Isabelle,
wenn du das gefunden hast, dann bin ich nicht mehr am Leben.
Es tut mir unendlich leid, dass ich Dich und Alex in den letzten Tagen belogen habe, aber ich musste es tun.
Ich sehe für mich keinen anderen Weg. Mir fehlt die Kraft und der Glaube.
Sie hat mich zerstört, so wie sie es wollte.
Bitte sorgt dafür, dass sie David nicht in die Finger bekommt.
In meiner Garderobe findest du in der Schublade im Schminktisch einen versiegelten Brief.
Bring ihn zum Jugendamt. Dort steht alles drin, was sie getan hat.
Es wäre schön, wenn ihr verhindern könntet, dass es Gott und die Welt erfährt.
Bitte sag meinen Eltern, dass ich sie sehr liebe und sie nichts hätten besser machen können.
Ich liebe auch dich, aber du hast definitiv ein einfacheres Leben mit einem Mann verdient, der dir geben kann, was du bereit bist zu geben. Ich habe es wirklich versucht, bitte glaub mir das. Aber diese Bilder, die werde ich nicht los und der Schmerz frisst mich auf.
Danke, dass es dich in meinem Leben gegeben hat.
Ich würde mir wünschen, dass der Kleine bei dir groß werden darf.
Erkläre es ihm irgendwann und mach ihn zu einem stärkeren Mann, als ich es bin.
In Liebe
Jan
Isabelle stand allein in der dunklen Küche. Es war weit nach Mitternacht. Irgendwo schlug eine Kirchenglocke. Ansonsten war es still. Jan hatte ihr alles erzählt und sie hatte bitterliche Tränen geweint. Fassungslos hatte sie ihm zugehört, als er ihr von dem ersten Versuch mit den Tabletten und dem Alkohol erzählt hatte. Ihr war schlagartig bewusst geworden, dass sie nie davon erfahren hätte, wenn er sich nicht von selbst anvertraut hätte.
Sie hatte begriffen, warum Jan an jenem Nachmittag so bereitwillig eingelenkt hatte, als es um Davids Umzug gegangen war.
Der seltsame Abschied an dem Tag war ihr in den Sinn gekommen. Seine abweisende Art und die Distanz in den Telefonaten in den Tagen danach.
Er hatte es geplant gehabt. Und war gescheitert.
Der zweite Versuch dagegen war eine spontane Affekthandlung gewesen und vermutlich deswegen nicht erfolgreich.
Sie hatte es übersehen. Nein, verbesserte sie sich, sie hatte ihn irrtümlicherweise für stabiler gehalten. Wie gut er ihr etwas vorgemacht hatte. Auch dies traf sie. Jan hatte ihr etwas vorgespielt. Tat er das auch in anderen Bereichen? Irgendetwas in ihr, hatte es befürchtet. Immer wieder hatte die Ahnung leise angeklopft. Hatte er ihr im Herbst nicht versichert, dass er keine Gedanken mehr an eine solche Tat verschenkte? Was konnte sie ihm glauben? Würde es jemals besser werden? Hatten sie eine Chance? Nicht nur für ihre Beziehung an sich, sondern auch auf ein sorgenfreies, harmonisches Leben? Miteinander? So viel ging ihr durch den Kopf.
Jan hatte sie tief in seine Seele blicken lassen und ihr war bang geworden. Als er dann endlich mit der Sprache heraus gerückt war und von seiner Kontaktaufnahme in das Krisenzentrum berichtet hatte, wollte sie vor Erleichterung nur weinen. Es war ja nicht so, dass sie seine Verzweiflung nicht verstehen konnte. Natürlich war da auch ein kleines Gefühl von Wut gewesen, dass aber ihrem Mitgefühl schnell gewichen war. Als sie in Jan erstmals seit Wochen etwas Kampfgeist hatte erkennen können, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Ja, sie würde jeden Schritt mit ihm gehen. Versprach ihm erneut, dass er nicht alleine war. Im Gegenzug hatte er versprochen, dass er sich nichts antun würde. Dass er sofort sie oder eben das Krisenzentrum kontaktieren würde, sollte er sich jemals wieder an diesem Punkt wiederfinden.
Auf beiden Seiten waren viele Tränen geflossen. Isabelle war stolz auf ihn, das hatte sie ihm auch gesagt.
Sie war aber auch entsetzt, erschrocken und auch wütend. Etwas in ihr war tief getroffen, dass er ihr nicht vertraut hatte. Und sie wusste, dass auch sie dies erst wieder würde lernen müssen.
Seine Lügen setzten ihr zu, er hatte das grenzenlose Vertrauen, welches sie ihm geschenkt hatte, missbraucht. Auf der anderen Seite war auch ihr klar, dass sie Jans Taten anders bewerten sollte. Musste. Um so mehr aus Jan heraus brach, um so enger ließ er sie an sich heran. Schlussendlich hatte sie über die Kratzwunden an den Unterarmen gestreichelt. Einiges war kaum noch zu sehen, an anderen Stellen hatte sich Schorf gebildet. Eine Reaktion auf den Druck in ihm, hatte der Heilpraktiker erklärt. Gemeinsam hatten sie die übrigen Tabletten des Dealers die Toilette heruntergespült.
Jan hatte ihr gestanden, dass er Angst hatte, ohne Alkohol oder Tabletten nicht schlafen zu können. Dass er Nacht für Nacht durch die Hölle ging und schon vor lauter Panik nicht schlafen gehen wollte. Jetzt aber schlief er. Das Medikament von Lars Martin hatte ihm dabei geholfen und Isabelle hatte sich in die Küche zurückgezogen, um ihre Gedanken zu sortieren.
Jedes Wort hatte sie so gemeint.
Sie wollte für ihn da sein, ihn begleiten und ihm zeigen, dass er das nicht alleine durchstehen musste. Egal, wie schwer es werden würde. Wenn er den Mut besaß, sich dem Trauma zu stellen, dann würde sie den Mut haben, den Weg mit ihm zu gehen. Solange sie einander hatten, sagte sie sich, konnten sie es schaffen. Und nichts wollte sie mehr als das. Trotz der Zweifel. Obwohl sie der Vertrauensbruch belastete. Ihr war klar, dass er das nicht gemacht hatte, um sie zu verletzen. Hatte viel in Internetforen darüber gelesen. Aber Isabelle wusste dennoch nicht, ob sie würde damit umgehen können, wenn sie ihn nicht erreichen konnte, sobald sie wieder in Stuttgart war.
Erstmal aber war sie in München.
Zunächst war sie wie gelähmt gewesen und hatte einige Zeit gebraucht um zu verstehen, was Jan ihr alles erzählt hatte. Sie trieb ihn an, wenn er nicht vorwärts kam und versuchte ihm jede Kraft zu geben, die er brauchte. Sie zogen Ariane ins Vertrauen. Und Isabelle war dankbar, dass die Kollegin an ihrer Seite war, als Jan am Ostersonntag an seiner Standhaftigkeit zu zweifeln begann. Er war regelrecht in sich zusammen gefallen.
Isabelle hielt sich etwas im Hintergrund, als Ariane ihre eigene Geschichte vor Jan ausbreitete und ihm damit versuchte klar zu machen, dass er nicht alleine auf der Welt war. Dass es viele andere Menschen gab, die ähnliches erlebt und damit überlebt hatten. Und heute ein Leben führten, das nicht mehr von der dunklen Erinnerung beherrscht wurde. Sie bewunderte die Ältere für ihr klare Ansichten, ihren Mut und vor allem ihre Direktheit.
Auch mit Lars Martin hatte sie lange gesprochen, Isabelle hatte ihn als einen sehr emphatischen und kompetenten Mann kennen gelernt.
Lars Martin hatte ganz klar gesagt, dass er Jan auch in die Klinik überweisen könnte und das auch tun würde, sollte er der Auffassung sein, dass Jan sich selbst gefährdete. Und dass er dann auch Sorge tragen würde, dass er dort auch ankam. Isabelle hatte fast schon befürchtet, dass alles umsonst gewesen war. Dass sie keine Chance hatten. Doch die Ansage des Heilpraktikers und Arianes Unterstützung waren erfolgreich gewesen. Ja, Jan kämpfte, aber meist mit sich selbst.
Ariane riet Jan eindringlich, dass er seinem Arbeitgeber zumindest über die psychische Situation reinen Wein einschenken musste. Auch Lars Martin hatte ihm dies empfohlen, Jan hatte zunächst auf stur geschalten. Er fürchtete, das Theater würde ihn feuern. Schließlich hatten sie auch Alex angerufen, der fast umgehend nach München gekommen war. In Isabelles Augen war er derjenige, der absolut Bescheid wissen musste. Jan hatte schon ein paar Tage wieder auf der Bühne gestanden, als Alex ihn endlich hatte überzeugen können.
In einem langen Gespräch hatten sie Robert über Jans Gesundheitszustand und die anstehende Therapie informiert. Dabei waren sie nicht ins Detail gegangen und Robert hatte dies auch nicht verlangt. Er hatte Jan versichert, dass er ihn unterstützen würde. Gleichzeitig hatte er ein paar Spielregeln aufgestellt. Unter anderem wollte er Bescheid wissen, wann Jan Sitzungen hatte und ihn an diesen Tagen vor der Vorstellung sehen. Von Fall zu Fall würde Robert entscheiden, ob er Jan an diesen Tagen den Weg auf die Bühne zutraute. Vor allem hatte er aber auch versprochen, dass er vorerst nicht die Theaterleitung informieren würde. Dies konnte er so lange verantworten, wie Jan für die Produktion tragbar war. Auch Isabelle hatte dies alles sehr erleichtert. Um seinen Job sollte sich Jan nicht auch noch sorgen müssen. Lange hatte sie mit Alex am letzten Abend alleine gesprochen. Auch Jans ältester und bester Freund war erschüttert über das, was Jan beinahe getan hatte.
Schlussendlich hatte sie auch Dr. Funk in einem Erstgespräch kennen gelernt. Die Priorität lag immer noch auf der Stabilisierung, erst dann würde die wirklich harte Arbeit an der Aufarbeitung beginnen. Mit Lars Martin
hatten sie entschieden, dass Jan sich weiterhin auf sich selbst konzentrieren sollte und ein Wechsel Davids für ihn zu früh kam. Isabelle würde also bald mit dem Jungen wieder nach Hause fahren. Gemeinsam hatten sie an einem geregelten Tagesablauf für Jan gearbeitet. Routine, so der Heilpraktiker, war ein wichtiger Schritt. Dazu gehörten die regelmäßigen Sitzungen ebenso wie die Arbeit und der Sport. Es war ihm wichtig, dass sich Jan nicht treiben ließ. Nachmittags spazierten sie mit David zum Theater, brachten Jan dort bis zur Tür, ehe sie mit dem Kind noch Zeit an der frischen Luft verbrachte. Ariane wiederum begleitete Jan am Abend dann nach Hause.
Isabelle warf einen Blick auf die Uhr. Die Vorstellung war gerade vorbei, in den letzten Tagen war Jan immer recht früh zu Hause gewesen. Sie griff nach ihrem Buch und krabbelte unter die Decke. Es machte ihr nichts aus, auf ihn zu warten, auch wenn es später werden würde. Das hatte sie ihm auch gesagt und dennoch spürte sie immer eine kleine Erleichterung, wenn sie den Schlüssel im Schloß hörte. Dabei begriff sie, dass dieses Gefühl so schnell nicht verschwinden würde. Es fiel ihr schwer, Jan zu vertrauen. Und sie ließ ihn ungern aus den Augen. Aber in wenigen Tagen musste er all diese Schritte wieder ohne sie gehen. Isabelle hatte Angst. Angst davor, dass es sie zermürben würde.
Was, wenn er sich wieder nicht an Absprachen hielt? Sich am Telefon ausschwieg? Mal nicht erreichbar war? Ja, sie hatten über Regeln gesprochen. Zusammen mit Lars Martin und Dr. Funk. Sie glaubte ihm jedes Wort, das er dort gesprochen hatte. Er wollte das alles, er wollte sich daran halten. Aber das hatte er schon oft gesagt. Natürlich war ihr klar, dass er nicht so handelte, wie es ein gesunder Mensch tat. Dass er das nicht immer bewusst steuerte. Nicht nur Jan musste lernen, auch sie.