Cordula Funk hatte sich vor vielen Jahren unter anderem darauf spezialisiert, traumatisieren Männern zu helfen. Das Thema Vergewaltigung bei Männern war nach wie vor ein großes Tabu in der Gesellschaft. Viel zu wenige zeigten die Tat an, viel zu viele sprachen nicht darüber. Oft aus Scham, aber auch aus Unsicherheit. Zudem hatten diejenigen, die sich zur Anzeige durchgerungen hatten, oft negative Erfahrungen gemacht. Zwar wurde ermittelt, da führte kein Weg daran vorbei, doch häufig kam es zu keiner Verurteilung. Das Beweisverfahren war schwierig, oft endete die Anzeige im Leeren. Es stand Aussage gegen Aussage. Daher konnte sie nachvollziehen, dass sich auch ihr neuer Patient bisher nicht dazu entschieden hatte.
War der potentielle Täter ein Mann, standen die Chancen gut, dass es zumindest bei einer zeitnahen Untersuchung noch körperliche Indizien gab. Bei einer Frau dagegen hatte der Mann wenig Chancen. Vor allem, wenn so viel Zeit vergangen war. Das war oft das Hauptproblem. Nicht nur für die juristische Klärung, auch für die psychologische Bearbeitung. Wie eine vergewaltige Frau auch, litten die Männer häufig unter Panikattacken, fühlten sich benutzt, schämten sich und viele durchlebten das Geschehene immer wieder in ihren Träumen. Häufig kamen Männer erst dann zur Therapie, wenn auch Monate nach der Tat noch immer kein sexueller Verkehr möglich war.
Die Patientenakte hatte Dr. Funk schon mehrfach studiert. Ihre Studienkollegin Anna Jäger hatte ihr zudem einige Notizen zur Verfügung gestellt und sie hatten sich kurz abgestimmt. Dass der Patient schon im Vorfeld unter einer ausgeprägten depressiven Verstimmung gelitten hatte, die durch die Vergewaltigung wieder aufgebrochen war, stufte sie als schwierig ein. Für sie waren die zwei gescheiterten Suizidversuche eine logische Folge. Viel früher hätte es Hilfe gebraucht, doch auch hier hatte sich das Opfer viel zu spät offenbart.
Und wieder die gleichen Gründe.
Die Angst, nicht ernstgenommen zu werden.
Die Scham, viel Wut und der Glaube daran, dass man auch so etwas alleine verarbeiten kann. Auf dem Papier war die Prognose gut. Trotz allem ging er einer geregelten Arbeit nach, unterstützt wurde er von einer liebevollen und starken Partnerin und es existierte ein gesundes, wenn auch kleines soziales Umfeld. Ihr Kollege Lars Martin hatte für eine vernünftige Stabilisierung gesorgt und den Patienten gut vorbereitet. Nun war es an ihr, ihn beim Verarbeiten zu unterstützen. Stirnrunzelnd überflog sie die Medikamentenliste und die letzten Eintragungen des Kollegen. Zudem hatte sie ihren Patienten um die Beantwortung einiger Fragen gebeten und sah sich nun die handschriftlichen Antworten an. Noch saß er bei Lars Martin, so dass sie sich noch einen Moment auf die Unterlagen konzentrieren konnte. Schließlich stand sie auf und ging hinüber, um ihn abzuholen.
Unsicher sah sich Jan in dem modernen Behandlungszimmer um. Die letzten Tage und vor allem Nächte hatten ihn geschlaucht und geschafft. Nur mit Mühe hatte er diese Wut noch im Griff.
»Sie sehen müde aus«, bescheinigte ihm die Therapeutin auch direkt und verlegen griff er nach dem Wasserglas, das vor ihm stand. Dann lehnte er sich in dem Sessel zurück. »Sie schlafen also immer noch nicht besser?«, wollte sie wissen und blätterte in der Akte. Jan schüttelte den Kopf und setzte das Glas ab.
»Albträume?«, fragte sie weiter. Dabei sah sie ihm direkt ins Gesicht. Es ärgerte ihn, dass er die Zähne nicht auseinander bekam, aber wieder konnte er nur nicken.
»Wollen Sie davon erzählen?« Dr. Funk beobachtete ihn mit ruhigem Blick und einem Lächeln im Gesicht. Auf ihrem Schoß ruhte ein Schreibblock, die Akte hatte sie auf die Lehne ihres bequemen Sessels abgelegt.
»Es ist immer wieder das Gleiche«, antwortete Jan achselzuckend. Sie sah ihn weiterhin ruhig an. Als er dann nicht weitersprach und auf seine Hände starrte, ergriff sie das Wort.
»Nun gut, wir kommen darauf zurück. Lassen Sie uns anders anfangen. Können Sie mir erzählen, warum Sie ihr Leben beenden wollten?«
Jan fuhr zusammen. So deutlich formuliert klang es so absurd. Als würde sie über jemand anderen sprechen.
»Ich war der Auffassung, dass mir niemand helfen kann. Dass diese Erinnerungen niemals verschwinden werden. Was sie ja auch nicht tun«, sagte er bitter. Dann zögerte er kurz. »Außerdem bin ich für jeden eine Last. Ich bin gerade weder ein guter Freund oder Vater, noch bekomme ich meinen Job konsequent auf die Reihe.«
Unbehaglich kaute er auf der Lippe.
»Und jetzt?«, fragte sie.
Jan zog kurz die Luft durch die Nase und ließ ein leises Schnauben von sich. Interessiert hob Dr. Funk den Kopf und ließ ihn nicht aus den Augen.
»Was ist jetzt anders?«, fragte sie nochmal nach. Entnervt schloss Jan die Augen.
»Nichts«, knurrte er. Er konnte spüren wie sie ihn musterte. »An den Gefühlen und diesen Fakten hat sich nichts geändert. Es ist da. Immer. Es geht nicht weg, es lässt mich nicht los. Es lässt mich nicht leben. Dabei will ich das. Ich will wieder lachen können, meinen Job machen, meinem Sohn der Papa sein, den er braucht. Vor allem möchte ich mit meiner Freundin eine normale Beziehung führen. Mit allem was dazugehört. Aber es hat alles kaputt gemacht. Mir alles geraubt.«
Erst jetzt schlug er die Augen wieder auf und sah die Therapeutin an. Die nickte und machte sich eine Notiz.
»Es?«, fragte sie leise. Jan krallte sich mit seinen Händen in die Lehne. Oh nein, er würde es nicht aussprechen. Das hatte Lars Martin schon versucht. Stumm schüttelte er den Kopf. Dr. Funk wartete noch einen Moment, dann nickte sie nur wieder. Es machte ihn verrückt. Warum nickte sie so? Warum sagte sie jetzt nichts? Erleichtert atmete er auf, als sie zu sprechen begann.
»Gut, sie wollen also leben. Das ist ein Anfang. Wir werden zusammen daran arbeiten, dass sie das Erlebte verarbeiten und akzeptieren lernen. Hier drin bleibt alles unter uns. Sie können jederzeit ihre Partnerin mitbringen, wenn Sie das möchten. Für eine Beziehung, mit allem drum und dran wie Sie es nennen, ist es elementar, dass Sie sich dem stellen. Insbesondere, wenn eine normale sexuelle Aktivität noch nicht wieder gegeben ist. Wenn ich das richtig lese, liegt der Übergriff nun schon fast vier Monate zurück. Wie lange haben Sie geschwiegen?«
Jan biss die Zähne aufeinander.
»Ich sage es Ihnen. Egal wie lange es war, es war definitiv zu lange.«
Sie setzte sich auf die Kante des Sessels. »Und das ist genau das Problem. Ihr Unterbewusstsein wehrt sich gegen dieses Schweigen. Es muss dringend aufgearbeitet und abgelegt werden. Und das ist der Grund für Ihre Albträume. Ihr Geist zwingt sie somit, sich damit auseinanderzusetzen. Und er wird sie so lange damit quälen, bis Sie endlich damit anfangen. Und dafür sind Sie hier.«
Während sie ihm Zeit ließ, damit er sich etwas sammeln konnte, füllte sie sein Glas auf. Dann lehnte sie sich in den Sessel und sah ihn wieder an. Jan befeuchtete seine Lippen mit der Zunge. War die Stunde denn immer noch nicht vorbei?
»Können Sie Ihre Gefühle beschreiben, die Sie hatten, als Sie direkt aus der Situation heraus waren? Was löst die Vergewaltigung in Ihnen aus?«
Jan schlug die Hände vor sein Gesicht. Doch die Therapeutin ließ ihn nicht davon kommen. »Beschreiben Sie es. Es gibt kein richtig oder falsch. Nichts, was ich nicht schon gehört hätte«, sagte sie freundlich. Sie hatte ihren Tonfall minimal verändert, dennoch signalisierte sie dadurch auch Verständnis.
»Wut«, begann Jan. »Ich war so unglaublich wütend darüber, dass es überhaupt passiert war.« Er stockte und warf einen Blick zum Fenster. Draußen schien die Sonne ganz unbeeindruckt davon, dass er sich ganz schwer und grau fühlte. »Das hielt ein paar Tage an. Ich war wütend und verwirrt, habe niemanden in meiner Nähe ertragen. Ich wollte nur schreien, aber es ging nicht.« Er drehte seinen Kopf wieder zu ihr. »Dann habe ich mich geschämt. Weil ich es nicht verhindern konnte. Dabei wollte ich es doch gar nicht. Ich verstehe immer noch nicht, warum es so weit kommen konnte.«
Nun schluckte Jan schwer, ehe er fortfahren konnte. »Trauer, Verzweiflung, Hass. Suchen Sie es sich aus. Ich bereue es zutiefst, dass ich ihr nicht weh getan habe. Ekel. Ich ekle mich vor mir selbst. Wieso verdammt nochmal habe ich das zugelassen?«
Die letzte Worte stieß er laut hervor und ballte die Fäuste. Dr. Funk sagte zunächst nichts, dann räusperte Sie sich vernehmlich.
»Es ist nicht Ihre Schuld. Sie haben nichts zugelassen, es wurde Ihnen angetan. Sie hätten es nicht verhindern können. Schuld ist nur die Täterin und als solche sollten Sie sie betrachten. Lösen Sie sich von den Gedanken, dass Sie hier etwas in der Hand hatten. Die Täterin wusste genau, was sie tat. Sie wurden mißbraucht, vergewaltig, gegen Ihren Willen gezwungen.« Mit leerem Blick betrachtete Jan die Therapeutin. Schließlich atmete er tief durch und brach den Augenkontakt ab.
»Wenn ich doch aber….« begann er zu flüstern, doch sie schüttelte den Kopf.
»Kein Aber. Kein Wenn. Das führt zu nichts. Es ist passiert.«
Sie wusste, wie schwer es den Meisten an diesem Punkt fiel. Aber so war es nun mal. Er war kein Zufallsopfer gewesen, sondern dem perfiden Plan einer Frau erlegen, die genau wusste was sie tat. Die ihrer Meinung nach dafür zur Verantwortung gezogen gehörte. Es gab keine Rechtfertigung, und das musste sie ihm klar machen. Immer wieder führte sie ihn an diesen Punkt in der nächsten Viertelstunde. In seinem Gesicht konnte sie sehen, wie er damit kämpfte. Selbst in seiner eigenen Vorstellung gab es offenbar keinen Raum dafür.
»Es ist ganz normal, dass Sie glauben, dass sie es hätten verhindern können. Wenn Sie sich richtig gewehrt hätten. Löschen Sie das. Akzeptieren Sie im ersten Schritt, dass es passiert ist.«
Sie beobachtete ihn genau. Einerseits war sie überrascht, wie schnell sie an diesen Punkt gekommen waren, da sie damit gerechnet hatte, es würde zwei oder gar drei Sitzungen dauern. Andererseits war dies ein deutliches Zeichen dafür, wie sehr ihn die Geschichte beschäftigte und im Griff hatte.
Sie schwankte noch in ihrer Einschätzung. So sehr er diesen Weg selbst gewählt hatte, so tief saßen aber auch die negativen Gefühle. Lars Martin hatte ihr versichert, dass er der Auffassung war, dass es keine weiteren Suizidversuche geben würde. Dr. Funk war sich unsicher, ob sie sich diesem Urteil anschließen sollte. Jan wirkte angespannt. Sie konnte spüren, wie es in ihm arbeitete und dass er dringend Dampf ablassen musste. Lars Martin würde ihn noch für zehn Minuten übernehmen, das hatten sie schon im Vorfeld geklärt. Ein paar positive Gedanken, etwas Stabilität und innere Ruhe wären auf jeden Fall angebracht. Wenn die Ärztin ehrlich war, dann würde sie ihn lieber in einer stationären Behandlung sehen. Doch im Vorgespräch hatte er dies vehement abgelehnt.
»Sie haben einiges zum Nachdenken erhalten. Beschäftigen Sie sich damit, sprechen Sie mit ihrer Partnerin darüber. Wir sehen uns am Montag wieder, sofern vorher nichts sein sollte« Nochmal musterte sie ihn. »Scheuen Sie sich nicht, im Notfall bei uns anzurufen«, bat sie ihn dann eindringlich. Sie brachte ihn nach draußen und verabschiedete ihm im Wartebereich. Sie sah ihm, wie er das Krisenzentrum verließ und wünschte ihm dass er es durchstand.