln wollte, blieb Jan auf Distanz. Zu ihr und seinem Sohn gleichermaßen. Fast war sie ein wenig erleichtert, als er im Auto saß. Sie musste nachdenken und brauchte ein paar Tage Abstand.
Jan meldete sich nicht. Seine letzte Nachricht datierte von der Ankunft bei Anke und Paul, danach schwieg er volle vier Tage. Er rief nicht zurück und beantwortete keine ihrer Nachrichten. Bei ihrer Freundin Tina weinte sich Isabelle aus, und sie fragte Jule um Rat. Schließlich traf sie eine Entscheidung und wählte danach die Festnetznummer von Jans Eltern. Es war Anke, die das Gespräch ab nahm und die sich freute von ihr zu hören. Nur knapp beantwortete Isabelle die Fragen seiner Mutter, dann bat sie darum, mit Jan sprechen zu können.
"Ja?", hörte sie ihn am anderen Ende.
Sie schluckte.
"Bist du voran gekommen?", fragte sie.
Er seufzte.
"Ja."
Schweigen.
"Jan, das geht so nicht. Ich bin es leid. Ich werde bei Tina sein, wenn du zurück kommst und dort bleiben, bis du nach München fährst. Es wäre schön, wenn du darüber nachdenken würdest, wie es weitergehen soll. Sofern du mit mir darüber reden möchtest, dann melde dich einfach."
Nun war es heraus und sie rechnete mit einer Reaktion.
Vielleicht einer Bitte oder einem Flehen.
Argumenten.
Versprechungen.
Irgendetwas.
Aber Jan schwieg.
"Hast du mich verstanden?", erkundigte sie sich.
War er noch dran?
Die Verbindung jedenfalls war noch aktiv.
"Ja."
Sie schloss die Augen. Das durfte doch alles nicht wahr sein.
Mehr kam nicht, sie gab ihm eine Minute.
Tränen schossen in ihre Augen. Warum redete er nicht?
"Jan?", fragte sie.
Sie hörte ihn eine Weile nur atmen.
Weinte er?
"Es geht nicht. Es tut mir leid."
Dann war die Leitung tot.