Mit rasendem Herz und schweißgebadet fuhr Jan aus dem Schlaf hoch. Wild tastete er nach dem Schalter der kleinen Lampe und stieß dabei das Glas Wasser vom Nachttisch, das er sich vor einer Stunde geholt hatte. Das Licht erhellte endlich das Zimmer und er ließ sich in das Kissen fallen.
Zuhause. Er war Zuhause. Alles war gut. Ruhig atmen. Hier war er in Sicherheit. Es war nur ein Traum gewesen. Nur ein böser, furchtbarer Traum.
Kopfschüttelnd rollte er sich zur Seite und vergrub seinen Kopf im Kissen. Es war eben nicht nur ein Traum. Und die Bilder drängten sich sofort in seinen Kopf, kaum dass er auch jetzt die Augen schloss. In den letzten fünf Wochen hatte es nicht eine Nacht gegeben, in der er einfach nur durchgeschlafen hätte. Die Flashbacks und Erinnerungen quälten in Nacht für Nacht und er war mehr als nur einmal von seiner eigenen Stimme wach geworden. Egal, was er auch probiert hatte, mit nichts ließ es sich betäuben.
Egal, ob er so lange wach blieb, bis ihm endlich von selbst die Augen zu fielen oder ob er sich gezielt hinlegte. Weder heiße Milch, noch Unmengen Baldrian hatten zum Erfolg geführt. Selbst mit einer Flasche Wein intus fand er keine durchgängige Ruhe oder ließen sich die Träume vertreiben. Schließlich hatte er sich ein Rezept vom Theaterarzt geben lassen und es mit aufkommenden Lampenfieber begründet. Er hatte den festen Vorsatz gehabt, es nicht zu übertreiben.
Allerdings verscheuchten auch die Beruhigungstabletten keine Träume, wie er feststellen musste. Warum nur hörte das nicht auf? Er hatte doch extra diesen letzten Stein damals mit an den See geschleppt und auch ihn versenkt. Jan fühlte sich furchtbar leer. Da war sonst nichts. Nur dieses kurze, grauenhafte Gefühl, mitten in der Nacht. Tagsüber war alles dumpf. Er war allerdings auch nicht in der Lage, Gefühle abzurufen. In den Proben wurde ihm das durchaus bewusst. Jan konnte seinen Text, wusste, wie und wann er etwas betonen sollte und an welchen Stellen er seine Mimik einzusetzen hatte. In den Einzelproben war das noch kein Thema, aber nächste Woche standen die ersten Szenenproben an. Irgendetwas musste ihm bis dahin einfallen.
Er war heilfroh gewesen, dass sie dieses Wochenende frei bekommen hatten. David würde die vertraute Umgebung gut tun. Der kleine Kerl hatte Isabelle sehr vermisst und Jan war mit seinem Latein bezüglich der Tages- und Abendbetreuung am Ende. Aber auch er hatte sich eingestehen müssen, dass ihm Isabelle fehlte. So sehr er ihr Nähe nach jenem Tag zuerst nicht ertragen hatten, so sehr sehnte er sich jetzt nach ihr. Ihm war klar, dass sie ihm sein Verhalten vielleicht nicht verzeihen würde. Und er hatte keine Ahnung, wie er das wieder in Ordnung bringen konnte. Ob er das überhaupt konnte. Vor allem, weil er ihr unbedingt verschweigen wollte, wie es zu seinem Rückzug gekommen war. Die Scham saß viel zu tief. Das ging niemanden etwas an. Das musste er einfach irgendwie auf die Reihe bekommen.
Endlich hatte sich sein Herzschlag beruhigt. Jan verließ das Bett und ging zum Fenster. Durch die Vorhänge schien nur das Mondlicht und es regnete leicht. Mit zittrigen Händen öffnete er das Fenster. Die Kühle der Nacht tat gut, er atmete die Luft langsam und bewusst ein. Er entledigte sich des durchgeschwitzten Shirts und blieb noch eine Weile dort stehen. Kurz nach Vier, auf der Straße war alles still. Nur ab und an fuhr ein Auto über die nasse Fahrbahn.
Die Stille war angenehm. Erst als es ihn fröstelte, schloss er das Fenster, zog den Vorhang wieder zu und suchte sich ein frisches Shirt aus dem Schrank. Wieder im Bett schloss er die Augen und hoffte, dass er nun einfach weiterschlafen konnte.
Er hatte dann keine Ahnung, wie spät es war, als er irgendwann wach wurde. Jan blieb regungslos unter der Decke liegen und verscheuchte den letzten Fetzen, mit dem er aufgewacht war. Nach und nach kam er in der Realität an. Er hörte seinen Sohn lachen. Das Radio lief, Geschirr klapperte. es fühlte sich nach Zuhause an, nach Alltag. Nur langsam kam er in die Gänge. Er folgte den Stimmen und blieb an der Tür zum Kinderzimmer stehen.
David saß am Boden und sortierte die Spielzeugautos. Dabei erklärte er Isabelle eifrig, wie seine neuen Spielkameraden hießen und was sie bisher so gemacht hatten. Das belustigte Lachen Isabelles klang durch das Zimmer.
"Und wie heißen die beiden Erzieherinnen?", fragte sie den Jungen.
"Die Nadine und die Carla", antwortete der Kurze und bestätigte auf eine weitere Nachfrage, dass er beide mochte. Dann zog er die Nase kraus und sah sie ernst an.
"Du bist aber besser", sagte er dann leise und ließ sich von ihr in den Arm nehmen. Kein Zweifel, auch David hatte sie vermisst. Jan beobachtete die Szene von der Tür. Leise hatte er sich an den Türrahmen gelehnt. Er wollte die beiden nicht stören. Gerade drückte Isabelle seinem Sohn einen Kuss auf die Wange und David sah sie liebevoll an.
"Hab dich lieb, Isi",
Jans Herz zog sich zusammen. Wie einfach es für ein kleines Kind doch war. "Ich dich auch, kleiner Schatz."
Herrje, wie die beiden da so saßen, das war seine Familie. Um auf sich aufmerksam zu machen, räusperte er sich kurz. David löste sich aus der Umarmung und kam zu ihm. Isabelle hob den Kopf, lächelte und stand vom Boden auf. Auch sie ging auf ihn zu und blieb am anderen Türrahmen stehen.
Gespannt sah David zwischen beiden hin und her. Jan wuschelte ihm durchs Haar. Gleichzeitig klopfte sein Herz so heftig, dass er kaum atmen konnte.
"Guten Morgen", hauchte er ihr entgegen. Es tat gut, sie zu sehen. Etwas schüchtern hob sie den Kopf und sah ihm nur kurz in die Augen. Jans Körper blieb in einer gespannten Haltung. Wie schön es wäre, sie jetzt einfach in den Arm zu nehmen, sie an sich zu ziehen und sie zu küssen. Es gab nichts, was er sich in diesem Moment mehr wünschte. Es kribbelte und er spürte, wie sehr er sie vermisste. Sie gehörte zu ihm. Er brauchte sie und wollte ihr die Liebe geben, die sie verdiente. Doch gleichzeitig versagten seine Reflexe. Es ging einfach nicht. Der Augenblick verstrich und sie löste sich von der Tür und schlug vor, ihm Frühstück zu machen. Jan blieb noch einen Moment allein zurück. Er schloss die Augen und ballte die Fäuste.
Isabelle kam mit einer Tasse Kaffee an den Tisch und setzte sich zu ihm. Seufzend betrachtete Jan den Toast auf seinem Teller, dann griff auch er nach seiner Tasse. Er hatte geduscht, David war mit seinem neuen Bagger beschäftigt und Isabelle hatte ihm ein kleines Frühstück gerichtet. Jetzt sah sie ihn aufmerksam an.
"Ich habe dich gehört heute Nacht", begann sie. Jan nickte. Das hatte er befürchtet. Dann war da ihre Hand. Auf seiner. Ihre Finger, die wie am späten Abend schon über seinen Handrücken streichelten. In ihm tobten die Empfindungen. Es traten der Fluchtinstinkt und die Sehnsucht gegeneinander an. Einerseits erstarrte sein Körper und begann zu kribbeln. Andererseits wollte er sich einfach der Berührung hingeben. Es war, als würden zwei Riesen an einem Seil zerren. Ganz vorsichtig zog er seine Hand zurück. Er konnte einfach nicht anders. Dabei glaubte er, sein Herz würde zerspringen.
"Du fehlst mir", sagte er leise. Dann schob er den Teller von sich. Er würde sowieso nichts herunter bekommen. Es war so weit. Das klärende Gespräch. Irgendwie hatte er es sich anders vorgestellt. "Es war nicht in Ordnung, dass ich so lange bei meinen Eltern geblieben bin und mich nicht mehr gemeldet habe. Und es war mehr als unfair, dass ich am Telefon so kurz angebunden war. Und ja, mir ist klar, dass ich faktisch unsere Beziehung beendet habe, obwohl ich das eigentlich gar nicht möchte." Er hob seinen Kopf. Ihr Blick ruhte auf ihm, aber er konnte ihre Mimik nicht deuten. "Isabelle, du hast das einfach nicht verdient. Du bist so eine kluge, starke, schöne, liebevolle Frau. Ein so besonderer Mensch. Dass du jetzt hier sitzt und mir zuhörst, ist keine Selbstverständlichkeit. Ich hatte gebetet, dass du noch hier bist, hatte es aber nicht zu hoffen gewagt. Natürlich, das muss nichts bedeuten. Mit ist bewusst, dass du mehr als einen Grund hast, mir keine weitere Chance zu geben. Manchmal denke ich, dass ich dir einfach sagen sollte, dass du besser gehst."
Isabelle unterbrach ihn.
"Langsam. Das ist dann immer noch meine. Entscheidung, Jan. In der Tat, ich habe es nicht verdient, dass du dich oftmals so verletzend und abweisend verhältst. Das hat niemand verdient. Umso mehr interessiert mich, warum du das machst. Denn du hast so oft gesagt, dass du mich liebst. Wie passt das also zusammen? Zur Liebe gehören doch auch Respekt und Vertrauen. Beides scheint ein Problem zu sein", stellte sie fest. Jan fuhr zusammen.
"Was kann ich tun, damit wir es nochmal versuchen?", wollte er wissen. Das anschließende Schweigen lag schwer im Raum. Schließlich lehnte sich Isabelle zurück und musterte ihn.
"Jan, du warst derjenige, der gesagt hat, dass er das nicht kann. Du warst derjenige, dem es zuviel wurde und der sich wieder zurückzog. Was hätte ich denn deiner Meinung nach machen sollen?"
Okay, sie war noch immer wütend. Um sich zu schützen, kniff er die Augen zusammen.Isabelle hatte laut und deutlich gesprochen und jedes Wort versetzte ihm einen Stich.
"Keine Ahnung", gab er dann stammelnd zu. Ihr Gesicht blieb abweisend.
"Aber du darfst nicht gehen", schob er nach und sah sie direkt an. "Ich liebe dich doch." Ja, so fühlte er es. Er liebte sie und er wollte sie nicht verlieren. Aber alles war zuviel geworden.
"Jan, ich konnte aber nicht mehr. Liebe hin oder her." Irritiert setzte er sich auf. Was hatte sie da gesagt?
"Also liebst du mich noch?", hakte er nach. Entnervt wandte sie den Blick ab.
"Darum geht es nicht. Und das weißt du."
Jans Herz raste.
"Also liebst du mich noch", stellte er fest. "Dann lass es uns versuchen, bitte."
Isabelle griff nach der leeren Tasse.
"Nochmal, darum geht es nicht", bekräftigte sie ihre Aussage.
"Um was denn dann? Erkläre es mir, ich versuche alles, glaub mir."
Isabelle stand vom Tisch auf und ging zur Spüle.
"Ich glaube dir, dass du mir alles versprechen würdest und es auch genauso meinst. Aber ich habe einfach keine Kraft mehr, immer wieder von vorne anzufangen." Wieder trafen ihn ihre Worte. Ja, sie hatte recht und das machte es für ihn nur noch schlimmer. Er liebte sie doch. Warum reichte das nur nicht? Sie kam zu ihm und blieb vor ihm stehen.
"Jan, ich mache dir keinen Vorwurf. Du hast soviel Ballast mit dir herumgeschleppt und ich dachte ja auch, dass wir es schaffen." Sie legte eine Hand auf seine Schulter, was ihn zusammenzucken ließ. Sofort zitterte er am ganzen Körper. Die Stelle, an welcher sie ihn berührte, brannte beinahe wie Feuer.
Erinnerungsfetzen durchzuckten ihn wie Stromstöße. Sein Mund wurde trocken und er glaubte, keine Luft zu bekommen. Schließlich sprang er auf und rettete sich ans Fenster. Schnell riss er es auf und atmete die kühle Luft ein, der Schwindel verschwand wieder. Er konnte ihren Blick in seinem Rücken spüren.
"Wir schaffen es", beteuerte er leise.
"Ach, Jan", meinte sie traurig. "Auch ich hätte mir nichts mehr gewünscht."
Auch ihm standen Tränen in den Augen als er sich umwandte. Sie schüttelte den Kopf. Wieder hatte er dieses Verlangen, sie einfach in den Arm zu nehmen. Und wieder gehorchte ihm sein Körper nicht. Im Grunde sah sie so aus, als würde sie darauf warten, dass er den ersten Schritt machte. Aber er konnte nicht, es ging einfach nicht. Verzweifelt drehte er sich wieder zum Fenster.
"Ein Anfang wäre, wenn du mir erklärst, was passiert ist. Damit ich verstehen kann, warum du dich so seltsam verhältst, mich von dir stößt und offenbar Albträume hast."
Er schloß die Augen und kämpfte die Tränen zurück. Bedacht schüttelte er wieder den Kopf.
"Das spielt keine Rolle. Das ändert nichts. Lass mich dir beweisen, dass ich diese Lektion verstanden habe. Du bist mir wichtig, nur du."
Sie sah ihn nachdenklich an. Unruhig spielte er mit den Ärmeln seines Pullis. Auf einmal erfasste ihn die Angst, dass dies nun wirklich das Ende sein könnte, mit brachialer Gewalt.
"Hast du mit Dr. Jäger über die letzten Wochen gesprochen?", fragte Isabelle. Er senkte den Kopf. Erklärte ihr knapp, dass die Therapie mit seiner Aufgabe beendet gewesen war.
"Wenn ich dich darum bitte, würdest du es tun? Mir zuliebe? Damit ich weiß, dass du etwas gegen all das unternimmst?"
Er wusste, es war eine Brücke, die sie ihm baute. Theoretisch ein eleganter Ausweg. Damit akzeptierte sie, dass er ihr gegenüber schwieg, ging aber sicher, dass er sich zumindest überhaupt jemandem anvertraute. Jan zögerte.
"Wenn du bei mir bist, das hilft mir am Meisten", antwortete er schließlich. Isabelle hob eine Augenbraue. Er machte einen großen Schritt auf sie zu und nahm ihre Hand. "Bitte, lass es uns versuchen", flüsterte er. "Liebe ist doch auch eine Medizin. Du hast mir so gefehlt, dass ich einfach völlig neben mir stand. Wenn ich dich wieder an meiner, an unserer Seite weiß, dann wird alles wieder gut. David war so traurig, das ging mir nah. Er hat dauernd nach dir gefragt und auch deswegen musste ich immer wieder an dich denken." Er atmete durch und sammelte nochmal allen Mut.
"Verdammt, Isabelle. Ich liebe dich."
Erschrocken sah er, wie ihr jetzt die Tränen über die Wange liefen.
"Nur damit du es weißt, ich liebe dich auch, du Vollidiot. Und nichts wünsche ich mir mehr, als das wir es hinbekommen. Aber so geht das einfach nicht, Jan."
Zärtlich wischte er ihr die Tränen aus dem Gesicht.
"Bitte, nicht weinen", flüsterte er sanft, dann zog er sie fest an sich. Sofort vergrub sie ihr Gesicht an seiner Brust und er streichelte ihr den Rücken. Sie weinte und weinte und ihm blieb nichts, als sie festzuhalten. Langsam tastete er sich zu einem Stuhl und zog sie dann auf seinen Schoß. Diesmal kämpfte er den Fluchtinstinkt nieder. Dies hier war wichtig. Er musste jetzt für sie da sein. Ihr geben, was sie gerade brauchte. Im Moment zählte nur sie. Egal wie sehr sich sein Innerstes wehrte, es musste warten.
Er verlor völlig das Gefühl für Zeit und Raum. Hielt sie nur fest und wartete darauf, dass sie sich beruhigte. Als sie ihn dann aus geröteten Augen an sah, fürchtete er, dass das Unvermeidliche bevorstand. Doch sie überraschte ihn.
"Wir versuchen es. Weil meine Liebe für dich größer ist, als deine Angst. Aber ich habe Bedingungen. Ich erwarte keine Wunderdinge. Es liegt allein an dir. Ich möchte sehen, dass du es ernst meinst."
Stumm nickte er.
Alles, was sie wollte.