Selten hatte sich Jan in den letzten Wochen so ruhig gefühlt.
Eine irrsinnige innere Ruhe hatte ihn ergriffen und er war regelrecht erschöpft.
Er starrte auf das Papier vor sich.
Hatte er alles?
Müde griff er nach seinem Weinglas und nahm einen großen Schluck.
Im Aschenbecher vor ihm glühte eine Zigarette, die er sich gerade erst angezündet hatte.
Ein Vorteil, wenn man alleine war. Niemand störte es, dass er in der Wohnung rauchte.
Nochmal überflog er die wenigen Zeilen, dann schob er den Block unter seinen Laptop.
Er rauchte in Ruhe zu Ende und leerte die Weinflasche.
Fast war er tiefentspannt, als er endlich das Licht löschte.
Dennoch war sein Schlaf unruhig, häufig unterbrochen und Jan blieb am Morgen so lange liegen, wie es nur irgendwie ging.
Obwohl der Kühlschrank von Isabelle randvoll gefüllt worden war, fand er nichts, auf was er auch nur im Ansatz Lust gehabt hätte.
Frustriert kroch er nach einem kurzen Telefonat mit Isabelle und David wieder ins Bett. Er hoffte inständig, dass sie nichts gemerkt hatte.
Im Moment fühlte er sich nicht in der Lage, ins Theater zu fahren. Sein Kopf dröhnte und er wollte einfach nur schlafen. Die beiden Kopfschmerztabletten hatten nicht geholfen, so dass er eine weitere hinterher schob.
Einerseits tat ihm das Licht auf den Augen weh, andererseits konnte er sie nicht schließen. Die Bilder wurden immer schlimmer und er vergrub sich tief unter der Decke. Nein, dieser Schmerz würde nicht mehr verschwinden, dessen war er sich mittlerweile sicher.
Jegliches Zeitgefühl hatte er verloren, als ihn ein Anruf aus seiner Lethargie riss.
Erschrocken fuhr er hoch. Schon so spät. Ariane wollte wissen, wo er blieb, sie wartete mit Gina an der Ecke, wie ausgemacht.
Stammelnd entschuldigte sich Jan und versprach, so schnell als möglich nachzukommen.
Zügig spritze er sich kaltes Wasser ins Gesicht und betrachtete sein Spiegelbild. Seufzend wandte er sich dann ab, Romy würde das schon hinbekommen. Er war schon an der Tür, als er sich anders entschied und doch nochmal ins Badezimmer eilte. Im zweiten Kulturbeutel fand er, was er suchte. Dr. Jäger hatte ihm das leichte Präparat im Herbst verschrieben. Ein Stimmungsaufheller, rein pflanzlich. Jan hatte das Medikament eigenmächtig im Januar abgesetzt, kurz bevor der Zwischenfall mit Diana sich ereignete. Wie dumm er gewesen war zu glauben, dass er gesund werden würde. Er schob sich zwei Tabletten in den Mund und spülte sie mit Leitungswasser herunter. Schmerztabletten fand er leider keine mehr. Vielleicht hatte er in seiner Garderobe ja mehr Glück, hoffte er.
Robert beäugte ihn dann kritisch, als er die Anwesenheitsliste prüfte.
„Bist du krank?“, wollte er wissen.
„Kopfschmerzen“, meinte Jan knapp und ließ sich weiter von Romy schminken. Er hatte tief aufgeatmet, als er gehört hatte, dass Jule einen freien Tag hatte. Überhaupt würde sie nach dieser Woche nach Hause fahren, das Team war gut eingearbeitet. Robert ließ ihn nicht davon kommen.
„Schau mal beim Doc vorbei bitte, lass dir was geben.“
Seufzend kam Jan der Bitte nach. Was hätte er Robert auch sagen sollen? Dass er gestern zwei Flaschen Wein getrunken hatte und heute schon mehrere Schmerztabletten genommen hatte? Dass er kaum zwei Stunden Schlaf am Stück gehabt hatte? Vielleicht hätte er sich einfach krank melden und im Bett bleiben sollen, dachte er missmutig, als der Bereitschaftsarzt ihn herein bat.
Der kaufte ihm seine Geschichte, dass er aufgrund der Bühnenaufregung kaum ein Auge zu bekommen hatte und sich daher mit Kopfschmerzen plagte, tatsächlich ab. Ein Hochgefühl machte sich in Jan breit, als er das Behandlungszimmer mit einer Packung Schmerztabletten und einer neuen Packung Beruhigungstabletten verließ. In seiner Garderobe spülte er schnell je eine Pille herunter und trank die Wasserflasche mit einem Zug leer. Noch 20 Minuten, so die Ansage aus dem Lautsprecher, Jan griff nach seinem Handy. Noch ein paar Worte mit David und dann ging es los auf die Bühne. Und tatsächlich setzte die Wirkung der Tabletten zum fast perfekten Zeitpunkt ein.
Wie so oft fand Jan etwas schwer ins Stück, doch dann konnte er sich darin fallen lassen und seine gute Leistung verfehlte auch die Wirkung auf sein Gemüt nicht. Beschwingt saß er danach in der Garderobe, schminkte sich ab und zog sich um. Mit seinem Laptop setzte er sich dann auf das Sofa und vergaß die Zeit. Nichts zog ihn zurück in die Wohnung. Auch hier am Theater war alles still. Jan öffnete das Fenster, setzte sich auf die Fensterbank und zog die Zigaretten aus seiner Hosentasche. Morgen musste er unbedingt Nachschub beschaffen, das Päckchen war schon fast leer. Die Euphorie ebte nach und nach ab, er vermisste Isabelle nun doch sehr, sehnte sich nach ihrer Nähe. Nachdenklich blies er den Rauch in die Nacht und beobachtete, wie dieser sich auflöste. Vor ihm lagen die beiden Tablettenschachteln. Lächelnd drückte er die Zigarette schließlich aus und schloss das Fenster. Nichts zog ihn nach Hause.
Und auch am nächsten Abend saß Jan auf der Fensterbank. Vor einer halben Stunde hatten sich die Meisten verabschiedet und es war still geworden im Theater. Unten vor der Tür sah er Ariane und Gina, die zusammen den Hof verließen. Auch Robert hatte er schon nach Hause gehen sehen. Vor ihm stand eine Flasche Wein, die schon zur Hälfte leer war. Auch die Vorstellung heute war gut gewesen. So langsam hatte er das Mischungsverhältnis zwischen den Medikamenten gefunden. Nur zu viele durfte er nicht verbrauchen. Am Freitag stand ein Pressetermin an.
Er steckte sich eine Zigarette an und lehnte sich an die Wand. Eins nach dem Anderen, sagte er sich. Morgen kam Alex, sie würden alles durchsprechen. Am Freitag hatte er einen freien Abend, den ihm Robert aufgrund des Interviews angeboten hatte. Grübelnd nahm Jan einen großen Schluck aus der Flasche. Vorsichtshalber hatte er auch für Dienstag einen OFF- Termin angefragt. Er dachte an David, der müde auf seinen Anruf gewartet hatte. Der Kleine fehlte ihm und das Apartment war ohne den Jungen zu leise. Natürlich wollte er aber auch, dass es dem Kleinen gut ging. Gierig zog er an der Zigarette und verdrängte Davids Gesicht aus seinem Kopf.
Es war gut so, wie es jetzt war. Ohne Zweifel war er bei Isabelle gut aufgehoben. Dennoch schaffte Jan es nicht, mit ihr zu sprechen. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, stellte diesen auf die äußere Fensterbank und glitt schwerfällig in den Raum. Die Flasche war fast leer, stellte er bekümmert fest. Nachdem er das Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen hatte, nahm er den letzten Schluck. Seufzend zog er sich dann bis auf die Boxershorts aus und rollte sich auf dem Sofa unter einer Decke zusammen. Nichts zog ihn derzeit zurück in das Apartment. Verbissen kämpfte er eine Weile gegen seine Dämonen, ehe er doch einschlief. Sie ließen ihn aber auch in dieser Nacht nicht los, auch der Alkohol betäubte seine Schmerzen nicht. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er sich die Unterarme wund kratzte. Hilflos sehnte er den Morgen herbei. Als die Sonne auf ging, kapitulierte sein Körper. Jan fiel in einen traumlosen Schlaf.
Unsanft fuhr Jan hoch und blickte in das Gesicht seiner Kollegin. Was machte sie hier? Geblendet vom Tageslicht, rollte er sich auf die Seite und kniff die Augen zusammen. Zu hell. Zu früh. Er wollte außerdem allein sein. Die letzten Traumbilder hatte er noch vor Augen, er stöhnte leise auf.
"Trink", forderte Ariane ihn auf und rüttelte an seiner Schulter.
"Geh weg", maulte er und zog an der Decke. Wieso hatte sie ihn überhaupt gefunden?
"Jan, es ist fast Zwölf. Isa und Alex laufen schon Amok, weil du nirgendwo erreichbar warst. Was hast du hier veranstaltet?"
Resigniert setzte sich Jan auf und griff nach der angebotenen Wasserflasche. Stimmt, Alex würde bald hier sein, das hatte er fast vergessen. Wieso war es schon so spät? Eine erste Bestandsaufnahme fiel nicht gut aus. Er fühlte sich wie gerädert. In seinem Kopf hämmerte es und sein Kreislauf hatte ihm schon beim Aufsetzen signalisiert, dass er langsam machen sollte. Ariane hatte sich auf den Stuhl am Schminktisch gesetzt und sah sich um. Jan folgte ihrem Blick, während er zwei große Schlucke nahm.
"Das ist nicht deine erste Nacht hier", stellte sie fest.
"Nein", antwortete er und hangelte nach seinem T-Shirt. Schweigend sah sie zu, wie er auf stand und sich anzog. Anschließend räumte er die leeren Flasche in eine Tragetasche und griff nach seiner Jacke. Doch Ariane hielt ihn zurück. Flink war sie aufgestanden und hielt ihn an seinem Handgelenk fest. Vorsichtig drehte sie seinen Arm.
"Was ist das?", fragte sie stirnrunzelnd. Die aufgekratzten Stellen waren deutlich sichtbar, mehr als er geahnt hatte.
"Gar nichts", antworte er knapp und zog den Arm weg. Schon wieder spürte er diesen Drang. Gleichzeitig begann wieder der Juckreiz. Doch Ariane blieb stehen und fragte erneut nach. Eilig schlüpfte er in die Jacke.
"Ariane, ich muss los. Ich sollte duschen ehe Alex da ist und Isabelle anrufen." Sein Blick war flehentlich. Dennoch ließ Ariane nicht locker.
"Jan, bitte. Stell dich dem Thema. Ich bitte dich inständig. Hör auf, wegzulaufen. Das kannst du nicht. Es wird nicht funktionieren. Früher oder später, aber mit Garantie irgendwann, wirst du ansonsten verlieren."
Seine Atmung hatte sich bei ihren Worten unbewusst beschleunigt.
"Bitte", bat er sie leise und senkte seinen Blick. Sie nickte langsam und gab die Tür frei. Schnell griff er nach der Klinke. Ariane legte eine Hand auf seine und zwang ihn so, sie nochmal anzusehen.
"Ich habe keine Ahnung, was dir passiert ist, aber ich weiß in welchem Strudel du steckst. Und niemand weiß besser als ich, wo das enden kann. Und glaub mir, ich sehe mir das nicht mehr viel länger mit an. Jederzeit kannst du zu mir kommen, das weißt du. Verrenne dich bitte nicht in dem Gedanken, dass dich niemand versteht oder es keine Lösung gibt. Es gibt für alles eine Lösung, aber man muss es auch wirklich wollen."
Stumm hatte er ihr zugehört. Seufzend drückte er die Tür auf und ließ Ariane zurück.
Ihre Worte hallten noch nach, als er unter der ersehnten Dusche stand. Wer bitte sollte denn das alles verstehen? Er verstand es doch selbst nicht. Kannte sich nicht mehr und fand sich in dem Chaos auch nicht wieder. Lösungen. Natürlich, dachte er zynisch. Als wenn darüber reden irgendetwas ungeschehen machen würde. Stattdessen riss es immer wieder die Wunden auf, die er so mühsam versuchte heilen zu lassen. Vergessen, das wäre schön, aber er wusste, dass ihm das nicht gelingen würde. Niemals, so war er sich sicher, würde er vergessen, wie sich Diana an ihm bedient hatte.
Und er?
Er hatte das zugelassen, nicht mal die Kraft besessen, sich davor zu verschließen. Er hasste sich so sehr dafür und die Scham saß tief. Mit Isabelle konnte er nicht schlafen, aber bei Diana hatte sein Körper reagiert. Sie war omnipräsent. Lächelte ihm vom Spiegel aus an, flüsterte ihm ins Ohr, wanderte durch seine Träume und lenkte seine Gedanken. Während er regungslos unter dem heißen Strahl stand, liefen ihm lautlose Tränen über das Gesicht. Nein, Ariane, dachte er. Hierfür gibt es keine Lösung.
Er schlüpfte in frische Kleidung, achtete auf ein langärmeliges Shirt, nahm eine Tablette gegen die Kopfschmerzen und versteckte die leeren Flaschen unter der Spüle. Beunruhigt betrachtete er die Schachteln. Von dem pflanzlichen Tabletten hatte er nur noch zwei. Die würde er heute Abend brauchen. Das Mittel sollte er eigentlich in jeder Apotheke rezeptfrei bekommen. Dann konnte er gleich neue Schmerzmittel besorgen, die zwar nicht so stark dosiert sein würden, wie die vom Arzt, aber besser als nicht. Musste er halt mehr nehmen. Sorge bereitete ihm das Beruhigungsmittel, ohne dass er nicht schlafen konnte. Keinesfalls würde er so schnell Nachschub bekommen. Damit musste er unbedingt auskommen. Vielleicht würde er da noch was anderes in der Apotheke bekommen können. Fragen kostete ja nichts. Das konnte er später auf dem Weg zum Theater erledigen. In Gedanken lüftete er das Wohnzimmer, leerte den überfüllten Aschenbescher und stellte diesen wieder auf den Balkon. Alex konnte kommen. Unruhig tigerte er dann durch die Wohnung, ehe den Mut fand, endlich Isabelle anzurufen.
Mit geschlossenen Augen hörte Jan ihr zu. Mit aller Macht versuchte er, sich abzuschirmen. Er wollte und konnte das jetzt nicht an sich heranlassen. Ihre Tränen trafen ihn, aber auf keinen Fall durfte er jetzt umkippen. Er verstand ihren Mix aus Wut und Sorge, natürlich. Und wieder war er nur Ballast für sie. Ein einziges Problem. Zähneknirschend gelobte er dann Besserung und versprach, dass so etwas nie wieder vorkommen würde. Er sagte ihr all das, was sie hören wollte. Und sie beruhigte sich langsam wieder, was auch ihn aufatmen ließ. Auf seine Bitte hin, holte sie dann den Kleinen kurz ans Telefon. Jan lauschte dem dünnen Stimmchen und ließ es zu, dass der Junge ihn berührte. David schien ihm schon verziehen zu haben, es tat ihm gut. Es war keine Absicht gewesen, dass er sich heute nicht gemeldet hatte. Die nächsten Tage musste er unbedingt darauf achten, dass ihm kein weiterer Fauxpas unterlief. Als es an der Tür klingelte, beendete er das Gespräch, versprach, sich später zu melden und atmete tief durch. Er hatte einen Plan, er musste sich konzentrieren.