Mit einem Lächeln und dem Babyphone in der Hand betrat Isabelle das Wohnzimmer. Leise drückte sie die Tür zu und wandte sich ihrem Besuch zu. Tina hatte sie und David vom Flughafen abgeholt, mit ihnen gekocht und sich den Abend für ihre beste Freundin frei gehalten. David schlief, nachdem er erst ausgiebig mit den Katzen gespielt und geschmust hatte. Der kleine Kerl war glücklich darüber, wieder in seinem Zuhause zu sein.
»Danke, dass du dich so lieb um Leo und Mimi gekümmert hast.«
Tina reichte ihr ein Glas Wein.
”Kein Ding. Immer gerne und es war ja ein Notfall«, meinte sie. Seufzend nippte Isabelle, dann nahm sie einen Schluck vom Weißwein, den Tina mitgebracht hatte. Kurz hatte Leo seine Ohren gespitzt, dann hatte er sich wieder im Lesesessel zusammengerollt.
Tina war jeden Tag zweimal in der Wohnung gewesen, hatte die Katzen versorgt, gelüftet, die Pflanzen gegossen und sich um die Post gekümmert. Auf Isabelles Bitte hin hatte sie auch am Vortag ein paar Kleinigkeiten eingekauft, damit sie frische Lebensmittel im Haus hatten. Isabelle war ihrer Freundin sehr dankbar. Auch dafür, dass sie jetzt noch geblieben war. Endlich konnte sie die andere auf den aktuellen Stand bringen und das Reden über die letzten Tagen half ihr, die Gedanken zu sortieren.
Hier und da hatte Tina kritisch nachgefragt, ihre Meinung beigesteuert und ehe sie es sich versahen, war die Flasche Wein fast leer.
Gerade hatte Isabelle ihr auf dem I-Pad die Fotos der Wohnung gezeigt, die sie sich morgen noch ansehen würde. Im Grunde nur noch pro forma, denn Alex war schon dort gewesen. Seine Fotos und Beschreibungen bestätigten den ersten Eindruck.
Natürlich ging das alles sehr schnell, da musste sie Tina recht geben. Gleichzeitig spürte sie aber, dass es richtig war. Ein Neuanfang auf neutralem Boden würde auch ihr helfen. Die Beziehung zu Jan brauchte ein Zuhause, das nicht überschattet war von bösen Erinnerungen. Und hier steckte immer noch zu viel Diana in den Wänden.
»Und zu wann kannst du umziehen?«, fragte Tina. Sie wischte immer noch die Fotos hin und her. Offenbar hatte es ihr besonders die moderne und nieselnagelneue Einbauküche angetan.
Isabelle erzählte, dass sie quasi schleichend innerhalb der nachten vier bis fünf Wochen umziehen konnten. Das Kinderzimmer musste noch bestellt werden, Paul wartete auf die konkreten Maße. Über ein neues Schlafzimmer hatte sie mit Jan nur grob gesprochen, aber noch nichts ausgesucht. Isabelle überlegte, ob sie Jule fragen sollte, ob sie ihr dabei helfen könnte.
»Und dann zahlt ihr doppelte Miete? Geht das? Jan verdient doch nicht mehr, oder?«
Isabelle schüttelte den Kopf.
»Das Theater zahlt bis Ende des Monats noch eine Abschlagszahlung, ab dann bekommt er nur Krankengeld. Aber Alex hat unter Umständen schon einen Nachmieter. Ein Kollege von Jan, hier am Theater. Der braucht bis Ende des Jahres eine Bleibe und springt so lange ein. Wir kündigen dann ordentlich, da macht der Vermieter mit.«
Sie hatten Glück, und Alex. Dessen Kontakte und sein Verhandlungsgeschick war Gold wert. Sobald der neue Mietvertrag unterschrieben war, würde sich der Kollege die Wohnung ansehen, Interesse an den Möbeln hatte er schon bekundet. Den Rest würde Isabelle über den Kleinanzeigenmarkt im Netz inserieren.
»Da hast du ganz schön was vor«, meinte Tina anerkennend. Nickend setzte sich Isabelle auf.
»Wenn Jan zurück kommt, dann soll er ein neues Heim vorfinden. Ich möchte ihm bieten, was er braucht. Was wir alle brauchen, auch David und ich. Ein Zuhause, das von Liebe und Geborgenheit geprägt ist. Einen Neuanfang als Familie. Das ist auch mein Wunsch.«
Ihre Freundin betrachtete ihr Glas und stellte es dann auf dem Tisch ab.
»Der Kleine sagt Mama zu dir? Ich dachte, du hattest versucht, ihm das abzugewöhnen?«
Tief atmete Isabelle durch. Ja, das hatte sie um Ostern herum versucht. Doch nun hatte sich einiges geändert. Zum einen war da diese tiefe Verbundenheit zwischen David und ihr. Sie liebte den kleinen Jungen so sehr. Zum anderen hatte Jan den Begriff aktiv genutzt und sie damit auf dem falschen Fuß erwischt. Erst hatte sie sich geärgert, ihn aber vor dem Kind nicht ansprechen wollen. Doch schon eine Sekunde später hatte sie sich gefragt, warum eigentlich. Es fühlte sich richtig an. David hatte ganz selbstverständlich umgeschalten. Er hatte nicht einmal mehr Isi gesagt.
»Es ist richtig so. David hat sich seine Mama ausgesucht. Und das lange bevor wir uns darüber klar waren. Für ihn ist die Welt so wieder im Gleichklang. Und bei allem was seine leibliche Mutter auch ihm angetan hat, eine logische Folge. Er lehnt sie ab. Das hat er im Kindergarten sehr deutlich gemacht. Irgendwann, wenn er älter und verständiger ist, müssen wir ihm natürlich erklären, dass ihn eine andere Frau zur Welt gebracht hat. Ganz bestimmt werden wir auch irgendwann sehen müssen, ob und wie er einen Bezug zu Diana gewinnt. Im Moment aber ist das unmöglich.«
Morgen sah sie Heike und sie hoffte, dass ihr die Kinderpsychologin Ratschläge hatte. Außerdem war sie gespannt, zu welcher Einschätzung jene kommen würde. Auf sie selbst machte David einen guten Eindruck. Er war fröhlich und weiterhin sehr offen. Ja, er hatte nach einer extra langen Kuschelnde verlangt, als sie ihn ins Bett gebracht hatte. Nach seinem Vater hatte er gefragt, verständlich. Aber auch da hatte er sie wieder überrascht. David wünschte sich, dass der Papa gesund gemacht wurde.
»Was machen die Ermittlungen?«
Isabelle hatte Tina alles erzählt. Um Jan gerecht zu werden, hatte sie sich aber vorher sein Einverständnis eingeholt. Für Tina legte sie die Hand ins Feuer. Sie würden niemandem etwas verraten.
Auch dazu hatte Alex Neuigkeiten gehabt. Dianas Schwester Sina hatte ihre Aussage gemacht. Morgen wollte Heike eine Einschätzung abgeben, ob David gehörte werden konnte und sollte. Jan dagegen galt derzeitig nicht als vernehmungsfähig, aber man wollte ihn unbedingt nochmal hören. All das wertete der Anwalt positiv, er sah große Chancen, dass es zu einem Verfahren kommen könnte. Und vielleicht, so hoffte Isabelle, bekam Diana dann eine gerechte Strafe. Die würde zwar nicht wieder gut machen, was Jan gerade durchlebte, aber es wäre zumindest ein wichtiger Mosaikstein. Manchen Opfern half es sehr, wenn die Täter verurteilt wurden, sie hatte darüber gelesen. Sollte es zu einem Prozeß kommen, würde sich auch Jan einem Glaubwürdigkeitsgutachten unterziehen müssen. Und dafür musste er deutlich stabiler sein als derzeit. Er ahnte aber von all dem nichts, weil weder sie noch Alex noch seine Eltern ihm zu große Hoffnungen hatten machen wollen. Außerdem hatten sie untereinander vereinbart, ihn wenig Stress auszusetzen. All das hatte Zeit. Ebenso die Informationen rund um das Theater und die Entscheidungen hierzu. Auch deswegen hatte Jan zur Zeit kein Handy. Er hatte es ihr noch in München am Flughafen in die Hand gedrückt und sie gebeten, es für ihn aufzubewahren.
Es war dann schon 23 Uhr als Tina den Heimweg antrat. Nochmal sah Isabelle nach David, der fest schlief. Mimi hatte es sich an seinem Fußende bequem gemacht und schien beinahe über ihn zu wachen. Ab morgen begann wieder der Alltag und sie sehnte sich fast danach. Es wurde Zeit.
Sie hatte David dann einen sanften Einstieg in seinen ersten Kindergartentag gegönnt. Zusammen hatten sie gefrühstückt und waren dann ohne Hast durch den Park gegangen. Wie früher üblich, führte sie der Weg vorbei an dem Teich und David freute sich, endlich seine Enten wieder zu sehen. Entspannt kamen sie dennoch sehr pünktlich in der Kita an und Isabelle brachte den Jungen in seine Gruppe. Erst war er ungewohnt anhänglich, aber als Kristina ihm erzählte, dass Aaron schon auf ihn wartete, war das Eis gebrochen. Hannah trat neben Isabelle und begrüßte sie herzlich.
»Schön, dass du wieder da bist«, sagte Hannah und drückte sie fest.
»Hannah, habt ihr ein besonderes Auge auf David, bitte? Er hängt gerade sehr an mir und ich weiß nicht, wie er damit klar kommt, wenn ich stundenweise nicht hier bin. Oder dann ab nächste Woche ganz.«
Sie gingen langsam zur Teeküche und Hannah nickte.
»Natürlich. Wir hatten uns auch mit dem Jugendamt abgestimmt. Was macht denn diese Sorgerechtsverfügung?«, fragte sie.
Isabelle nahm sich eine frische Tasse aus dem Schrank.
»Jan muss noch unterschreiben. Der Anwalt hat sie schon vorbereitet."
Ihr Blick ging zur Uhr. Sie hatte mit Jan ausgemacht, am Nachmittag zu telefonieren, wenn der Kleine bei Heike war. Irgendwie war in Isabelle aber eine große Unruhe. Ein kleines unangenehmes Gefühl meldete sich, wenn sie an Jan dachte. Schnell schüttelte sie den Gedanken ab und wandte sich wieder ihrer Kollegin zu. Routiniert erledigte sie danach ihre Aufgaben.
Kurz vor 12 verließ Isabelle dann die Kita. Der kurze Spaziergang zur Wohnungsbesichtigung an der frischen Luft tat ihr gut. Dort war sie mit Alex verabredet.
Die Wohnung war großartig. Genau passend und mit ausreichend Platz. Begeistert ging Isabelle durch den fast fertigen Bau und malte sich schon aus, wie die Zimmer eingerichtet aussehen würden. Oben im Dachgeschoss wartete gar eine Überraschung, denn zwischen den beiden Zimmern befand sich noch ein kleines Duschbad mit Toilette. Und auch den Ankleideraum hinter dem großen Schlafzimmer hatte es auf dem Plan nicht gegeben.
»Perfekt«, meinte sie zu Alex. Sie konnte im Geiste schon David und die Katzen herumspringen sehen. Der Makler nickte zufrieden.
»Dann sind wir uns einig?«, wollte er wissen.
»Ja, sind wird«, bestätigte Isabelle. Während die Männer noch Details besprachen und Alex den Mietvertrag einsteckte, ging Isabelle nochmal durch das Erdgeschoss. Die Einbauküche gefiel ihr noch besser als auf den Fotos.
Hier könnte Jan endlich wieder seinem Hobby, dem Kochen nachgehen können. Das hatte er doch sehr vernachlässigt. Sie strich auf der Arbeitsplatte entlang und sah zum Fenster hinaus. Von hier konnte man den Park sehen, fast wie in der alten Wohnung. Nur aus einer anderen Perspektive. Sie hatte ein gutes Gefühl. Und sie würde alles dafür tun, dass sie ein gemütliches Nest haben würden, in das Jan hoffentlich bald zurückkehren konnte.
Während Alex den Makler verabschiedete, klingelte Isabelles Handy. Kaum, dass sie die Nummer erkannte, war da ein seltsames Gefühl. Dann war da Pauls Stimme und sie hörte ihm schweigend zu. Zu viele Informationen auf einmal. Jan war seit dem Morgen in der Klinik. Von sich aus hatte er darum gebeten. Akut suizidgefährdet, so lautete die Einschätzung des Therapeuten. Alex trat vor sie und sah sie fragend an. Sie stellte das Gespräch auf laut und nochmal erzählte Paul von vorne. Isabelle lehnte sich an die Arbeitsplatte und versuchte die Tränen zurückzuhalten.
Gut, dass Alex dazu war. Er blieb gefasst, telefonierte kurz mit der Klinik und kam dann zu Isabelle zurück.
»Du, Jans Eltern und ich sind die eingetragenen Kontaktpersonen. Wir bekommen jederzeit Auskunft darüber, wie es ihm geht. Ich habe einen Besuchstermin für Mittwoch ausgemacht. Silvia bereitet mir vor, was er noch unterschreiben muss«, fasste Alex zusammen. Isabelle schluckte.
»Ich kümmere mich um die Liste der Klinik, was er dort braucht«, antwortete sie. Gewaschen hatte sie gestern noch, es würde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen.
»Was haben die noch gesagt?«, wollte sie dann wissen.
»Nicht viel. Wir sollen uns keinen Kopf machen.« Er ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. »Die kümmern sich, Isabelle. Dafür sind sie da. Vertrauen wir ihnen und vertrauen wir Jan«, sagte er leise.
Daran dachte Isabelle auch am Abend, nachdem sie lange mit Dr. Schmedding telefoniert hatte. Jan stand unter Beobachtung, hatte den ganzen Tag viel geschlafen und war etwas zur Ruhe gekommen. Man fürchtete eine Blutvergiftung und hatte die Wundversorgung in den Fokus gerückt. Sie sollte sich dennoch keine Sorgen machen, laut Dr. Schmedding hatten die Ärzte alles im Griff. Er selbst hatte erste kleine Gespräche mit Jan geführt sowie mit ihm kleine Übungen angewandt. Das Wichtigste laut dem Psychologen war, dass Jan physisch auf die Beine kam und endlich wieder Nahrung zu sich nahm. Sein Immunsystem brauchte derzeit viel Kraft und daher Hilfe.
Am späten Abend entschied Isabelle, dass sie Jan unbedingt nochmal sehen musste. Also nahm sie ihren Mut zusammen und wehte ihren Chef ein. Nach der Besichtigung der Büroräume am Vormittag konnte sie gehen. Heike würde auf David aufpassen und Alex sie mit nach Westfalen nehmen. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Sie wusste, dass es Jan gut tun würde. Laut Schmedding stand er ein völlig neben sich und sie hoffte, dass ihm dieser Abschied etwas mehr Kraft geben würde. Dass ihn der Arzt auch ihr gegenüber als akut gefährdet einstufte, bereitete ihr Kummer. Vielleicht half die Aussicht auf die schöne neue Wohnung, auf ein Zuhause und ihre Liebe. Nochmal bei ihm sein, ihm etwas mitgeben.
Und das versuchte sie an diesem Vormittag, in dem hell gestalteten Besuchszimmer. Alex hatte sich schon nach wenigen Minuten zurückgezogen, kaum dass er Von Jan alle Unterschriften erhalten hatte. Ud auch Anke hatte dem Paar genügend Zeit für sich zugestanden. Dies wusste Isabelle besonders zu schätzen, denn sie hatte Anke angesehen, wie sehr jene litt. Und Paul hatte gar ihr zugunsten auf einen Besuch bei seinem Sohn verzichtet. Maximal drei Besucher hatte die Klinik nämlich genehmigt.
Sie sprachen dann nicht viel. Saßen zusammen auf dem Sofa und hielten sich an den Händen. Jan war blass, hatte immer noch Fieber und wirkte müde und mitgenommen. Still hatte er sie in seine Arme gezogen und sie lehnte ihren Kopf an seine Brust.
»Es wird alles gut, Liebling«, flüsterte sie und streichelte seinen Handrücken. »Ruh dich aus und konzentriere dich ganz auf dich. Zuhause ist alles in bester Ordnung und wir warten sehnsüchtig auf dich. Wir glauben alle an dich. Du bist stärker als du denkst, Jan. Zweifle nicht. Lass dich hier einfach fallen.«
Er seufzte und strich ihr sanft über den Rücken.
»Er ist gut, der Schmedding. Ich vertraue ihm und verspreche dir, dass ich jetzt nicht aufgebe. Es tut so gut, dass du da bist und ich werde alles tun, dass ich schnell wieder bei euch sein kann. Damit wir endlich neu anfangen können«, sagte er.
Auf nichts freute sie sich mehr und sie war guter Dinge, als sie Jan wieder in der Obhut von Dr. Schmedding zurück ließ. Erstmals hatte sie gefühlt, dass er bereit war. Dass ihm die Zukunft wichtig war. Dass er an diese glaubte.
Ja, sein Weg wurde furchtbar steinig und schmerzhaft, aber er ging ihn.
Isabelle tat das, was sie versprochen und geplant hat.
Es sollte länger dauern, als sie beide ahnten.
Und es war nicht der endgültige Abschluss, aber ein Meilenstein.
Sie zogen an einem Strang, hatten das gleiche Ziel im Blick.
Diese Zeit war es, die sie sehr fest miteinander verbinden sollte. Sie prägte sie beide sehr. Prägte ihre Basis. Das Vertrauen. Und trotzdem gab es dann auch später Momente, in denen Isabelle glaubte, alles sei umsonst.
-ENDE-