Vor ihr saß Alex und nickte nachdenklich. Sie hatten sich an diesem milden Märztag in einem ruhigen Cafe in der Innenstadt getroffen, nur wenige Gehminuten entfernt von der Agentur. Er hatte sie vor ein paar Tagen angerufen und gebeten sich Gedanken zu machen, ob sie sich etwas Zeit nehmen konnte und wollte.
Was er ihr über Jan berichtet hatte, gefiel ihr nicht. Und er hatte versucht zu verstehen, was zwischen dem Paar vorgefallen war. Aber so selbst verstand es ja auch sie selbst nicht.
Nur kurz hatte Isabelle Jan vor ein paar Wochen gesehen, ehe er nach München abgereist war. Sie hatten nach wie vor lose Kontakt, in den letzten Tagen hatten sie gar telefoniert. Auch, weil David sie vermisste. Und Isabelle musste zugeben, dass ihr beide fehlten. Aus Jans Äußerungen glaubte sie herauszuhören, dass er sie noch liebte. Aber weder er noch sie hatten das Thema Beziehungsstatus bisher angesprochen. Isabelle war sich sicher, dass sie starke Gefühle für ihn hatte. Doch gleichzeitig nagte an ihr, dass er wieder einmal weggelaufen war und sie aus dem ausgeschlossen hatte, was ihn umtrieb.
Laut Alex kam Jan in München nicht gut zurecht. In den Probenalltag fand er schwer hinein, mit Davids Betreuung gab es Probleme und er intergrierte sich nicht im Ensemble. Hatte mehr oder weniger nur Kontakt zu Gina und Ariane, die er schon lange kannte. Der Regisseur machte sich Gedanken, der musikalische Leiter ebenso und Alex wollte in der kommenden Woche für zwei Tage nach München fahren.
Vorher, so hatte er Isabelle erklärt, wollte er von ihr hören, warum Jan und sie nicht mehr zusammen waren. Jan hatte dazu nämlich kein Sterbenswörtchen verlauten lassen. Alex hatte von der Auszeit über Gina erfahren, der sich Jan zumindest offenbar dazu anvertraut hatte.
"Du weißt, dass ich dich als Frau schätze. Du bist für mich nicht einfach nur Jans Freundin, sondern eine gute persönliche Freundin geworden. In meinen Augen bist du die richtige für ihn, aber ich möchte dich da nicht beeinflussen. Ich kenne Jan fast mein ganzes Leben. Ich weiß, wie anstrengend es mit ihm sein kann. Im Moment muss ich mich auf zwei Ebenen mit ihm beschäftigen. Beruflich gesehen werde ich mir vor Ort ein Bild machen und versuchen ein bisschen zu kitten. Er hat großes Glück, dass der Regisseur unbedingt ihn möchte, ihn gut kennt und schätzt. Nicht jeder hätte hier den Hörer in die Hand genommen. Es gibt genügend, die ihn vermutlich einfach angezählt und dann aussortiert hätten. Ich werde mir also ansehen, wo er da steht und wo unter Umständen sein Problem liegt. In vier Wochen soll er eine Premiere spielen. Die Produktion wird bald entscheiden, ob ihnen das Risiko zu hoch ist. Als Freund möchte ich von ihm hören, welche Sorgen ihn drücken. Ist es eure Trennung, die alleinige Verantwortung für David, die neue Umgebung? Irgendetwas anderes?"
Er hatte sich in seinem Sessel zurückgelehnt. Isabelle griff nach ihrer großen Kaffeetasse und hielt sie mit beiden Händen umschlossen. Natürlich hatte sie sich gefragt, was genau der Auslöser für Jans verändertes Verhalten gewesen war. Ab wann genau er sie nicht mehr an sich herangelassen hatte. Sie kam immer wieder an den gleichen Punkt. An diesen Nachmittag, als er seinen Sohn bei Diana abgeholt hatte. Sie sah Alex an. Schon als kleine Jungs hatten die beiden zusammen gespielt. Waren gemeinsam durch die Schulzeit gegangen, die für Jan kein Zuckerschlecken gewesen war. Anke hatte ihr Weihnachten davon erzählt, wie schwierig es gewesen war, für Jan eine geeignete Schule zu finden. In all den Jahren hatten sich Alex und Jan nie aus den Augen verloren, hatten ihre beruflichen Karrieren gar eng miteinander verknüpft. Jan hatte Alex als seinen besten Freund bezeichnet.
"Er war doch bei euch, vor ein paar Wochen. An einem Samstagnachmittag", meinte sie jetzt zögerlich. Alex richtete sich in seinem Sessel auf.
"Ja. Er kam wegen David." Alex runzelte die Stirn. "David wirkte etwas durcheinander und sehr weinerlich. Diana hatte ihn in sein Zimmer eingeschlossen gehabt. Heike hat mit dem kleinen Kerl gesprochen, während ich mit Jan das geänderte Libretto durchgegangen bin." Er überlegte. "Im Nachhinein, ja, er war unkonzentriert und sehr still. Ich bin davon ausgegangen, dass ihn der Vorfall sehr beschäftigte. Habe mir aber keine weiteren Gedanken gemacht. Das Thema Diana ist ja allein dadurch zumindest auf Eis gelegt, da sie jetzt in Miami lebt. Was David betrifft, da unterliegt Heike ja der Schweigepflicht. Mitbekommen habe ich nur, dass sie Jan gebeten hat, für den Jungen ein stabiler Bezugspunkt zu sein und besonders auf ihn zu achten."
Isabelle nickte. Letzteres hatte Jan ihr immerhin erzählt. Und auch sie hatte versucht, für den Kleinen immer ein offenes Ohr zu haben, ihm Geborgenheit und Liebe zu schenken. Solange Jan sie gelassen hatte jedenfalls. Sie stellte die mittlerweile leere Tasse zurück.
"Was bedeutet denn, dass es Probleme mit der Betreuung gibt?", wollte sie dann von Alex wissen.
Der seufzte.
"Laut dem Regisseur bleibt David nicht gerne in der Betreuung. Er will permanent zu Jan und der schleppt ihn viel zu oft mit in die Proben. Dadurch ist natürlich auch Jan abgelenkt. Ab und an nimmt Gina ihn mit. Sie hat eine kleinere Rolle und muss nicht jeden Tag bis zum Ende bleiben. Manchmal holt Jan den Kleinen dann in der Nacht noch, manchmal auch nicht."
Isabelle zog es unangenehm das Herz zusammen. Das klang ganz und gar nicht nach einem geregelten und stabilen Alltag, denn der Junge nach den letzten Monaten so dringend brauchte. Auch am Telefon hatte der Knirps weinerlich gewirkt. Ganz bestimmt fehlte ihm der Kindergarten und seine Freunde. Sein Zimmer. Seine Spielsachen. Viel hatte Jan nicht mitgenommen.
"Wie soll das werden, wenn die Proben vorbei sind und Jan jeden Abend auf die Bühne muss? Und an den Wochenenden, wenn er auch mittags spielt?"
Wieder seufzte Alex.
"An den Wochenende gibt es zumindest für nachmittags eine organisierte Betreuung des Theaters. Die Kosten für einen Babysitter werden übernommen, aber ob Jan sich schon gekümmert hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Auch darüber möchte ich mit ihm reden. Er kann David keinesfalls täglich abends mit in die Garderobe nehmen. Das schaut sich niemand lange an."
"Abgesehen davon, dass David nicht am Theater groß werden sollte. Er braucht Gleichaltrige um sich, einen Tagesablauf, auf den er sich verlassen kann", ergänzte sie zustimmend.
Für sie klang es, als hätte Jan die Situation nicht im Griff. Gesagt hatte er nicht. Natürlich nicht, schimpfte sie sich sofort.
"Alex, ich will ehrlich sein. Ich habe keine Ahnung, was genau vorgefallen ist. Jan ging an jenem Tag gut gelaunt aus dem Haus und freute sich auf einen Familienabend mit uns. Ein paar Stunden später war alles anders. Vielleicht hätte ich hartnäckiger nachfragen sollen, anstatt es ihm durchgehen zu lassen. Ich dachte, er braucht ein paar Tage, so wie immer und dann renkt sich das wieder ein. Hat es aber nicht. Er hat die Sache zwischen uns ausgereizt und dann aufs Eis gelegt. Ich habe das akzeptiert und es als Auszeit betitelt. Und im Moment weiß ich selbst nicht, was nun richtig wäre. Ob wir noch zusammen sind. Jan bedeutet mir viel und es macht mich traurig zu hören, dass es ihm in München nicht gut geht und dass David darunter leidet. Der Kleine tut mir unfassbar leid. Eine Stimme in mir sagt, fahr hin und hilf ihnen. Aber mein Verstand sagt, pass auf dich auf."
Traurig hob sie den Kopf. Alex fuhr sich mit einer Hand durch das Gesicht und nickte langsam.
"Ich will dich zu nichts überreden, das steht mir nicht zu. Ich suche nur einen Ansatzpunkt", erklärte er.
"Er kommt heute Nacht und bleibt übers Wochenende hier", flüsterte sie. Erstaunt sah Alex sie an. Sie nickte.
"Versprechen kann ich dir nichts, aber ich kann natürlich versuchen, ihn ein wenig aus der Reserve zu locken." Reden musste sie sowieso mit Jan. Sie mussten klären, dringend, wo sie standen. Wie es weitergehen sollte und konnte. Blieb sie in der Wohnung? Wie schnell sollte sie sich etwas Neues suchen. Bisher hatte sie nur halbherzig gesucht.
Alex gab der Bedienung ein Zeichen und übernahm dann die Rechnung. Als sie in die Jacke schlüpfte, hielt Alex sie kurz auf.
"Unter uns, Isa, was glaubst du ist passiert?", wollte er wissen. Sie zuckte mit den Schultern. Die Frage hatte sie sich schon oft gestellt, aber eine Antwort hatte sie nicht. Sie dachte noch darüber nach, als sie auf dem Heimweg war. Dabei versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen. Es kam ihr vor, als würde sie vor einem riesigen Puzzle sitzen. Die Teile lagen vor ihr, aber sie ließen sich nicht zusammensetzen. In der Wohnung bezog sie das Kinderbett neu und richtete auch das Gästezimmer her. Jan würde vermutlich erst nach Mitternacht hier sein und war dann bestimmt völlig erledigt. Sie wollte ihm die Chance geben, in Ruhe anzukommen. Also würde sie im Gästebett schlafen.
Ihr Unterbewusstsein spielte ihr dann aber Streiche. Sie bekam einfach kein Auge zu und lauschte ab halb Zwölf permanent in den Flur. Dabei wusste sie nicht, wie sie reagieren würde, sollte sie ihm heute noch gegenüber stehen. Unruhig beobachtete sie die Digitalanzeige des Weckers, die Minuten krochen quälend langsam vorwärts. Erst eine Viertelstunde nach Mitternacht vernahm sie ein Motorgeräusch. Ein Auto parkte unweit ihres Fensters. Vorsichtig stellte sie sich hinter die Vorhänge. Tatsächlich. Es war Jan. Sie sah zu, wie er einen Rucksack schulterte und dann den schlafenden Jungen aus dem Sitz hob. Als er die Straße überquerte und die Haustür ansteuerte, glitt sein Blick über die Etage. Isabelles Herz schlug wie wild, sie setzte einen Fuß zurück und setzte sich aufs Bett. Ob er sie gesehen hatte? Vor ihrer Tür tappten Katzenpfoten, nur Sekunden später hörte sie den Schlüssel. Dann Jans Schritte, die sich in Richtung Kinderzimmer bewegten. Ein Flüstern. Sie konnte nicht ausmachen, ob er mit David oder den Katzen gesprochen hatte. Längst stand sie an der Tür. Sollte sie zu ihm gehen? Oder warten, ob er nach ihr sah? Sie hatte ihm einen Zettel auf sein Kopfkissen gelegt. Wieder Schritte, Jan verließ das Kinderzimmer und betrat nebenan das Schlafzimmer. Nun fühlte es sich verkehrt an. Hin und Her gerissen verharrte sie an Ort und Stelle. Es war totenstill in der Wohnung.
Isabelle griff sich ihren Bademantel, warf ihn sich flüchtig über und drückte die Klinke. Die Tür zum Schlafzimmer stand halb offen, das Licht der Nachttischlampe war das Einzige, was die Dunkelheit durchbrach. Leise trat sie ins Zimmer.
Jan saß auf dem Bett, hielt den Zettel in der Hand und schien sie nicht bemerkt zu haben. Einen winzigen Moment betrachtete sie ihn. Sie konnte ihm ansehen, dass es ihm nicht gut ging. Sie atmete durch und ging zu ihm, ließ sich neben ihm nieder.
"Jan", seufzte sie leise. Er faltete den Zettel umständlich zusammen und zuckte zusammen, als sie ihm diesen aus der Hand nahm. Er schloss die Augen und biss sich auf die Lippe.
Vorsichtig strich sie ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Musterte kritisch seine müden Augen. Er brauchte Schlaf.
"Soll ich dir einen Tee machen? Brauchst du irgendwas?", fragte sie. Er verneinte beides und nahm stattdessen ihre Hand. Er fuhr mit einem. Finger über ihren Handrücken.
"Isabelle, ich......" Er schluckte und schüttelte den Kopf. Isabelle griff nach seinen Finger und hielt die Hand fest.
"Wir haben morgen und Sonntag alle Zeit der Welt. Jetzt solltest du schauen, dass du ein bisschen Ruhe findest. Du siehst aus, als hättest du die Woche durchgemacht." Sie versuchte zu lächeln. "Ich kann bleiben, ich kann aber auch drüben schlafen, ich richte mich nach dir."
Es war ihr fast unangenehm zu sehen, wie sehr er mit sich kämpfte.
"Ich möchte dir nicht weh tun", meinte er schließlich. Dann sah er ihr erstmals seit Wochen direkt in die Augen. Sie verstand. Es gab ihr einen Stich. Jan seufzte auf und der Ton erinnerte sie an das Wehklagen eines verletzten Tieres.
"Einerseits möchte ich dich nicht wegschicken. Aber auf der anderen Seite....." Er zögerte. "Ich schlafe schlecht, richtig schlecht. Das möchte ich dir nicht an tun."
Sie fuhr ihm über den Rücken.
"Das ist okay, Jan. Wenn irgendetwas ist, dann findest du mich neben an. Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Um den Kleinen kümmere ich mich morgen früh. Ich freue mich sehr auf ihn."
Fast entlockten diese Worte Jan ein Lächeln.
"Er sich auch sehr auf dich", meinte er dann. Isabelle stand auf und ging zur Tür. Dann drehte sie sich nochmal um. Jan saß immer noch am gleichen Platz.
"Es ist schön, dass ihr hier seid", meinte sie. Dann zog sie die Tür leise hinter sich zu.
Im Bett lag sie auf dem Rücken. Das war besser gelaufen, als sie gedacht hätte. Er war zwar verhalten und auf Abstand geblieben, aber zumindest hatte er sie nicht komplett zurückgewiesen und sein Zorn schien auch verraucht. Es fühlte sich dennoch seltsam an, dann nicht neben ihm zu liegen.