Die Ludgeri-Klinik lag in einem der versprenkelten Vororte Münsters. Das Gelände umfasste zahlreiche Gebäude und einen großen Park. Wäre es nicht umzäunt gewesen, hätte es sehr idyllisch wirken können. Der Pförtner musterte sie gewissenhaft und erklärte ihnen dann den Weg zur Anmeldung. Ruhig lenkte Paul den Wagen auf den ausgewiesenen Besucherparkplatz. Verschiedene Wegweiser gaben ab dort Orientierung. Aufnahme, Anmeldung und Besucherbereich befanden sich in einem zweigeschossigen Klinkerbau, der so typisch für die Region war. Ein Schild wies auf ein Café auf der Rückseite hin. Paul deutete darauf und erklärte, dass er dort warten würde.
Der Samstag hatte freundlich begonnen. Die Vormittagssonne lachte vom Himmel. Sie hatten keine halbe Stunde hierher gebraucht. Da Martin einen wichtigen privaten Termin nicht hatte verschieben können, war Anke mit David auf dem Hof geblieben. Da der Kleine so oder so sehr an ihr hing in diesen Tagen, erschien dies allen die vernünftigste Lösung zu sein.
Isabelle nickte Paul zu und nahm Jans Hand. Zusammen betraten sie den Eingangsbereich, der hell und einladend gestaltet war. Beherrscht wurde er von einer runden Empfangstheke, die eher an eine modernen Rezeption denn einer Krankenhausaufnahme erinnerte. Unsicher sah Jan sich um. Alles wirkte entspannt und freundlich. Kein gehetztes Gerenne oder laute Stimmen. Zwei Frauen standen hinter der Theke und blickten die Neuankömmlinge freundlich an. Zu seiner Rechten konnte Jan eine Milchglastür ausmachen. Zu seiner Linken führte eine Wendeltreppe aus Holz in den oberen Bereich.
Ohne seine Hand loszulassen hatte Isabelle den Ausdruck einer Email aus ihrer Handtasche gezogen und reichte diesen nach einer kurzen Begrüßung an die ältere der beiden Frauen weiter. Die lächelte sie an und gab etwas in ihren PC ein. Dann deutete sie zur Milchglastür und bat sie, dort kurz zu warten. Isabelle bedankte sich und zog Jan sanft mit sich. Der Bereich hinter der Tür entpuppte sich als Wartezimmer. Sie waren dort die Einzigen.
Jan ging sofort zum Fenster, während Isabelle auf die bereitgestellte Wasserkaraffe zusteuerte. Ihr Angebot auf ein Wasser schlug Jan mit heiserer Stimme aus. Stattdessen sah er konzentriert aus dem Fenster. Im Park gingen vereinzelt Personen spazieren. Ein Auto fuhr im Schritttempo vom Parkplatz. Er war müde. Und angespannt gleichzeitig. Der Termin hier lag ihm schwer im Magen. Hatte ihn wach gehalten in der Nacht. Jan seufzte leise. Kurz darauf spürte er ihre Hand an seinem Rücken. Sie war hinter ihn getreten und flüsterte beruhigend auf ihn ein. Ja, es ging hier heute nur um ein Kennenlernen. Eine erste Einschätzung beiderseits. Sofern er wollte, konnte er sofort bleiben. Bis Mittwoch hatte er Zeit. Bis dahin musste er eine Entscheidung fällen. Sein Herz schlug ihm jetzt bis zum Hals.
Jan wandte sich um und lehnte sich still an Isabelle.
»Entspann dich. Lass es auf dich zukommen. Ich verspreche dich, dass dich niemand gegen deinen Willen hier behält« sagte sie leise. Er wusste, Frau Dr. Funk hatte Himmel und Hölle für diesen Platz in Bewegung gesetzt. Nach dem Telefonat vom Vortag hatte sie noch etwas mehr Druck aufgebaut. Auch sie hatte gespürt, dass Jan abspringen oder schlimmeres tun könnte.
Sie mussten nicht lange warten, wurden nach wenigen Minuten abgeholt und von einer Arzthelferin über die Wendeltreppe ins obere Geschoss geführt. Zum einen befand sich hier der Besucherbereich, wie sie erfuhren, aber auch die Klinikleitung hatte hier ihre Büros. Frau Dr. Funk hatte ihnen einen Termin bei einem ehemaligen Studienkollegen besorgt. Zusammen mit drei anderen Kollegen hatte er die therapeutische Leitung inne. Ein sehr fähiger Psychologe, wie Dr. Funk beteuert hatte.
Isabelle und Jan wurden in einen Besprechungsraum gebeten, der so gar nicht nach Arztzimmer aussah. Nur Sekunden nach ihnen betrat ein etwa 45-jähriger, blonder Mann den Raum, der sich als Christian Schmedding vorstellte. Er war noch etwas größer als Jan, gut trainiert und besaß stahlblaue Augen. Mit diesen betrachtete er das Paar interessiert, ehe er ihnen die Hand gab. Dann deutete er auf die Sitzecke.
Jan griff wieder nach Isabelles Hand und sollte sie während des Gesprächs nicht wieder loslassen. Zu ihrer Verwunderung trug Schmedding keinen Arztkittel, sondern eine helle Jeans und ein Poloshirt. Nur ein Namensschild wies ihn als Personal der Klinik aus. Er nahm ebenfalls Platz. An seinem Sessel war eine Schreibablage montiert, die er zu sich heranschwenken konnte. Dort war ein Tablet platziert. Doch vorab beließ er es an Ort und Stelle. Er stellte sich ausführlich vor, erzählte zur Klinik und den therapeutischen Ansätzen. Zwischendurch stellte er Fragen, die davon zeugten, dass er gut auf diesen Termin und seinen Patienten vorbereitet war.
Jan beantwortete das Meiste nur einsilbig und wortkarg. Aber Schmedding ließ sich davon nicht beirren und bezog auch Isabelle geschickt mit ein. Unbemerkt steuerte er das Gespräch in die von ihm gewünschte Richtung. Er kratzte ein wenig an Jans Oberfläche. Führte diesen aber auch zurück auf sicheres Terrain. Nach einer knappen Stunde lehnte er sich zurück und nahm nun das Tablet zur Hand. Offenbar war Jans Akte schon elektronisch abgelegt. Er lächelte beiden aufmunternd zu.
»Wir würden die EMDR Therapie weiterführen«, begann er. »Allerdings erst, wenn wir Sie etwas mehr stabilisiert und ausreichend Ventile gefunden haben. Dafür haben wir hier sehr viele und sehr unterschiedliche Möglichkeiten. Einzelgespräche gehören zu unserem Angebot, ebenso wie Gruppentherapien. Ausgleichsmöglichkeiten über Sport, Kunst, Handwerk, Musik. Intensive Betreuung , sofern nötig. Konfrontationstherapie ebenso wie Entspannungstechniken. Das Wichtigste jedoch ist, dass wir den Patienten permanent unter ärztlicher Beobachtung haben. Weglaufen oder Eskalation funktioniert hier nicht. Das Betreuungspersonal ist erfahren, top ausgebildet und deren Job ist es, jederzeit einzugreifen.«
Er reichte ihnen eine Broschüre. »85% unserer Patienten sind freiwillig hier. Nur 5% brechen vorzeitig ab. Posttraumatische Belastungsstörungen sind gut therapierbar. Nur wenige müssen wiederkommen. Wir haben kaum Rückfälle zu verzeichnen. Unser Ziel ist es, Sie weitestgehend in ein normales Leben zu entlassen. Sie sollen zurück in einen Alltag finden. Je nach Umständen begleitet durch eine ambulante Therapie am Wohnort.«
Er sah Jan mit wachen Augen an. Schmedding wirkte grundsympathisch und kompetent. Und er strahlte für Jan eine sehr beruhigende Ruhe und Unaufgeregtheit aus.
»Und wenn ich das nicht kann?«, fragte Jan leise.
Schmedding lächelte. »Sie können. Glauben Sie mir. Sie bekommen zunächst mindestens 14 Tage, an denen wir uns zusammen mit Ihnen sehr intensiv auf Sie konzentrieren werden. Keine Einflüsse von außen. Keine Kontakte, so schwer das jetzt klingt.«
Isabelle hob die Augenbrauen. Nun nickte der Arzt ihr zu. »Ja, ich weiß. Bezüglich des kleinen Sohnes werden wir Rücksicht nehmen und situativ entscheiden. Aber eben immer im Rahmen dessen, was für Ihren Partner gerade das Beste ist.«
Isabelle spürte, wie Jan seinen Griff verstärkte und sich anspannte. Auch Schmeddig registrierte dies. Als erfahrener Therapeut erkannte er umgehend Jans veränderte Haltung.
»Wir haben uns die Regeln nicht einfallen lassen um jemanden zu ärgern oder zu quälen. Wir haben diese aufgestellt, damit der Patient lernt, sich allein auf sich zu konzentrieren.« Er betrachtete Jan und Isabelle intensiv. »Raus aus den ungesunden Mustern, die sich in der depressiven Phase gebildet haben. Zudem ist es keine Lösung, sich an jemanden zu klammern. Sei es das Kind, der Partner oder die Eltern.«
Jan biss sich auf die Lippe. »Aber ich brauche Isabelle«, erklärte er leise.
»Brauchen ist keine besonders gute Basis für eine Beziehung. Liebe wäre besser. Und erst einmal müssen Sie wieder lernen, sich selbst zu lieben«, erklärte Schmedding ernst.
Jan brach den Blickkontakt ab und drückte Isabelles Hand noch fester. Der Arzt lächelte milde und wechselte behutsam das Thema. Er bot an, sie über das Gelände zu führen. Zeigte ihnen die Therapieräume und den Wohntrakt sowie den Aufenthaltsbereich. Anschließend führte er sie wieder in das Besprechungszimmer. Dort reichte er ihnen ein paar Formulare.
»Ich nehme an, Sie möchten nicht direkt bleiben?«, fragte der Therapeut. Jan verneinte dies leise. »Sie können jederzeit her kommen. Auch nachts, die Notfallaufnahme ist rund um die Uhr geöffnet. Wir halten den Platz bis Mittwoch frei. Ihre bisherige Therapeutin hat sich sehr eingesetzt. Wir sind zusammen der Meinung, dass Sie hier richtig wären. Nach allem, was ich gelesen und heute gesehen habe, sollten Sie nicht mehr lange warten. Sie haben eine Chance. Aber nur mit professioneller Unterstützung. Die können wir Ihnen geben. Regeln Sie die wichtigsten Angelegenheiten und verbringen Sie etwas Zeit mit ihrem Sohn. Dann kommen Sie her und wir übernehmen den Rest.» Nochmal sah er Jan in die Augen. »Ich bin ehrlich. Besser früher als später und ich lasse Sie heute ungern gehen.«
Neben ihm zog Isabelle scharf die Luft ein. Jan klammerte sich weiterhin an ihre Hand, schüttelte wieder den Kopf. Seufzend erhob sich der Therapeut und nickte ihm zu. Dann führte er sie nach unten und verabschiedete sie herzlich. Nicht ohne Isabelle auf die Gesprächsrunden der Angehörigen hinzuweisen. Schweigend verließen sie anschließend das Gebäude und holten Paul im Café ab.
Jan konnte später gar nicht sagen, woher seine schlechte Laune rührte. Warum er das dringende Bedürfnis verspürte, allein sein zu wollen. Dabei sollte er, und seine Mutter sprach dies auch deutlich aus, die verbleibende Zeit mit David verbringen. Morgen schon würden sie nach Hause fahren. Ihm war so, als sei Isabelle enttäuscht von ihm. Jan ahnte, dass sie es gerne gesehen hätte, wenn er kurzfristig oder am besten sofort in die Klinik gegangen wäre. Jetzt lag er trotz des schönen Wetters in der Bibliothek und hatte gelangweilt durch die Fernsehprogramm gezappt. Seine Eltern, Isabelle und David waren im Garten, er konnte sie lachen hören.
Er verstand sich ja selbst nicht.
Auch warum er diese notwendige Entscheidung nicht endlich treffen konnte.
Dabei hatte er zu diesem Schmedding tatsächlich Vertrauen gefasst.
Und natürlich hatte er begriffen, dass er diesen Schritt gehen musste.
Trotzdem konnte er es nicht aussprechen.
War da dieses nagende Gefühl in seiner Brust.
Er wusste, dass er sich unfair verhielt.
Dass sein Schweigen unmöglich war.
Und seine Mutter hatte recht.
Morgen würde er Isabelle und David unendlich vermissen.
Und es schnürte ihm die Kehle zu, dass er sie wochenlang nicht würde sehen oder sprechen können.
Jan wollte, dass dieses schlechte Gefühl endlich verschwand.
Dass diese bleierne Müdigkeit aufhörte.
Entnervt schaltete er den Fernseher wieder aus.
Er blieb noch eine Weile liegen, dann rappelte er sich auf und folgte der fröhlichen Kinderstimme in den Garten.
David, Isabelle und Paul saßen am Tisch und lachten gemeinsam. Gerade schenkte der Kleine seiner Ersatzmutter einen strahlendes Lächeln und ein Augenzwinkern. Es versetzte Jan einen kurzen Stich. Er blieb an der Terrassentür stehen und beobachtete die drei. Obwohl sein kleiner Sohn so viel mitgemacht hatte, kam er offenbar ganz wunderbar zurecht. Ganz anders als er. Und er konnte sehen, wie sehr der Junge Isabelle liebte und ihr vertraute.
Wieder strahlte er sie an und ließ sich etwas erklären. Als er keck antwortete musste Isabelle ebenso loslachen, wie Jans Vater. Der stand auf und nahm David auf den Arm, wirbelte ihn kurz durch die Luft. Das Quietschen lockte wiederum den Hund heran, der aufgeregt um Paul herumsprang.
»Aber ich hab gewonnen!«, rief David triumphierend, als er abgesetzt wurde. Sofort ging er vor Fred in die Knie und kuschelte sich an das Tier. »Darf ich mit ihm in den Hof?«, fragte er dann. Paul nickte und zog ein Leckerchen aus seiner Hosentasche.
»Aber denk daran, im Hof bleiben. Wir essen gleich und wollen dann weder dich noch den Hund erst suchen müssen!« Mit diesen Worte reichte er dem Kind den Hundekuchen.
»Und wenn du reinkommst, bitte erst Händewaschen«, erinnerte Isabelle. Glücklich sprang David auf, fütterte seinen tierischen Freund und zog mit ihm davon. Erst jetzt entdeckte Paul Jan.
»Komm, setz dich zu uns, deine Mutter braucht noch kurz in der Küche«, meinte er und winkte ihn zu sich. Isabelle drehte sich um und er konnte sehen, wie sehr sie sich freute, dass er seinen Schutzbunker verlassen hatte. Sie lächelte ihn, deutete auf den Platz neben sich und formte ein tonloses »Komm her« mit ihren Lippen. Tief atmete Jan durch, dann nahm er sich vor, den Rest des Tages alles Negative auszublenden.