Jan fand schlecht in den Touralltag und die Abläufe. Dabei war es zunächst nicht einmal David, der ihm das Leben schwer machte. Das war schon er ganz alleine. Beziehungsweise ein ungewohnt heftiges Lampenfieber.
Noch Zuhause hatte ihm Dr. Jäger geraten, nicht zu viele Schritte auf einmal zu gehen. Auf seinen Körper zu hören, sein eigenes Tempo zu finden und notfalls um eine Veränderung in der Setlist zu bitten. Sie waren fünf Solisten, mit einem fair aufgeteiltem Programm. Einige Ensemblesachen, viele Duette. Je zwei große Soli. Durchaus so zusammengestellt, dass Alex hier und da verschieben konnte. Doch Jans Ehrgeiz verlangte, dass er um keine Änderung bitten wollte.
Eigentlich hatte er vor seiner Abreise noch mit Diana reden wollen. Sie mit den Tatsachen konfrontieren, aber sie hatten keine Zeit mehr gefunden. David verhielt sich anfangs gegenüber dem ein Jahr älteren Max zunächst schüchtern, akzeptierte Florians Sohn dann aber schnell als Spielkameraden. Der Kollege war seit einiger Zeit ebenfalls alleinerziehend, hatte seine Frau bei einem Unfall verloren. Sicherlich ein passender Ansprechpartner, aber Jan fehlte der Mut, sich dem eigentlich guten Freund anzuvertrauen.
Am Premierentag litt Jan besonders. Am frühen Nachmittag hatte Jule die beiden Jungs beschäftigt und er hatte die Chance genutzt, sich nochmal hinzulegen.
Durch irgendein Geräusch aus dem Nachbarzimmer wurde er geweckt. Kurz hörte er Jules Stimme und dann war alles ruhig. Jan drehte sich auf den Rücken und hielt die Augen weiter geschlossen. Zum einen spürte er die bekannte Anspannung, die immer in ihm steckte, wenn abends noch ein Auftritt anstand. Soweit weit war das normal. Natürlich war auch normal, dass er eine Grundnervosität spürte, immerhin war es eine Premiere. Allerdings waren doch noch andere Gefühle und Empfindungen. Der erste Auftritt seit seinem Zusammenbruch hinter der Bühne vor einigen Wochen. Würde seine Stimme mitmachen? Würde er die negativen Erinnerungen ausblenden können? Hoffentlich machte ihm David keinen Strich durch die Rechnung. Er wünschte, er hätte doch Isabelle gebeten, ihn zu begleiten. Seine Gedanken überschlugen sich regelrecht. Langsam öffnete er dann seine Augen. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er sich fertig machen sollte. In 20 Minuten würde das Shuttle sie abholen. Seine Bühnenoutfits hingen schon am Schrank, nur für David musste er noch etwas zusammenpacken.
Während er sich aufsetzte, klopfte es vorsichtig an der Verbindungstür. Schlagartig wurde ihm schwindlig, so dass er auf das Klopfen nicht reagierte, sondern sich in das Kissen zurückfallen ließ. Jule öffnete die Tür und steckte den Kopf hinein.
"Jan?", rief sie zögerlich. Als er ihr nicht antwortete betrat sie das Zimmer und kam ans Bett.
"Du bist ja doch wach", stellte sie fest. "Oh", entfuhr es ihr dann. Leichenblass richtete sich Jan wieder auf.
"Geht schon", murmelte er und setzte sich auf die Bettkante. "Wo ist David?", fragte er dann.
"Drüben bei Flo, der packt auch gerade zusammen und die Jungs spielen. Wir waren eine Stunde im Park, die haben sich richtig ausgetobt. Mit etwas Glück sind sie nachher ordentlich müde", antwortete sie und schenkte ihm gleichzeitig ein Wasser ein. Dankbar griff er nach dem Glas und trank es in langsamen Schlucken leer. Er bemühte sich, gleichmäßig zu atmen. Wenn ihm nur nicht so übel wäre. Verflixte Nervosität, schimpfte er mit sich. "Soll ich dir was helfen?", wollte Jule wissen und sah ihm aufmerksam zu, wie er aufstand und sich ins Bad schleppte.
"Nein, schau einfach, dass David dann gleich soweit ist."
Vor dem Auftritt schnappte Jan noch etwas frische Luft. Zur Übelkeit hatten sich Bauchschmerzen gesellt. Keinen Bissen hatte Jan herunter bekommen. Längst war Jule mit den Kindern wieder im Hotel, beide hatten tatsächlich müde gewirkt und waren ohne Murren ins Taxi gestiegen.
Alex rief die Künstler nochmal zusammen, schwor sie auf den Abend ein. Dabei musterte er Jan kritisch. Auf ein Zeichen Alex´ zog Gina Jan zurück in Richtung Garderobe. Gleichzeitig eröffneten Florian das Konzert.
Mit einem Glas Wasser kam Gina zu Jan, der sich wieder in die Garderobe gesetzt hatte. Aufmunternd sah Gina ihn an.
"Was ist denn los?", wollte sie wissen. "Lampenfieber schön und gut, aber du siehst ja aus, als würdest du uns gleich umfallen."
Er schloss die Augen und zwang sich ruhig zu atmen.
"Du bist vorbereitet und hast dich gut eingesungen, was soll denn schief gehen?"
Langsam hob Jan den Kopf. Stockend erzählte er von seinem letzten Auftritt vor der Zwangspause. Wie auf einmal die Stimme weg gewesen war. Leise war Alex dazu gekommen. Auf der Bühne sangen Florian und Mia ihr erstes Duett.
"Ich muss wissen ob du da raus gehst, Jan. Jetzt." Noch konnte Alex das Programm umbauen. Gespannt sah Gina ihren Freund und Kollegen an. Langsam begann der zu nicken.
"Ok. Gut." Alex musterte ihn kurz und verließ dann die Garderobe. Gina klopfte ihm auf die Schulter. "Du schaffst das!", munterte sie ihn auf. Ganz so sicher war sich Jan da nicht.
Jeder Song kostete ihn dann körperliche Kraft. Jeder Ton holte ihn aber zeitgleich aus dem Nebel. Am Ende war Jan völlig fertig, klitschnass geschwitzt und emotional aufgelöst. Auch Mia drückte ihn lange und herzlich. Alle spürten, wie wichtig dieser Abend für Jan gewesen war. Noch außer Atem saß er in der engen Garderobe und zog sich das nasse Hemd aus, Florian reichte ihm direkt ein Handtuch. Jan griff nach seinem Pulli, dann ließ er sich in den Stuhl fallen. Alex kam herein und strahlte ihn an.
"Na siehst du, das war doch prima. Ihr alle ward heute alle super, großartig."
Zufrieden sah er sich um.
Mit einem Mal sprang Jan auf und hastete in die angrenzende Toilette. Er erbrach sich, bis nur noch Galle kam und sank dann erschöpft auf den Boden. Vorsichtig lehnte er den Kopf an die kühle Wand und versuchte seinen Atem zu beruhigen.
"Jan? Kann ich reinkommen", hörte er Gina fragen.
"Ja", antwortete er matt.
Sie ging neben ihm in die Knie und reichte ihm eine kleine Wasserflasche. "Alex lässt ausrichten, dass du nicht mit ins Foyer musst, wenn du nicht magst."
Dankbar nickte er und nahm einen großen Schluck, um damit seinen Mund auszuspülen. Sie reichte ihm eine Hand und vorsichtig stand er auf.
"Ich will einfach nur noch ins Hotel", meinte er, während Gina ihn in die Garderobe zurückbegleitete. Die anderen waren schon weg, vermutlich schon draußen zur Autogrammstunde.
"Okay, ich sage Alex Bescheid. Ruh dich aus. Morgen musst du wieder auf den Füßen sein. Und Jan, ich finde, du warst auf der Bühne großartig." Keine fünf Minuten später hatte ihm Alex ein Taxi besorgt.
Im Großen und Ganzen war Alex zufrieden. Die Manöverkritik fiel am nächsten Morgen kurz aus. Das Ein oder Andere wollte er beim anstehenden Soundcheck noch detaillierter besprechen, ansonsten hatte er wenig zu bemängeln.
Mit Jan hatte er schon ein Einzelgespräch geführt. Mit der Bühnenleistung an sich war der Manager mehr als glücklich gewesen. So hatte er ihn sehen wollen. Lediglich die Verfassung seines Künstlers bereitete ihm nach wie vor Kopfzerbrechen. Auch jetzt in der kurzen Besprechung wirkte Jan fahrig und müde. Florian war es dann, der mit einem Vorschlag kam.
"Nichts gegen dich, Jan. Aber ernsthafterweise sollten wir einen Plan B haben. Unter Umständen könnten ja auch Gina oder ich ausfallen. Oder sonst wer."
Mit einer wagen Handbewegung schloss er jeden in das Gesagte ein.
"Jeder kann ja krank werden oder so. Immerhin sind es noch neun Konzerte."
Fragend sah er in die Runde. Die Gruppe diskutierte eine Weile und Alex notierte sich mögliche Alternativen. Er versprach, sich bis zum Soundcheck Gedanken zu machen.
Schließlich beendete Alex das kurze Meeting und empfahl seinen Schützlingen, sich entsprechend auf den Abend vorzubereiten. Als alle, bis auf ihn selbst und Jan den Raum verlassen hatten, zog Florian einen Stuhl heran.
"Kann ich was für dich tun?", fragte er nach einer Weile. Dass Jan nicht im Textbuch las, sondern nur mit den Seiten spielte, war ihm nach wenigen Sekunden aufgefallen. Nun schüttelte der langsam den Kopf.
"Da muss ich jetzt alleine durch, danke dir."
Jan schlug das Buch zu. Doch Florian gab nicht so schnell auf.
"Was war los gestern?", wollte er wissen. Als Jan mit den Schultern zuckte und mit schmalen Lippen an ihm vorbei sah, schüttelte Florian den Kopf. Dann erhob er sich von dem Stuhl.
"Weißt du, Jan, vielleicht solltest du dir einfach mal alles von der Seele reden. Ich kann dir nur anbieten, dass ich dir zuhöre. Deine Taktik, alles in dich hineinzufressen, wird auf Dauer nicht funktionieren. Ich weiß, wovon ich rede." Nachdenklich sah er seinen alten Freund an, dann verließ er den Raum. Mehr konnte er nicht tun.
Mit einem dicken Schal vor dem Mund und der Mütze tief im Gesicht, die Hände in der Jackentasche vergraben, lief Jan ziellos durch die Stadt. Es war nach wie vor bitterkalt, die Sonne hatte sich den ganzen Tag noch nicht gezeigt und erste Schneewolken hingen am Himmel. Geschäftig eilten die Menschen am frühen Samstagmittag durch die Straßen, nicht wenige waren mit Tüten behangen und alle schienen es eilig zu haben. Nicht mehr lange bis Weihnachten, fiel ihm ein. An den Glühwein- und Bratwurstständen standen die Menschen schwatzend zusammen, überall hing der Duft von Zimt in der Luft. Er verlangsamte seinen Schritt und blieb schließlich stehen. Immer wieder wurde er angerempelt und vereinzelt hörte er leises Fluchen. Doch niemand blieb stehen oder achtete auf ihn. Und er stand da einfach. Spürte, wie die Kälte langsam in ihn kroch. Unfähig, sich zu bewegen. Als es anfing zu schneien, setzte er sich wieder in Bewegung.
Erst als es so kalt war, dass er weder seine Füße noch seine Hände noch richtig spüren konnte, ging er zum Hotel zurück. Vollkommen durchgefroren erreichte er sein Hotelzimmer. Immerhin hatte die Kälte auch sein Gehirn lahm gelegt. Die rotierenden Gedanken waren zum Stillstand gekommen. Ein Zustand, den er gerne eingefroren hätte. Während am vergangenen Abend beim Konzert selbst alles klarer erschienen war, so hatte sich doch schnell wieder eine Art Nebel über alles gelegt. Dazu kam diese fast schon permanente Übelkeit. Und obwohl er in der Nacht wie ein Stein geschlafen hatte, fühlte er sich ausgelaugt und müde. Vor Kälte zitternd stieg Jan unter die Dusche und dreht das Wasser heiß auf. Er schloss die Augen und spürte nur noch das Wasser, wie es über seinen Körper lief. Schon jetzt wünschte er sich auf die Bühne. Dort war alles gut gewesen, dort hatte er Glück empfunden und sich aufgehoben gefühlt. Als er in dem von Dampf aufgeheizten Badezimmer stand, wischte er den Spiegel über dem Waschbecken frei.
Sein müdes Antlitz blickte ihm entgegen. Konnte man überhaupt so viel schlafen, wie er glaubte zu brauchen? Er trocknete sich ab und schlüpfte in frische Klamotten. Eine Weile stand er dann an seinem Zimmerfenster und sah den Schneeflocken zu. Ein wenig Schnee war bereits liegen geblieben, das würde David gefallen. Bei seinen Eltern hatten sie vor ein paar Wochen schon einen Schneemann gebaut und der Kleine war völlig begeistert gewesen.
In seinem Magen zog sich alles zusammen. Schon wieder diese Nervosität. Dabei war er sich doch mittlerweile sicher, dass er die Situation an sich im Griff hatte. Unruhig ging er in seinem Zimmer hin und her. Dann atmete er immer wieder tief ein und aus. Doch auch diesmal ließ sich die Übelkeit nicht verscheuchen. Stattdessen nahm sie weiter zu, bis sich Jan wieder auf der Toilette wiederfand. Wann hatte er zuletzt so unter Lampenfieber gelitten? Er fand darauf keine Antwort. Sicher, zu Schulzeiten hatte er damit Probleme gehabt, aber nicht in diesem Maße. Stöhnend zog er sich hoch und stützte sich am Waschbecken ab. Etwas kaltes Wasser im Gesicht half ihm, seinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen. Langsam tastete er sich Richtung Bett und ließ sich darauf fallen. Da musste er dann eingeschlafen sein, denn es war dann Jule, die ihn weckte. Sie musste los. Der zweite Konzertabend stand vor der Tür.