Besorgt musterte Jule ihre Besucher und griff dann nach Davids Hand. Entschuldigend sah Isabelle sie an.
"Geht. Sucht ihn. Ich passe auf!", meinte Jule und gab David einen Kuss. Alex hatte sie eingeweiht, alles kurz und knapp erklärt. Jule hatte ihm fassungslos gelauscht und sich umgehend bereit erklärt, dass sie den Kleinen zu ihr bringen konnten.
Dankbar lächelte Isabelle und machte auf dem Absatz kehrt, um die Treppe herunter zu eilen.
Alex parkte schwungvoll vor dem modernen Stadthaus. Nachdenklich zog er den Schlüssel ab und warf Isabelle einen Blick zu. Die wurde blass. Ein Polizeiwagen stand direkt neben ihnen.
"Das kann auch Zufall sein", meinte Alex. Sie konnte hören, dass er auch sich selbst versuchte Mut zu machen. Die Beamten war nirgends zu sehen.
Isabelle spürte ein unangenehmens Kribbeln.
"Wenn er Diana was angetan hat....." Isabelle beendete den Satz nicht. Sie folgte Alex aus dem Wagen und betrat mit ihm das Treppenhaus. Schon im Erdgeschoss waren Stimmen zu hören. Eilig stiegen sie die beiden Stockwerke nach oben. Vor der Wohnungstür standen die beiden Polizeibeamten und sprachen mit Karsten Straub. Weder Isabelle noch Alex hatten diesen bisher kennen gelernt.
"Herr Straub?", fragte Alex und blieb am Treppenabsatz stehen. Die Beamten drehten sich um und sahen Alex fragend an.
"Sekunde", bat der ältere Polizist. Karsten hatte die Tür weiter geöffnet und nickte Alex zu. "Ich würde vorschlagen, wir verlagern das Gespräch nach drinnen", ließ er dann verlauten.
Ungeduldig spähte Isabelle an ihm vorbei. Wo steckte Jan? Und Diana? Doch alles was sie erkennen konnte, waren Scherben im Eingangsbereich der Wohnung. Die Beamten kamen der Einladung von Karsten nach und auch Alex bedeutete Isabelle, ihm zu folgen.
"Was ist denn hier passiert?", fragte der jüngere Polizist.
Isabelle schlug sich die Hand vor den Mund. Eine Spur der Verwüstung zog sich vom Flur zur Küche. Karsten wandte sich ihr zu.
"Ja, da hat Ihr Freund ganze Arbeit geleistet", kommentierte er trocken.
Was hatte Jan angerichtet? Wo steckte die beiden? Sie wollte sich gar nicht erst ausmalen, was er getan haben könnte.
"Wo ist denn nun Frau Meister? Wir würden gerne in Ruhe mit ihr sprechen", erkundigte sich der Polizist. Verwirrt sah Isabelle zu Alex. Karsten deutete ins Wohnzimmer.
"Warten Sie hier, ich hole sie schnell."
Er wartete, bis die Beamten den Raum betreten hatten, schloss die Tür und ging dann zur Treppe.
"Er ist nicht mehr hier. Vielleicht seit einer Viertelstunde", sagte er zu Alex.
"Und warum haben Sie die Polizei gerufen?", fragte Alex.
Karsten schüttelte den Kopf. "Haben wir nicht. Wobei ich mir Vorbehalte, ihn wegen Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch anzuzeigen."
Isabelle zog die Luft ein. Aber natürlich konnte sie ihn verstehen. Es sah nicht so aus, als hätte in der Küche irgendetwas Zerbrechliches Jans Wutanfall überlebt. Sie zitterte, formulierte aber ihre größte Sorge dann mit fester Stimme.
"Hat Jan ihr etwas getan?"
Karsten Straubs Mundwinkel zuckten kurz.
"Nein. Zumindest so weit ich das beurteilen kann, ich kam auch erst später dazu." Er sah Alex lang an. "Sie habe ich verständigt, nachdem mir meine Partnerin telefonisch vom gewaltsamen Eindringen ihres Ex berichtete. Sie bat mich darum."
Dann rief er entschlossen nach Diana und sah Alex wieder an.
"Die Polizei ist aus anderen Gründen hier, fürchte ich."
Auf der Galerie waren Schritte zu hören. Karsten sah zwischen den beiden hin und her.
"Offenbar hat er Anzeige gegen Diana erstattet."
Seine Stimme war jetzt leise. Beinahe wurde Isabelle schwindlig. Alex sah sie besorgt an, als sie sich am Geländer abstützte.
"Prima", nickte Alex. Karsten verzog wieder sein Gesicht.
"Wir müssen ihn finden", flüsterte Isabelle. Auf der Treppe erschien jetzt Diana, die mit undurchsichtigem Blick die Besucher betrachtete.
"Zwei Herren von der Polizei warten im Wohnzimmer auf dich", informierte Karsten kühl. Langsam kam sie die Stufen hinunter und ging an Karsten vorbei.
"Er lügt", sagte sie dabei.
Isabelle ballte ihre Fäuste. "Wie kannst du es wagen?" Doch ehe sie weitersprechen konnte, ging Alex dazwischen.
"Lass. Das klären jetzt Andere."
Er zog Isabelle mit sich Richtung Wohnungstür. Dann sah er Diana an. Natürlich kannten sie sich. Diana war in seinem Haus eine Zeit lang Ein und Aus gegangen. Als Heike versucht hatte, sich mir ihr anzufreunden. Als Alex versucht hatte, ihr eine Chance zu geben.
"Wir sollten hierüber reden", meinte Karsten und deutete auf das allgegenwärtige Chaos. Alex nickte. "Nur nicht jetzt. Wir müssen ihn finden, ehe er etwas Dummes anstellt. Wir werden die Kosten übernehmen."
Er reichte dem Anderen seine Visitenkarte. Dann warf er Diana einen abschätzigen Blick zu. "Und wir beide werden uns auch unterhalten", sagte er scharf.
"Wie du meinst", sagte sie und betrat mit hocherhobenem Kopf das Wohnzimmer. Karsten schloss die Tür hinter ihr und zuckte die Schultern. Man konnte ihm ansehen, dass er versuchte, alles abzuwägen und einzuschätzen. Alex öffnete die Tür, murmelte eine Verabschiedung und eilte mit Isabelle das Treppenhaus herunter.
"Und jetzt?", fragte Isabelle, als sie wieder im Auto saßen. Jans Handys war nach wie vor nicht erreichbar. Alex legte seine Stirn in Falten.
"Jan hat sie also angezeigt", meinte er dann.
"Ich hatte keine Ahnung", sagte sie.
"Okay, fassen wir zusammen. An und für sich wollte Jan heute um eine stationäre Aufnahme bitten, nachdem er gestern einen Zusammenbruch hatte. Dann kommt die Info über Diana und ihren Auftritt in der Kita. Er fährt hierher, zeigt sie an und stellt sie zur Rede."
Unruhig spielte Isabelle mit ihrer Halskette, während sie Alex zuhörte. Jans Weihnachtsgeschenk.
"Ich würde schätzen, dass er als nächstes zu David will." Der Gedanke machte für sie Sinn. Alex startete den Motor und fuhr aus der Parkbucht.
"Versuchen wir es in der Wohnung", schlug er vor.
Sie schwiegen auf der kurzen Strecke, hingen ihren Gedanken nach. Jan hatte also endlich das getan, was Isabelle sich von Anfang erhofft hatte. Nur, welche Konsequenzen hatte dies nun? Wieder fand Alex schnell einen Parkplatz und mit klopfendem Herzen schloss sie wenige Minuten später die Wohnungstür auf.
"Jan?", rief sie.
Alex folgte ihr und gemeinsam gingen sie durch die Wohnung. Doch er war nicht hier. Und es gab auch keine Anzeichen, dass er hier gewesen war. Verzweifelt setzte sich Isabelle in den Sessel am Fenster und sah Alex ratlos an. Tränen standen ihr in den Augen. Sie konnte und wollte diese nicht zurückhalten.
"Wo steckt er nur?", schluchzte sie. "Ich habe eine Scheißangst, Alex", gab sie dann zu. Schnell war der gute Freund bei ihr und nahm sie in den Arm.
"Jetzt keine Panik. Wir werden ihn finden. Versprochen."
Während er sie weiter tröstete und versuchte zu beruhigen, kramte er sein Handy aus der Tasche. Isabelle hörte ihm zu, als er kurz mit Dr. Frey sprach und dann Ariane am Telefon hatte. Die saß in München schon im Theater und machte sich ebenfalls große Sorgen. Gedankenverloren blickte Alex dann auf sein Handy.
"Was übersehen wir?", fragte er leise.
Isabelle schüttelte den Kopf. David, so war sie sich sicher, wäre der nächste logische Anlaufpunkt für Jan. Mittlerweile hätte er es zeitlich in die Kita und dann zur Wohnung schaffen können. Andere Orte an einem Freitagnachmittag kamen an und für sich nicht in Frage. Der Klingelton von Alex` Handy riss sie beide aus den Gedankengängen.
Leise öffnete Jule die Tür ein Stück. Vor Erleichterung wurde Isabelle beinahe schwarz vor Augen. Gerade noch rechtzeitig fing Alex sie auf.
"Langsam", flüsterte er.
Jule schloss die Tür zum Gästezimmer wieder und führte den Besuch in die Wohnküche.
"Er stand vor 20 Minuten vor der Tür. Unbedingt wollte er mir etwas erzählen, da ich ja Davids Patentante sei. David erkannte natürlich seine Stimme und stürmte an die Tür. Jan verstummte augenblicklich."
Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, den Jungen hier anzutreffen.
"Er hatte mir diesen Umschlag in die Hand gedrückt." Jule deutete auf einen DIN A4 Umschlag, der auf dem Tisch lag. "Ich konnte ja nicht sagen, dass ich weiß, was los ist." Alex nickte verständnisvoll.
"Hast du ihn aufgemacht?", wollte er wissen. Jule schüttelte den Kopf. Sie erzählte, dass sich Vater und Sohn sofort aneinander geklammert hatten. Auf beiden Seiten waren Tränen geflossen und seit dem lag Jan mit dem Jungen auf dem Gästebett. Isabelle nippte dankbar an dem Tee, den Jule aufgebrüht hatte. Die Schwangere saß ihr gegenüber und lächelte.
"Als ich merkte, dass ich an Jan nicht mehr ran komme, habe ich euch angerufen. Mittlerweile schätze ich aber, dass beide eingeschlafen sind." Auch sie griff nach ihrer Tasse.
"Er sieht schlimm aus", urteilte Jule leise.
Isabelle nickte. Das konnte sie sich vorstellen. "Und jetzt?", fragte sie.
"Zunächst gebe ich in München Entwarnung. Dann sollten wir zusehen, dass wir die beiden nach Hause bringen", meinte Alex.
Isabelle hatte sich auf die Bettkante gesetzt und streichelte Jan leicht über den Rücken. Doch es war David, der zuerst die Augen aufschlug. Er lächelte sie mit seinem unschuldigen Kinderlachen an. Ganz klar, der kleine Mann war glücklich, dass der Papa bei ihm war. Er krabbelte aus Jans Arm und schlang seine Ärmchen um Isabelle. Sie flüsterte leise mit dem Kind, wuschelte ihm durchs Haar und drückte ihm dann noch einen Kuss auf die Stirn.
David folgte ihrem Vorschlag, in der Küche bei Jule nach einem Kakao zu fragen. Lächelnd sah sie ihm nach, als er das Zimmer verließ und dabei nach seiner Patentante rief. Auch Jan regte sich jetzt und drehte sich zu Isabelle um. Sein Blick war müde und fiebrig. Fast sofort schloss er wieder die Augen. Sanft streichelte Isabelle eine Haarsträhne aus seinem Gesicht und ließ ihre Hand auf seiner Wange ruhen.
All die Sorgen, die sie sich in den letzten Stunden gemacht hatte, fanden ihren Weg. Beschämt wischte sie sich eine Träne weg und betrachtete wieder Jan. Seine Augenlider zuckten unruhig. Er hatte einen leichten Schweißfilm auf der Stirn. Er war blass, hatte tiefe Ringe unter den Augen und wirkte beinahe zerbrechlich. Gleichzeitig war sie stolz darauf, dass er sich Diana gestellt hatte und dass er den Mut sie anzuzeigen endlich aufgebracht hatte. Doch sie konnte nicht abschätzen wie es ihm damit ging.
Wieder streichelte sie ihn und sprach ihn leise an. Dass jetzt alles gut werden würde, erzählte sie ihm. Dass sie bei ihm war und blieb und er sich keine Sorgen machen sollte. Aber auch, wie viel Angst er ihr eingejagt hatte. Jan murmelte eine Entschuldigung und sah sie mit dunklen Augen an. So viel Kummer lag in diesem Blick. Isabelle schluckte, brachte ihn dazu, sich aufzusetzen und schließlich, das Bett zu verlassen.
Ohne große Worte verstand Alex, als sie mit Jan aus dem Gästezimmer kam. "Soll ich David hier behalten?", fragte Jule leise. Sie hatte eine Hand auf ihren Bauch gelegt, als wollte sie ihr ungeborenes Kind beschützen. Isabelle schüttelte den Kopf. Der Vorschlag war gut gemeint, aber sie hatte das Gefühl, dass sich die beiden brauchten.
Die Fahrt verlief dann schweigend, nur David sang ein Kinderlied vor sich hin. Immer wieder musterte Isabelle besorgt Jan. In ihrem zu Hause angekommen entschuldigte er sich direkt und verschwand im Schlafzimmer. Stirnrunzelnd sah Alex ihm nach. Dann wandte er sich an Isabelle.
"Hanno wird noch vorbeikommen", informierte er. "Jan braucht seine Medikamente, die ja in München geblieben sind. Dr. Funk hat das mit ihm abgesprochen. Hanno wird also alles mitbringen und sich Jan ansehen."
Isabelle nickte erleichtert, während sie Davids Jacke weg räumte.
"Hast du das hier im Griff?", fragte er dann.
Sie sah in Davids Zimmer. Der Kleine beschäftigte sich mit seinen Spielsachen und diskutierte leise mit Mimi.
"Ja, ich denke schon.", murmelte sie. Alex strich ihr über den Arm.
"Dann kann ich noch ein paar Dinge erledigen."
Überrascht sah sie auf. Lächelnd versuchte er sie zu beruhigen.
"Ich bin jederzeit erreichbar." Dann zuckte er mit den Achseln. "Ich würde gerne vermeiden, dass Straub ihn wirklich anzeigt. Außerdem muss ich mit Dr. Frey besprechen, was Jans Anzeige für Konsequenzen haben kann. Robert erwartet meinen Rückruf, der Intendant tobt wegen Jans unentschuldigtem Fernbleiben heute. Über alles andere reden wir morgen." Dann hielt er inne. "Und, ich denke da sind wir beide uns einig, wir sollten langsam Jans Eltern mit ins Boot holen. Ansonsten erfahren sie womöglich über ganz seltsame Wege über seinen Zustand. Und das haben sie nicht verdient." Nochmal musterte er sie. Dann nahm er sie einfach in den Arm. "Du bist großartig, weißt du das eigentlich?", fragte er leise.
"Danke.", flüsterte sie. Als Alex gegangen war, atmete sie tief durch.
Hanno kam, als Isabelle den Kleinen im Bett hatte und gerade versuchte, auch Jan zum Essen zu bewegen. Er war wieder aufgestanden, hatte aber noch immer kein Wort gesprochen. Nur lange im Arm gehalten hatte er sie. Hanno machte es kurz. Er ließ die Medikamente da, untersuchte knapp Jans Brandwunde, spritzte ihm etwas zur Beruhigung und bat sie dann, sich morgen in der Praxis zu melden.
"Die Wunde hat sich entzündet. Das schaue ich morgen genauer an. Auch eine der Schnittverletzungen sieht nicht ganz gut aus. Wahrscheinlich nichts dramatisches, aber wir sollten es abklären. Gerade wegen des Fiebers", meinte er zu Isabelle, während Jan sein Shirt wieder anzog. Auch Hanno beobachtete Jan dabei kritisch.
"Schau, dass er was Ordentliches in den Magen bekommt, sein Flüssigkeitsdefizit ausgleicht und etwas zur Ruhe kommt."
Isabelle nickte nur. Auch bei den Therapeuten in München musste er sich morgen melden. Tatsächlich ließ sich Jan anschließend überreden, etwas Suppe zu essen. Langsam bekam er wieder Farbe ins Gesicht. Als Isabelle den Tisch abräumte, begann er endlich zu sprechen.
"Ich wollte dir keine Angst machen. Oder Ariane. Oder Alex."
Isabelle setzte sich wieder und nahm seine Hände in die ihren.
"Es ist okay, es war eine Ausnahmesituation.", sagte sie.
Jan seufzte.
"Trotzdem. Ich habe nicht nachgedacht und einfach das getan, was ich glaubte, was richtig war." Er suchte ihren Blick. "Dabei habe ich egoistisch gehandelt, das begreife ich gerade. Wie so oft in den letzten Monaten."
Sein Blick war traurig, aber er drückte ihre Hand. Isabelle lächelte.
"Dass du noch immer da bist, manchmal glaube ich, dass ich das gar nicht verdient habe. Du weißt, dass du nicht bei mir bleiben musst. Ich könnte es verstehen." Er biss sich auf die Lippe.
"Jan, ich liebe dich. Wir stehen das durch und wir schaffen das. Zusammen. Du darfst mich nur nie wieder so ausschließen wie in den letzten Tagen." Sie suchte seinen Blick. "Ich bin sehr stolz auf dich. Du hast sie endlich angezeigt", murmelte sie.
Jan nickte und schloss die Augen. Dann erzählte er ihr von Dianas Drohung. Fassungslos hörte Isabelle ihm zu. Kaum konnte sie glauben was sie da zu hören bekam. Stundenlang saßen sie noch in der Küche, bis sich Jan vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnte. Im Bett kamen sie sich nah wie lange nicht. Er ließ zu, dass sie ihn umarmte, nah bei ihm lag und ihn streichelte. Diesmal hatte sie Bilder im Kopf und sie schwor sich, dass Diana damit nicht durchkommen durfte. Oh nein, sie würde nicht zulassen, dass Jan diesen Kampf verlor.