Wie mit Scheuklappen lief Jan durch die Gänge, bis er den Raum für die Kinderbetreuung erreichte. David stürmte mit einem unbeschwerten Lachen auf ihn zu. Aufgeregt erzählte er von dem Ausflug ins Hallenbad und dabei strahlte er so glücklich, dass sich auch Jans Laune etwas hob. Er drückte den Kleinen fest an sich und kauerte mit ihm vor dem Schuhbänkchen.
"Sollen wir nach Hause fahren, David? Was meinst du?", fragte er leise.
"Zu Isi?", fragte der Kleine hoffnungsvoll. Jan bemerkte nicht, wie Carla hinter ihn trat.
"Was wird das?", fragte sie. Jan erhob sich und wuschelte seinem Sohn durch die Haare.
"Wir packen nur schnell Davids Sachen zusammen", antwortete er und griff schon nach der Transportbox, die zusammengeklappt in Davids Fach lag. Stirnrunzelnd sah ihm Carla nach, als er mit seinem Sohn ins Spielzimmer ging.
Aufgeregt lief David neben seinem Vater her und sammelte seine Spielsachen und Kleidung mit ihm ein. Schließlich half ihm Jan mit den Schuhen, dabei spürte er Carlas mißbilligende Blicke mehr, als dass er sie sah. Er wollte nur hier weg. Das dauerte ihm hier alles schon viel zu lange. Er zuckte heftig zusammen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte.
"Was machst du?", hörte er Ariane fragen. Er verharrte kurz, dann ließ er sich neben David auf die Bank fallen. Carla rief nach dem Kleinen und mit einem fragenden Blick sah der zwischen Ariane und seinem Vater hin und her. Jan nickte ihm zu, so dass David zurück ins Spielzimmer lief. Vor ihm ging Ariane in die Knie.
"Jan, was ist los?", fragte sie und versuchte Blickkontakt herzustellen. "Du willst jetzt nicht ernsthaft nach Stuttgart fahren?", fragte sie weiter. Jan reagierte nicht. Er sah durch sie hindurch. Mit beruhigender Stimme sprach die Ältere weiter. "Du weißt, ich mische mich ungern ein. Aber Jan, du brauchst Hilfe. Bitte suche dir jemanden zum Reden. Irgendwen, dem du vertraust. Ich fange mir echt an, große Sorgen zu machen." Sie schwieg einen Moment und fuhr fort, als er nicht antwortete: "Ich kann mir gut vorstellen, wie es in dir aussieht. Und du fährst heute nirgendwo mehr hin. In diesem Zustand auf keinen Fall. Und womöglich morgen früh in aller Herrgottsfrühe wieder zurück."
Langsam hob er den Kopf und kaute auf der Lippe.
"Ich wollte nicht zurückkommen", antwortete er heiser.
"So ein Unsinn." Sie schüttelte den Kopf. "Du brauchst die Bühne mehr, als du glaubst. Und ist erstmal Maske und Kostüm dabei, dann wird es dir helfen, das verspreche ich dir. Und jetzt gib mir bitte den Schlüssel."
Ariane würde hier nicht nachgeben. Zum einen, weil sie ihm das Weglaufen nicht durchgehen lassen wollte und zum anderen, weil sie Angst hatte. Doch er war sturer, als sie ahnte. Seufzend stand sie auf.
"Das ist ganz einfach. Entweder du gibst mir jetzt den Autoschlüssel und machst für heute Feierabend oder wir holen Robert dazu. Gib mir den Schlüssel und ich lege ein gutes Wort für dich ein." Abwartend sah sie ihn an. Warum hatte auch sie nur weggesehen, fragte sie sich. Erleichtert atmete sie auf, als er ihr endlich den Autoschlüssel in die Hand drückte.
"Prima. Bitte such dir Hilfe, versprich mir das." Sie ließ ihn nicht aus den Augen. Wenn sie doch nur helfen könnte. Jan nickte stumm.
"Okay, dann sehen wir uns morgen." Sie wollte ihn kurz in den Arm nehmen, als er aufstand, doch er schüttelte leicht mit dem Kopf. Mit einem unguten Gefühl sah sie ihm nach, wie er David an die Hand nahm und zur Treppe ging. Immerhin hatte er aber Davids Sachen hier gelassen.
So schnell wie es irgendwie ging, verließ er mit dem Kleinen dann das Theater. Vermutlich würde er dafür Ärger bekommen, aber es war ihm egal. Sein Handy schaltete er aus und zusammen mit seinem Sohn machte er einen ausgiebigen Spaziergang. Die Luft tat gut. Endlich mal was anderes sehen, als immer nur diese Probenräume. Das Geplapper von David lenkte ihn hervorragend ab. Heute wollte er nur noch Papa sein. Zuhause kochte er auf Wunsch des Jungen Makkaroni mit Käse und zusammen kuschelten sie bei einer DVD auf der Couch. Davids Wärme und Geruch beruhigten ihn. Als der Kleine einschlief, fielen auch Jan immer wieder die Augen zu. Erst das Klingeln des Festnetzanschlusses weckte ihn.
Schlaftrunken orientierte er sich, dann verließ er leise den Raum, während er gleichzeitig das Gespräch annahm.
"Ja?", murmelte er und ließ sich auf einen Stuhl in der Küche sinken. Warum hatte er so hämmernde Kopfschmerzen?
"Verdammt nochmal. Hast du sie noch alle?", hörte er seinen Manager toben. "Robert ist stinksauer. Du kannst doch nicht einfach so verschwinden."
Seufzend schloss Jan die Küchentür, öffnete das Fenster und steckte sich eine Zigarette an.
"Ich musste raus", argumentierte er. "Es ging nichts mehr."
Am anderen Ende beruhigte sich Alex ein bisschen. "Jan, das geht so trotzdem nicht." Jan stieß geräuschlos den Rauch aus und sah zu, wie dieser sich in der Dunkelheit auflöste. Er wusste, Alex hatte recht. Aber er hatte vorhin nicht mehr richtig funktioniert. Zähneknirschend gab er sein Versäumnis zu.
"Entschuldige dich bitte morgen, vergiss das nicht. Sei so gut. Ariane hat versucht, so gut es geht, die Wogen zu glätten. Möchtest du mir was sagen?", versuchte Alex es dann versöhnlicher. Jan drückte die Zigarette aus, schloss das Fenster wieder und drückte eine Schmerztablette aus dem Blister.
"Mach ich, versprochen", meinte er dann schläfrig. "Na gut, dann schau, dass du morgen auf der Höhe bist." Dankbar, dass Alex ihn damit wieder vom Haken ließ, legte Jan auf.
Vorsichtig trug er dann David in dessen eigenes Bett und räumte die Küche auf. Morgen kam endlich Isabelle und sie sollte kein Schlachtfeld vorfinden. Sie fehlte ihm und er freute sich so sehr auf sie.
Nach einer weiteren Zigarette auf dem Balkon öffnete sich Jan noch ein Bier und überlegte, ob er sie nochmal anrufen konnte. Kurz vor Mitternacht. Bestimmt schlief sie schon. Immerhin musste sie schon um Sieben in der Kita sein, damit sie am Nachmittag auch pünktlich weg kam. Er zögerte. Hörte in sich rein. Nein, entschied er. Isabelle brauchte ihren Schlaf. Wenn er ehrlich war, er auch. Nachdenklich drehte er die Tablettenschachtel in seiner Hand. Ob er es nochmal mit einer mehr versuchen sollte? Lange dachte er darüber nach. Schließlich blieb er bei den zwei Tabletten vom Vortag. Er lag gerade richtig unter der Decke und war am wegdösen, als David mit tapsenden Füßen herüber gelaufen kam und zu ihm ins Bett kroch. Seufzend kuschelte sich der Junge an ihn und Jan blieb nichts anderes übrig, als sich ihm zu fügen.
Robert akzeptierte Jans Entschuldigung ohne wenn und aber. Etwas verlegen bedankte sich Jan bei Ariane und versicherte ihr, einigermaßen glaubhaft, dass es ihm deutlich besser ging. Am Vormittag konzentrierte sich Jan auf seine Parts und er konnte tatsächlich alle Szenen durchspielen. Gut, er hatte sich immer wieder zusammenreißen müssen, aber schlussendlich waren alle zufrieden mit ihm. Tatsächlich hatte ihm der Vormittag fast Spaß gemacht. Femke war eine talentierte Kollegin, und das sagte er ihr endlich auch. Überrascht lächelte sie ihn scheu an. Auch der Nachmittag verging schnell und produktiv. Weg waren seine Zweifel und Bedenken des Vortages. Zudem freute er sich auf den Abend und Isabelle. Ariane beäugte ihn immer wieder kritisch, doch Jan wollte sich seine gute Laune heute nicht nehmen lassen. Die Anprobe war der letzte Programmpunkt des Tages. Dazu wurde auch Jule erwartet, die die anderen Maskenbilderinnen über das Wochenende fit machen wollte.
Femke und Gina kicherten gemeinsam, als Ariane in ihrem legendären schwarzen Kostüm um die Ecke sah.
"Hui, da bekomme ich direkt wirklich ein bisschen Angst", lachte Femke, während ihr die Ältere zuzwinkerte. Jan ließ sich derweil den maßgeschneiderten Anzug abstecken. Die Schneiderin schüttelte ebenso den Kopf, wie der Dresser, der für ihn zuständig war.
"Da haben wir uns ganz schön vermessen", murmelte der und korrigierte die Werte.
"Probleme?", fragte Robert, der bei jedem nach dem Rechten sah.
"Nichts, was nicht zu lösen wäre", beteuerte die Schneiderin. "Offenbar ein paar falsche Werte." Seufzend verließ Robert den Bereich und ging weiter, um sich die Tänzer anzusehen. Um Jans Augen legten sich zwei Hände und an seinem Ohr konnte er eine leise Stimme hören.
"Rate!" Lachend nahm er die Hände herunter und drehte sich um.
"Jule!" Sie strahlte ihn an und nickte der Schneiderin freundlich zu.
"Hey, schön dich zu sehen, mein Lieber. Ich will aber gar nicht stören, sieht nach Arbeit aus." Sie schielte auf den Zettel.
"Wir haben es gleich, möchte nur noch mal gegenprüfen, nicht, dass wir uns nochmal vertun. Nächste Woche um diese Zeit muss alles fertig sein", lachte die Andere und Jule sah ihr kurz zu. Die Schwangerschaft stand ihr gut. Und den Bauch trug sie voller Stolz vor sich her.
"Vermessen?", meinte sie und zog eine Augenbraue hoch, als die Schneiderin davon eilte und Jan wieder in sein T-Shirt fuhr. "Du siehst schlimm aus, was machen sie hier mit dir?", fragte sie und reichte ihm seine Jeans.
"Viel Stress, harte Arbeit, du weißt doch wie das vor einer Premiere sein kann", antwortete er schnell. Ehe er den Vorhang wieder aufziehen konnte, griff sie nach seiner Hand.
"Du bist ja nur noch Haut und Knochen. Pass bitte auf dich auf." Schnell entzog er sich ihrem Griff. "Und Jan, ich habe eine Überraschung für dich", grinste sie dann. Irritiert sah er sie an. "Geh mal zu deiner Garderobe", empfahl sie ihm. Schmunzelnd sah sie hinter ihm her, nicht ohne sich zu erinnern, dass sie ein wenig auf ihn achten würde.
Jan nahm immer zwei Stufen auf einmal. Er erreichte den Garderobenbereich in wenigen Minuten und traute seinen Augen kaum. Am Türrahmen lehnte Isabelle, die ihn nun keck anstrahlte.
"Überraschung!", rief sie und ging ihm entgegen. Stürmisch nahm Jan sie in den Arm. Ihre Nähe tat ihm gut und er zog gierig ihren Geruch ein. Er war glücklich und erleichtert zugleich. Oh ja, er brauchte sie und sie fehlte ihm, jeden Tag ein bisschen mehr. Aber jetzt war sie hier und er wollte jede Sekunde mit ihr auskosten.
Es war überraschenderweise sehr beruhigend, ihre Hand an seinem Rücken zu spüren, wie sie ihm immer wieder darüber streichelte.
Er atmete tief durch und zog sie noch fester an sich.
Endlich.
Stockdunkel.
Nur kurz blitze ein Licht hinein.
Es war so still, dass er sich überdeutlich atmen hören konnte.
Im Hintergrund leises Weinen.
Die Gewissheit, dass er nicht alleine war.
Obwohl er nichts sah oder hörte, war er sich sicher.
Du hast es in deiner Hand.
Was nur?
Dann war da diese kurze, fast kaum spürbare Berührung und er spürte einen Luftzug hinter seinem Ohr.
Mit einem Mal war da ein diffuses Licht und er ahnte, was gemeint war.
Sein Herzklopfen war so schnell, dass er es beinahe mit der Angst bekam. Vor wenigen Minuten war er hochgeschreckt und hatte zunächst nicht gewusst, wo er war. Neben ihm hatte Isabelle gelegen, eine Hand ruhte auf seiner Brust. Sie schlief tief und fest und lächelte im Schlaf. Er wollte sie keinesfalls stören. Vorsichtig hatte er ihre Hand beiseite geschoben und war, ohne sie zu wecken, aus dem Bett gestiegen. Nun saß er vor dem offenen Fenster in der Küche und versuchte die Beklemmung zu ignorieren. Langsam wurde es besser, aber er hatte immer noch das Gefühl, als würde sich sein Herz überschlagen.
Jan griff nach dem Glas Wasser. Seine Hände zitterten immer noch so sehr, dass er Mühe hatte, das Glas anzusetzen. Es kostete ihn einige Anstrengung, doch dann hatte er die Tablette endlich herunter gespült. Selbst ihm war klar, dass es so nicht weiter ging. Abgesehen davon, dass er es sich jetzt, in der heißen Probephase nicht leisten konnte, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen. Er sah nach David, der diese Nacht ohne Probleme in seinem eigenem Zimmer schlief. Ganz leise schob Jan sich dann im Bett auf seine Seite und griff nach der Decke.
Jan zog die Decke enger um sich und schloss die Augen. Er wollte doch nur, dass alles wieder gut war. David war außer sich vor Freude gewesen, als er ihn zusammen mit Isabelle aus der Betreuung geholt hatte. Hunderte Küsschen hatte er Jans Freundin auf die Wange gedrückt. Dann hatte er nach seiner Kita und den Freunden gefragt und natürlich nach den Enten. Das nächste schlechte Gewissen meldete sich. Was tat er dem Kleinen nur an, in dem er ihn aus seiner Umgebung riss? Jan schwor sich, dass er nach Oktober wieder etwas in Stuttgart annehmen würde. Das Kind brauchte sein Zuhause. Und er streng genommen auch. Außerdem wollte er wieder näher bei ihr sein. Draußen wurde es langsam heller, die Sonne ging schon auf. Er rollte sich in Isabelles Richtung und betrachtete ihre Locken, die das Kissen bedeckten. Wenn sie doch nur bleiben könnte. Seufzend schloss er die Augen.