Er wusste, er sollte eigentlich erleichtert sein. Doch stattdessen krochen viele andere Gefühle in Jan hoch. Die ihn völlig überforderten und ihn verwirrten. Und vor allem schien alles so dumpf zu sein, so grau, so hoffnungslos. Als hätte sich irgendwas auf seinen Brustkorb gesetzt und würde ihm die Luft abklemmen. Ruhelos war er durch seine Wohnung gelaufen und versucht die Ameisen zu ignorieren, die wie wild über seinen Körper zu laufen schienen. Panisch hatte er sich dann mit seinen Sohn am frühen Nachmittag ins Auto gesetzt und nur ein paar Dinge hektisch zusammengesucht. Er wusste nur eins. Weg. Einfach nur weg. David hatte den restlichen Vormittag geschlafen, doch Jan hatte einfach keine Ruhe gefunden. Als wenn sich irgendwo in seinem Inneren eine Tür geöffnet hätte, strömten Bilder auf ihn ein.
Was genau ihn dann stundenlang über die Autobahn getrieben hatte, konnte er einfach nicht sagen. Nur, dass er die Überforderung und Angst in sich kaum noch aushielt. Mit allen Mitteln wollte er nur noch verhindern, dass David davon etwas mitbekam. Ein Stau hatte ihn ausgebremst und da es danach unmöglich gewesen war, dass er sein Ziel zu einer vernünftigen Zeit noch erreichen konnte, hatten sie die Nacht in einer Pension verbracht.
Dort hatte der Kleine gut geschlafen, während Jan versucht hatte, den Bildern in seinem Kopf nicht all zu viel Raum zu geben. Er fühlte sich erschöpft und noch immer angespannt. Eine Stimme in seinem Kopf wiederholte permanent, dass er den Jungen in Sicherheit bringen musste. Nicht nur vor Diana.
Der Kleine hatte ihn voller Dankbarkeit angestrahlt, als er aufgewacht war und saß jetzt gut gelaunt in seinem Kindersitz.
Er blickte in den Rückspiegel, dann fuhr er an den Straßenrand. Atmete tief durch. Nur bei Alex hatte er sich gemeldet. Das Handy lag seitdem ausgeschalten im Handschuhfach. Er wusste gar nicht, warum. Aber ihm war das alles zu viel. Jedes Wort kostete ihn Kraft. Er wollte doch nur noch seine Ruhe. Die Last der letzten Wochen zwang ihn in die Knie. Wäre David nicht, er hätte sich einfach versteckt und das Bett nicht mehr verlassen.
Er fuhr sich mit einer Hand über die Augen.
Wer würde ihn schon vermissen?
Isabelle war ohne ihn besser dran, hatte was so viel besseres als ihn verdient. Und mit ihrer wunderbaren warmen Art würde sie sehr schnell jemanden finden, der ihr auch zurückgeben konnte, was sie bereit war zu geben. Diana reichte gar ein Kotzbrocken wie Karsten. Selbst sie war nicht geblieben. Und Jule hatte Tom. Dann dachte er an Anna und ihm wurde übel. Kurz schloss er die Augen. Schnappte hektisch nach Lauft. Er ballte seine linke Hand zur Faust und schluckte die Tränen herunter. Nicht jetzt. Er durfte jetzt nicht weinen.
David blätterte in einem Bilderbuch und erzählte die Geschichte aus dem Kopf nach. Jan beobachtete ihn mit zusammengekniffenen Lippen. Er musste den Kleinen schützen. Egal wie. Um jeden Preis. Der durfte nicht mit ihm untergehen. Und dafür gab es nur einen Platz auf der ganzen Welt. Erst dann konnte er sich um sich kümmern. Überlegen, ob er auf Anna hören sollte. Musste. Oder ob es besser wäre, einfach einen Schlussstrich zu ziehen.
Immer wieder kehrte dieser Schmerz zurück und Jan hasste es. Hasste sich dafür. Egal was er tat, er endete immer wieder an diesem Punkt.
Doch so weh getan hatte es noch nie.
Sein Herz raste. Ihm wurde schwindlig. Nur die Stimme vom Rücksitz verhinderte, dass er völlig zusammenbrach.
Erst den Kleinen!
Jan hob den Kopf und betrachtete das Klinkerhaus auf der anderen Straßenseite.
Wie lange stand er nun schon hier?
Auch dieser Tag war trüb, kalt und unfreundlich. Es waren kaum Menschen auf der Straße unterwegs, nur der Postbote war vor einer Weile vorbeigekommen.
"Papa, sind wir da?", fragte David. Jan nickte.
"Gleich, mein Schatz. Papa braucht noch einen Moment."
Still lag die Hofeinfahrt vor ihm und sein Puls normalisierte sich wieder.
Er dachte an den Kamin im Wohnzimmer, an den irgendwann angebauten Wintergarten mit den vielen Pflanzen, die gemütliche Wohnküche, an seine Oma, die dort immer im Ohrensessel gesessen hatte.
Die Bibliothek mit Blick auf den Garten, das Klavierzimmer im später errichteten Anbau. Manchmal konnte Heimweh in der Tat weh tun, wusste er.
"Papa, mir ist kalt.", riss ihn David aus seinen Gedanken. Jan seufzte. Er konnte ja nicht ewig hier stehen und das Haus anstarren.
"Omi!", rief David da laut und begann mit dem Knopf für das Fenster zu spielen. Richtig, seine Mutter stand gerade am Briefkasten. Ehe David das Fenster aufbekam, startete er den Wagen und fuhr langsam auf den Hof.
Zeit seines Lebens hatte er Erinnerungen über Musik oder Gerüche verbunden. So ging es ihm auch jetzt. In seinem Elternhaus hing noch immer derselbe Geruch wie in seiner Kindheit. Eine eigentümliche Mischung aus Zigarre, frischen Blumen und dem Lieblingsparfum seiner Mutter. Es roch nach Zuhause.
Kaum, dass er über der Schwelle war, wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
"Können wir bleiben?", hatte er seine Mutter gefragt, als diese ihn ungläubig angesehen hatte. Erst jetzt spürte er, dass er am Ende seiner Kräfte war. Beinahe hatte er Angst, einfach im Flur umzufallen. David war, obwohl er zunächst ganz zappelig gewesen war, scheu bei ihm gestanden. Jetzt, eine halbe Stunde später, saß er glücklich auf dem Schoß seiner Großmutter und trank einen Kakao.
Jan spürte die kritischen Blicke seiner Mutter. Viel hatte er noch nicht erzählt, nur dass er Abstand zu seinem Leben in Stuttgart brauchte und er David unbedingt hatte herbringen müssen.
"Es sind sehr unschöne Dinge passiert, viel zu viel für den kleinen Kerl. Er versteht doch noch gar nicht, was passiert ist", hatte er erklärt.
Anke hatte ihnen geholfen ihre Sachen ins Haus zu bringen und sie dann mit in die Küche genommen. Dort köchelte das Essen vor sich hin und sie fand etwas Zeit, sich zu ihnen zu setzen.
"Schmal bist du geworden.", meinte sie, während sie auf die Uhr blickte.
"Dein Vater und dein Bruder werden gleich zum Essen nach Hause kommen." Er nickte, damit hatte er gerechnet. Jahrelang hatten sie pünktlich gegessen. Doch sein Magen hob sich nur verdächtig, als er nur daran dachte.
Seine Mutter betrachtete ihn ruhig.
"Möchtest du dich hinlegen?", fragte sie vorsichtig. Sie setzte David ab, der sich das Malbuch heranzog, dass Jan aus dem Rucksack geholt hatte. Sie strich Jan über die Schulter und nickte ihm zu.
"Ich richte dir gerne gleich eines der Gästezimmer." Jan erhob sich gleichzeitig mit ihr.
"Lass, Mama. Mir reicht erstmal einfach das Schlafsofa oben. Alles andere machen wir später zusammen." Er wuschelte David durchs Haar und gab seiner Mutter einen Kuss auf die Wange.
"Passt du auf ihn auf? Ist das okay?", fragte er leise. Verwundert schüttelte seine Mutter den Kopf.
"Das brauchst du nicht zu fragen, Jan. Natürlich", war ihre Antwort.
"Danke", flüsterte er. Die geballte Familienpower kam ihm jetzt einfach zu früh.
Nun lag er ein seinem alten Zimmer. Er sog den Geruch und die Geräusche des Hauses auf. Er fühlte sich ruhig, wie lange nicht und beinahe entspannt lauschte er den gedämpften Stimmen aus dem Erdgeschoss. Richtig einschlafen konnte er trotz der Müdigkeit dann aber doch nicht, er musste heute unbedingt noch etwas erledigen. Wahrscheinlich würde es ihm erst dann besser gehen. Irgendwann hörte er draußen einen Wagen und Türenschlagen. Das dröhnende Lachen seines Vater versetzte ihm einen Stich. Vielleicht sollte er doch wieder runter gehen? Martin lachte ebenfalls und gut gelaunt betraten die beiden das Haus. Er hörte, wie die Stimmen sich Richtung Küche entfernten und dann leiser wurde. Nur einmal hörte er kurz David quietschen. Milde lächelte er. Wahrscheinlich alberte sein Bruder mit dem Kleinen herum und David wäre in wenigen Minuten völlig aufgedreht. Begleitet von den vertrauten Hintergrundgeräuschen dämmerte er doch noch in den Schlaf.
Als er aufwachte, fühlte er sich gerädert und nicht wirklich fit. Hämmernde Kopfschmerzen begleiteten ihn, als er sich aufsetzte. Ebenso ein Schwindel. Es war schon nach 16 Uhr. Am liebsten wäre er einfach wieder unter die Decke gekrochen. Doch er hatte noch eine Mission zu erfüllen und mit jeder Minute, die der er verstreichen ließ, spürte er mehr, dass er es tun musste. Dafür war er hergekommen. Er hatte es damals versprochen.
Eine Zeitlang saß er auf der Bettkannte und hatte den Kopf in seine Hände gestützt. In ihm war nach wie vor nichts außer Dunkelheit und Trauer. Er konnte sich das selbst nicht erklären.
Unten hörte er David. Langsam stand er auf und ging die Treppe hinunter. Er fand seine Mutter beim Bügeln im Wohnzimmer.
„Konntest du ein bisschen schlafen?“, fragte sie.
„Ein bisschen, ja. Wo ist David?“ fragte Jan. Anke Lehmann lächelte und stellte das Bügeleisen ab.
„Gerade verpasst. Dein Vater hat ihn mit genommen, sie müssten jetzt oben beim Zaun sein. Magst du was essen? Ich habe dir eine Portion aufgehoben?“
Jan schüttelte den Kopf und wandte sich der Garderobe zu. Wieder kribbelte es überall.
„Hör mal, ich muss nochmal los“, sagte er ausweichend, fuhr in seine Schuhe und die Jacke, griff schon nach den Autoschlüsseln.
„Was ist los, Jan?" Anke war ihm in den Flur gefolgt.
„Mama, ich…..“ Er sprach nicht weiter, zuckte etwas ratlos mit den Schultern. Dann hielt er kurz inne.
„Hab euch lieb“, sagte er leise und war schnell zur Tür hinaus.
Den Hof überquerte er eilig. Weiter oben am Grundstück entdeckte er seinen Vater, neben ihm David, der ihm eifrig half. Paul Lehmann hob zum Gruß die Hand und Jan grüßte ebenso zurück, ehe er in sein Auto stieg.
Etwa eine Viertelstunde fuhr er durch den Ort und verließ ihn dann Richtung Wald.
Am Wanderparkplatz parkte er und griff nach der kleinen Taschenlampe, die er immer unter dem Sitz aufbewahrte.
Er steckte sie ein und stieg aus.
Ab hier ging es nur zu Fuß weiter.