Jan lauschte auf die Geräusche während er sich auf die nichtoperierte Seite rollte. Davids Lachen klang durchs Haus, dazwischen die Stimmen seiner Eltern, Martin und Isabelle. Hier und da kläffte der Welpe. Ein verführerischer Duft zog nach Oben. Doch Hunger verspürte er keinen. Die Müdigkeit lullte ihn wieder ein. Irgendwann bellte der Hund und David quietschte unten im Flur. Paul bat seinen Enkelsohn, etwas leiser zu sein und dann ging die Haustür.
Kurz darauf hörte er das vertraute Knarzen der Treppe. Er musste lächeln. So ging nur jemand über die Stufen, der die Stellen nicht kannte. Kaum dass er zu Ende gedacht hatte, schob Isabelle die Tür auf. Er konnte ihre Gestalt im Licht kurz sehen, dann spürte er schon, wie sich das Bett neben ihm senkte. Sie hatte sich an den Bettrand gesetzt und strich ihm sanft durchs Haar.
"Na, hast du etwas schlafen können?", fragte sie leise.
Nach der langen Autofahrt, vor allem dem langen Sitzen, hatte sich Jan eigentlich nur ausruhen wollen. Aber die frische Operationsnarbe hatte ihm deutlich signalisiert, dass er sich schonen musste. Aus dem Pochen war auf den letzten Kilometern ein schmerzhaftes Ziehen geworden. Wie mit den Ärzten in Wien und auch seinem Hausarzt vereinbart, hatte er die Beschwerden nicht verschwiegen. Isabelle verwahrte Schmerz- und Schlaftabletten für ihn. Noch so ein Deal mit den Ärzten und vor allem seiner Therapeutin. Auch jene hatte ihm deutlich den Kopf gewaschen und angedeutet, dass sie nach Jans Rückkehr im neuen Jahr nochmal darüber reden würden.
Isabelle schob ihm die Haare aus der Stirn und ließ ihre kühle Hand auf der Stirn ruhen. Sie nahm ihren Auftrag ernst. Jan war nur unter Auflagen schon entlassen worden. Doch niemand hatte einem Weihnachten bei der Familie im Weg stehen wollen, zumal Jan in den Tagen im Spital psychisch sehr angegriffen gewesen war.
"Die Schmerzen sind besser. Es pocht nur noch, aber das hält mich wach", erklärte er matt. Nickend fuhr sie über seine Wange. Sie stand auf und ging zu ihrem Koffer, knipste das Licht über dem Sideboard an.
"Deine Mama hat unten Suppe für dich, möchtest du was?", fragte sie. Jan schüttelte den Kopf. Sie kam zu ihm und reichte ihm eine Tablette. Auf dem Nachttisch stand noch ein fast volles Glas Wasser.
"Sind sie lieb zu dir?", fragte Jan. Er zog die Decke wieder über sich und kuschelte sich ins Kissen. Lächelnd nickte sie, dabei ließ sie das Rollo ganz herunter.
"Furchtbar lieb."
Mit seiner Mutter hatte sie schon von Wien aus mehrfach telefoniert. Die beiden Frauen hatten sich sofort gut verstanden und Isabelle hatte Anke viel von ihrer Sorge nehmen können. Jan hoffte von Herzen, dass auch Paul die neue Frau in seinem Leben mochte. Mit Diana hatte es einfach keine Basis gegeben.
Isabelle setzt sich nochmal zu ihm.
"Dein Vater hat David zum Gassigang mitgenommen. Der Kleine hat den Welpen schon in sein Herz geschlossen. Dein Bruder war zum Abendessen hier und deine Mutter ist einfach ein Schatz. Sie sind einfach nur froh, dass du jetzt hier bist und wir die Feiertage zusammen verbringen. Es schneit übrigens. David ist ganz aus dem Häuschen. Martin hat ihm schon versprochen, dass sie morgen einen Schneemann bauen und Schlitten fahren."
Jan lachte leise, was die Narbe mit einem Ziehen beantwortete.
"Morgen sieht die Welt schon anders aus", murmelte er. Auf einmal war er nur noch schrecklich müde. Isabelles Lippen berührten seine Stirn und der zärtliche Kuss ließ ihn erschaudern.
"Gönn dir die Ruhe, Jan. Das wird dir gut tun. Dafür sind wir hier."
Er bekam gar nicht mehr mit, wie sie aufstand, das Licht löschte und leise das Zimmer verließ.
Jan verschlief den Abend. Er bekam nicht mit, dass sich David lange wehrte, ehe er sich ins Bett bringen ließ. Es ging an ihm vorbei, dass sich Isabelle und seine Eltern lange noch unterhielten. Einmal wurde er wach, weil er schlecht geträumt hatte, aber er bekam den Traum nicht zu greifen. Isabelle war aber direkt da und so schlief er beruhigt wieder ein. Am nächsten Morgen fühlte er sich deutlich besser. Er hatte kein Fieber bekommen und die Narbe verhielt sich ruhig.
Der Heilige Abend begann mit einem sehr aktiven David, der zusammen mit seinem Onkel nach dem Frühstück den versprochenen Schneemann bauen durfte. Der kleine Hund sprang dabei um sie herum und veranstaltete ebenso einen Lärm, wie der Junge.
Lächelnd stand Isabelle am Fenster ihres Zimmer und beobachtete das Treiben. Jan kam nur in Jeans aus dem Bad herüber und gab ihr einen Kuss.
"Dann wollen wir mal", meinte sie und warf einen Blick auf den Verband. Heute musste dieser dringend gewechselt werden. Jan seufzte.
"Wenn es sein muss."
Vorsichtig tastete sich Isabelle heran.
"Wenn es weh tut, dann sag es bitte."
Das Lösen des alten Verbandes lief dann recht unproblematisch und erstmals sahen sie beide die Größe des Schnitts. Tief atmete Isabelle durch und reinigte die Wunde, wie es die Schwester in Wien erklärt hatte.
Sie beeilte sich, da Jan schon die Zähne zusammen biss.
"Danke", murmelte er, als sie fertig war und ihm seinen Pullover reichte. Während sie alles zusammen räumte, sah sie wieder zu David und Martin, die den Schneemann gerade betrachteten.
"Wie läuft das später bei euch so ab?", fragte sie.
Jan stellte sich hinter sie und schlang seine Arme um ihren Körper.
"Gegen Vier geht es in den Gottesdienst und danach geht es auf den Friedhof, klingt skurril, ich weiß." Er küsste sie sanft in den Nacken. "Das ist so eine Art Totenwache. Die Blasskapelle spielt dort aber aber einige Weihnachtslieder. In der Regel hat mein Vater mit uns dann oben am Grundstück immer noch Futter für das Wild deponiert, da waren wir etwa in Davids Alter, als er das angefangen hat." Wieder küsste er sie und zog sie an sich. "Dann essen wir, es wird die Geschichte vorgelesen und gesungen. Und es wird beschert."
Isabelle lachte, als als sie übermütig hinter dem Ohr küsste. Seine gute Laune heute morgen gefiel ihr gut. Sie hatte ein wirklich gutes Gefühl für diese Tage. In der Nacht hatte sie die Geschenke für David unter den Baum gelegt. Der Kleine war schon ganz aufgeregt und es würde sicherlich nicht leicht werden, ihn über den ganzen Tag abzulenken.
"Ich bin froh, dass wir hier sind", flüsterte Jan ihr ins Ohr. "Weit weg von allem", ergänzte er und küsste erneut ihren Nacken. Draußen lag die Welt weiß und beinahe unschuldig vor ihnen. Sie lehnte sich gegen ihn und schloss die Augen. "Ich liebe dich", sagte er leise. Wie gern er die Zeit anhalten würde.
Isabelle war dann vor ihm heruntergegangen, sie wollte Martin und David mit dem Schlitten begleiten. Als er jetzt die Treppe herunterkam, musste er lächeln. Auf der Kommode neben der Tür zur Stube, die geschlossen und zugehangen war wie zu seinen Kindertagen, stand ein Teller Kekse und ein Glas Milch. Die Erinnerung überwältigte ihn fast. Er blieb am Treppenabsatz stehen und hielt sich einen Moment fest. Wie gerne hätte er seinen Sohn in diese Tradition eingeführt. Jetzt hatte es jemand anders übernommen, weil er nicht da gewesen war. Es war das erste Mal, dass David zu Weihnachten hier war. Und das erste Fest, dass er ganz bewusst wahrnahm. Schon gestern hatte er im Auto ununterbrochen vom Christkind erzählt. Schnell verscheuchte Jan die trüben Gedanken. Er sollte sich glücklich schätzen, dass David die Chance auf diese Familientraditionen bekam. Dass immer jemand für den Kleinen da war, wenn er es gerade nicht schaffte. Und Jan war bewusst, dass er noch lange nicht wieder auf dem Damm war. Das bezog sich nicht allein auf die Notoperation, wie er sich in einer der einsamen Nächte im Spital eingestanden hatte. Seine Baustellen war vielfältiger. Energisch löste er sich von der Treppe und betrat zögerlich die Küche.
Die Suppe duftete verführerisch, Jan hatte gar nicht gemerkt, wie hungrig er war. Vorsichtig ließ er sich auf den Stuhl sinken, immerhin das Hinsetzen und Aufstehen ging jetzt ganz gut. Anke brachte ihm einen großen Teller und setzte sich dann zu ihm. Still beobachtete sie ihren Sohn, wie er Löffel um Löffel in den Mund schob.
„Dich päppeln wir schon wieder auf“, meinte sie. „Schön, dass ihr jetzt da seid.“ Sie berührte kurz seinen Arm und sah ihm in die Augen.
„Deine Isa ist ganz zauberhaft. So ein liebes Mädchen. Wir hatten einen sehr unterhaltsamen Abend. Dein Vater ist ganz begeistert“, erzählte sie ihm.
Jan lächelte und leerte den Teller. So ganz einfach war sein alter Herr nicht zu überzeugen, daher freute ihn die kleine Bemerkung um so mehr.
„Sie ist wirklich fantastisch, Mama“, stimmt er ihr zu.
„Magst du noch?“, fragte sie und deutete im Aufstehen auf den Teller. Jan schüttelte den Kopf.
„War sehr gut“, antwortete er und sie nahm das Geschirr mit zur Spüle.
„Kommt ihr nachher mit?“
Er überlegte kurz.
„Ich entscheide das für mich nachher. Da ist ja schon viel sitzen und stehen angesagt. David könnt ihr aber gerne mitnehmen.“
Seine Mutter nickte.
„Ich habe den Kamin in der Bibliothek angeheizt, da kannst du dich gerne ausruhen. Das Wohnzimmer bleibt bis heute Abend tabu.“
Schmunzelnd folgte Jan ihrem Rat und sah sich kurz darauf in der Bibliothek um. Die Wärme eines Kaminfeuers hatte er schon immer gemocht. Auf dem niedrigen Tisch lagen zahlreiche Bildbände und ohne groß darüber nachzudenken, griff er sich einen Band mit Fotos aus Wien. Schade, dass er die großartige Stadt Isabelle nicht hatte zeigen können. Gedankenverloren blätterte er eine Weile in dem Buch. Vielleicht konnten sie es ja im Frühjahr nachholen. Sofern er zwischen den Proben Zeit hatte. Und Isabelle Ferien. Seufzend legte er den Bildband schließlich aus der Hand und machte es sich auf dem Sofa bequem. Liegen war immer noch die bequemste Haltung.
Dennoch beschloss er, dass er später mit in die Kirche und den Friedhof wollte. Viel zu lang war er nicht mehr mit dabei gewesen. Außerdem wollte er Isabelle unbedingt seine Welt hier zeigen, die so gar nichts mit seinem sonstigen Leben zu tun hatte. Seine Augen glitten über die Bücherwand und die Fotos an der Wand. Auf den ersten Blick hatte sich der Raum in den letzten 20 Jahren kaum verändert. Doch hier und da standen natürlich neuere Bücher und aktuellere Fotos zierten die Wand. Er wusste, seine Mutter hielt sich hier abends gerne auf und kümmerte sich um die verschiedenen Fotoalben. Auch deswegen schickte er ihr regelmäßig Bilder von David. In letzter Zeit hatte er das sehr vernachlässigt. Von draußen hörte er lautes Lachen, unter anderem die helle Stimme seines Sohnes.
Tatsächlich stürmte der Kleine wenige Minuten später in den Raum, gefolgt von einer rotwangigen Isabelle. Glücklich kuschelte sich David dann vorsichtig an ihn und erzählte ihm von dem Welpen, dem Schneemann, dem Schlittenfahren und der Überraschung für das Christkind.
„Es war aber noch nicht da“, endete er.
Isabelle lachte. Sie hatte es sich am Ende des Sofas gemütlich gemacht und Jans Füße in ihrem Schoss.
„Es ist ja auch noch hell draußen, da hat es Angst erkannt zu werden“, antwortete Jan sanft. „Und es sind zu viele Menschen im Haus, da ist es schwierig, geheim zu bleiben.“
Zustimmend nickte David. Das konnte er nachvollziehen. Munter plapperte er weiter und überlegte, wie das Christkind ins Haus kam und was es alles mitbringen würde. Zärtlich lächelte Jan seine Freundin an. Alles war gut in diesem Moment. Nach all den Wochen, in denen er sich unter Druck gefühlt hatte, spürte er endlich eine innere Ruhe. Zum ersten Mal seit einem fast halben Jahr war er einfach nur entspannt. Beruhigt schloss er die Augen, lauschte dem Gespräch zwischen seiner Freundin und seinem Sohn, atmete den Duft seines Kindes ein. Unterschwellig roch er den bekannten Geruch des Hauses. Er kämpfte einen aussichtslosen Kampf gegen die Müdigkeit in ihm, den er kurz darauf verlor. Erst die Stimme seiner Mutter holte ihn zurück ins Hier und Jetzt.
Jan hatte vergessen, wie schön die Kirche war. Wie festlich der Gottesdienst. Immer noch war es Pfarrer Bautz, der die Gemeinde begleitete. Beim Ave Maria hielt er fest die Augen geschlossen und erinnerte sich an das Jahr, als er erstmals das Solo hier gesungen hatte. Wie er mit Anna geübt hatte. Sein Blick glitt durch die Kirche. Er hatte Inga gleich zu Beginn hereinkommen sehen und es hatte ihm beinahe das Herz zerrissen. Wie lange hatte er sie nicht gesehen? 13 Jahre vermutlich. Immer wieder riskierte er einen Blick und überlegte, ob er sie ansprechen sollte. Nach all den Jahren hatte ihn immerhin ausgerechnet Anna vor einer Dummheit bewahrt. Seitdem musste er viel an sie denken. Viel mehr, als er je zugeben würde. Vor allem erstmals seit jenen Tagen im Herbst. Jahrelang hatte er es sich nicht gestattet. Pfarrer Bautz spendete den Segen und David rutsche enger in die Arme seines Großvaters. Paul hatte es übernommen, die Fragen des Jungen zu beantworten. Auf der anderen Seite des Kindes saß Isabelle, deren Augen im Kerzenschein glitzerten. Sie drückte immer wieder seine Hand und lächelte ihm zu. Jan selbst saß am Gang, damit er ein bisschen mehr Platz hatte. Als sich alle erhoben, verlor er Inga aus den Augen. Er folgte seiner Familie auf den Friedhof, erklärte unterwegs David, dass er nochmal eine knappe halbe Stunde ein braver Junge sein musste.
Martin hatte schon das Grablicht angezündet. Nele hatte sich an ihn gelehnt und Paul bekreuzige sich gerade, als Jan etwas unsicher den Grabstein musterte. Fest drückte er Isabelles Hand und ging an seinen Eltern vorbei. Noch immer lösten die Namen auf der Platte ein Herzrasen aus. Jan atmete tief durch. Er spürte die Blicke seiner Mutter mehr als das er sie wirklich sah. Dabei versuchte er wirklich nur unauffällig herauszufinden, ob Inga fünf Reihen weiter unten stand. Aber natürlich hatte er keine Chance. Etwa nach Hälfte der Zeit wurde David unruhig. Immer wieder wollte er, dass Jan ihn hochnahm, was aber nun mal noch nicht ging. Isabelle griff irgendwann ein und setzte sich den Vierjährigen auf die Hüfte. Der Kleine schmiegte sich an sie und ihr Umgang mit dem Jungen rührte Jan ungemein.
Als, aus Davids Sicht endlich, das letzte Lied verklungen war, verließ Jan hinter seiner Familie den Bereich des Familiengrabs. Er fiel etwas zurück und musterte die Menschen, blieb an der Weggabelung stehen und rief sich dann innerlich zur Ordnung. Erst am Eingang traf er wieder auf Anke und Isabelle, die mit David auf ihn gewartet hatten. Jan zögerte. Es fühlte sich nicht richtig an. Er hob den Kopf und noch ehe er etwas sagen konnte, nickte seine Mutter ihm zu. Erleichtert machte er auf dem Absatz kehrt und drängte entgegen des Besucherstroms zurück auf den Friedhof. Isabelles fragender Ausdruck verfolgte ihn nur einen Moment, dann konzentrierte er sich auf sein Bauchgefühl.