Jans innerer Widerstand brach noch am selben Abend. Ein langes, sehr offenes und ehrliches Gespräch mit Isabelle zeigte ihm, dass er es nicht mehr länger aufschieben durfte. Schonungslos zählte sie ihre Argumente auf, denen er wenig entgegenzusetzen zu hatte. Außer eben diese verdammte Angst. Und die ließ sie nicht gelten. Im Gegenteil. Es floßen viele Tränen auf beiden Seiten. Fast zwei Stunden saßen sie in der Bibliothek. Nein, sie würde ihn nicht ohne eine Zusage davon kommen lassen. Irgendwann, zwischen Tränen und Wut, Verzweiflung und Versprechungen verstand er, dass ihre gemeinsame Zukunft nur eine Chance hatte, wenn er sich in die Hände der Profis begab.
Nein, es war kein schönes Gefühl, sein eigenes Leben nicht mehr unter Kontrolle zu haben.
Es fühlte sich überhaupt beängstigend an, dass er sich selbst nicht mehr traute.
Sich all das einzugestehen war für ihn eine Niederlage. Aber er spürte, dass der einzige Weg war. Er hatte keine andere Wahl.
»Ich weiß nicht, wie ich auf dich verzichten soll«, sagte er schließlich.
Isabelle ließ ihn weiterreden. »Nicht sehen, das ist das eine. Aber auch nicht sprechen?«, fuhr er dann fort.
»14 Tage Jan, die schaffen wir doch«, sagte sie aufmunternd.
»Mindestens 14 Tage hat er gesagt. Es könnten also auch mehr werden«, gab er zurück. »Nicht zu wissen, wie es euch geht, das wird komisch sein.« Er rollte sich auf die Seite und griff nach ihrer Hand.
»Uns wird es gut gehen. Die Zeit wird schnell vergehen. Du wirst sehen.« Anders als er, konnte sie sich aber nach ihm erkundigen, was es natürlich leichter machte.
Er seufzte. »Ich möchte vorher mit Alex sprechen. Bestimmt muss noch einiges organisiert werden. Ich möchte, dass der neue Mietvertrag unterschrieben ist vorher. Vor allem möchte ich sichergehen, dass die Unterbringung Davids kein Problem wird und dass Alex alle Vollmachten besitzt, die alles finanzielle für euch regeln«, sagte er dann.
Isabelle streichelte ihm übers Haar und den Nacken, ließ ihre Hand kurz auf seinem Rücken ruhen. Dann wanderte sie wieder an seine Schläfen und massierte ihn dort sanft. Jan schloss die Augen. Seine Gesichtszüge entspannten sich leicht.
Zuerst aber informierten sie Jans Eltern, die von einem langen Spaziergang zurückkehrten. Beiden stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Dann nahm sich Jan sehr bewusst Zeit für einen letzten Abend mit David. Ein gemeinsames Abendbrot, baden, noch einen Trickfilm zusammen ansehen. Er genoss die unschuldige und pure Liebe seines Sohnes, der schon verstanden hatte, dass der Papa für eine Weile nicht nach Hause kommen würde. Während Anke und Paul zur Chorprobe aufbrachen, kuschelte er mit dem Jungen auf dem Sofa. Erst als Jan ihm dann vorgelesen hatte und der Kleine schlief, telefonierten sie gemeinsam mit Alex.
Auch aus seiner Stimme sprach Erleichterung und er versprach, dass er Dienstag mit allen nötigen Papieren nach Westfalen kommen konnte. Für Isabelle hatte er noch einen Besichtigungstermin gleich am Montag in der Wohnung organisiert. Nur knapp erzählte er von den Terminen am Theater, dem Aufhebungsvertrag, den Pressemitteilungen und den Reaktionen darauf. Jan nickte alles ab, was sollte er auch sonst tun?
»Dann kannst du für Jan noch Kleidung und Bücher mitnehmen, wir haben ja nur für ein paar Tage geplant gehabt«, schlug Isabelle vor.
»Selbstverständlich. Im Gegenzug wäre es prima, wenn ihr schon eine Krankmeldung für mich hättet, noch ist der Vertrag am Theater aktiv und auch die Krankenversicherung muss informiert werden.«
Jan brummte der Kopf. Er war heilfroh, dass sich Alex um all das kümmerte und Isabelle hier unterstützen würde. Mit Sina hatte sein Freund ein persönliches Gespräch geführt. Mehr wollte oder konnte er nicht sagen, im Grunde war es Jan gerade egal. Er drückte Isabelle das Telefon in die Hand und ließ sich gegen die Lehne des Sofas sinken. Nun war es also beschlossene Sache. Je nach Alex´ Ankunft würde er noch Dienstag, spätestens aber Mittwoch in die Klinik gehen. Gleich morgen früh wollte er Dr. Schmedding Bescheid geben. Es fühlte sich sehr irreal an. Auf einmal spürte er nur noch Erschöpfung. Wie gern er nur einmal eine erholsame Nacht hätte.
»Hey“, flüsterte Isabelle neben ihm. Jan hatte gar nicht realisiert, dass sie das Telefonat beendet hatte. »Es wird alles gut«, sagte sie sanft. Ganz eng kuschelten sie sich auf der Couch aneinander und lagen einfach nur still nebeneinander. Er konnte ihr Lieblingsshampoo riechen. Schmeckte ihre weichen Lippen, als sie sich zärtlich küssten. Überhaupt war da viel Nähe und Ruhe. Erstmals seit langer Zeit rührte sich ein leichtes Verlangen in ihm. Schmerzlich wurde ihm bewusst, dass er sich auch nach den körperlichen Aspekten sehnte und sich doch schwer tat. In Isabelles Augen konnte er sehen, dass sie nur zu gerne weiter gegangen wäre. Aber so blieb es beim Schmusen und Küssen.
Jan wurde wach, als die Kirchglocken erklangen. Er war durstig und setzte sich auf. Er konnte sich nur dunkel daran erinnern, ins Bett gegangen zu sein. Isabelle hatte ihn irgendwann sanft dazu überredet. Dann erinnerte er sich an die Entscheidung, die er getroffen hatte und vor allem daran, dass sie heute mit David abreisen würden. Flugs war er aus dem Bett, schlüpfte flink in Shirt und Jogginghose und eilte barfuß nach unten. Im Erdgeschoss war es still.
Nanu? Suchend sah sich Jan um. In der Bibliothek stand ein Fenster offen, aber darin war niemand. Auch im Wohnzimmer traf er keinen an. Schnell ging er zur Küche. Leer.
Es war kurz vor 10, warum hatte er so lange geschlafen? Sonntag, fiel ihm ein. Seine Eltern waren bestimmt unterwegs zum Gottesdienst. Aber wo steckten Isabelle und sein Sohn? Panisch rannte er wieder nach oben und riss die Tür zum Kinderzimmer auf.
Gott sei Dank, Davids Sachen lagen ordentlich gestapelt auf dem Bett. Für einen Moment hatte er gedacht, sie wären gefahren ohne auf Wiedersehen zu sagen. Er setzte sich auf das Bett und drehte den Teddybär in den Händen.
»Guten Morgen.«In der Tür stand Isabelle und lächelte ihn an. Mit einem Satz war Jan bei ihr und rückte sie fest an sich.
»Wo sind denn alle? Ich dachte schon, ihr wärt schon auf dem Weg nach Hause«, seufzte er.
»Blödsinn. Deine Eltern haben David mit in die Kirche genommen. Damit wir zwei Hübschen Zeit für ein gemeinsames Frühstück und das Telefonat mit der Klinik haben.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. Ihre Hand ruhte kurz an seiner Stirn. In der Nacht hatte er wieder Fieber und Kopfschmerzen gehabt, aber jetzt nickte sie zufrieden. Gab ihm einen Klaps.
»Also, ab mit dir unter die Dusche. Ich warte unten auf dich.«
Dr. Schmedding rief zurück, eine knappe Viertelstunde nachdem Jan sich in der Klinik gemeldet hatte. Er bot Jan an zwei ambulante Gesprächstermine an.
»Kommen Sie Montag und Dienstag doch gegen 11 einfach vorbei. Wir müssen nicht direkt therapeutisch einsteigen, aber vielleicht wäre es ganz sinnvoll«, meinte er. Zögernd nahm Jan das Angebot schließlich an. Erleichtert drückte Isabelle seine Hand. Sie hatte dem Arzt auch die letzten Nächte geschildert.
»Wir schauen uns morgen die Werte an und vielleicht ändern wir auch was an den Medikamenten«, stellte Schmedding in Aussicht. »Dann sehen wir uns morgen«, verabschiedete er sich schließlich.
Draußen regnete es Bindfäden. Das passende Wetter für einen Abschied.
Jan war Isabelle ins Schlafzimmer gefolgt und sah ihr schweigend zu, während sie den Koffer packte. Gerade kam sie mit dem Kulturbeutel aus dem Bad.
»Ich wünschte, du könntest bis Mittwoch bleiben.« Seufzend zog Isabelle den Reißverschluss zu und klappte den Koffer zusammen. Dann hob sie diesen vom Bett und setzte sich neben Jan auf die Kante.
»Du weißt, dass es nicht geht. David hat morgen einen Termin bei Heike, ich den Besichtigungstermin für die Wohnung. Dienstag muss ich mit meinem Chef die neuen Büroräume abnehmen« erklärte sie ihm. »Jan, ich kann und möchte das nicht verschieben. Die Alternative wäre gewesen, dass du heute noch in die Ludgeri gegangen wärst. Aber das wolltest du nicht.«
Er biss sich auf die Unterlippe. »Ich muss auch noch einiges regeln«, konterte er bissig. Nun schwiegen sie beide und Jans Blick wanderte wieder zu dem Koffer. Mit einer Hand fuhr er sich durchs Gesicht. »Es tut mir leid«, murmelte er.
»Meinst Du, mir gefällt es, dich zurückzulassen? Den Gang nicht mit gehen zu können? Auch ich habe keine Lust auf diesen Abschied, aber muss sein. Und das heißt nicht, dass ich dich im Stich lasse oder dich weniger liebe.«
Ihr Ton war streng und Jan zuckte zusammen. Konnte sie Gedanken lesen? Schuldbewusst senkte er seinen Blick.
»Ach, Jan. Das ist so kräfteraubend. Ich liebe dich. Punkt. Nicht mehr und nicht weniger. Bitte höre auf alles anzuzweifeln. Das tut weh.«
Wieder traf ihn jedes Wort.
»Ich weiß«, sagte er leise. »Ich weiß es und trotzdem. Ach, ich kann es nicht erklären«, antwortete er. Isabelle streichelte über seinen Unterarm, verharrte kurz an der Brandwunde, die nicht gut verheilen wollte.
»Versuch es doch«, forderte sie ihn auf. Jan schüttelte den Kopf. Wie sollte er ihr sagen, dass er solch furchtbare Angst hatte, dass sie gehen könnte?
Weil er sich verhielt, wie er sich verhielt. Weil er gerade war, wie er war. Dass er befürchtete, dass sie nicht auf ihn warten würde. Dass er es sogar verstehen könnte, würde sie aufgeben.
Er hatte solche Angst davor, was er dann tun könnte. Und das wollte er keinesfalls zugeben. Seit der letzten Woche war so viel passiert. Er war sich sicher, ohne sie hätte er diese Tage nicht überstanden. Ohne sie würde er nicht überleben. Würde er ihr all das sagen, dann würde sie erst recht gehen. Er wollte sie nicht unter Druck setzen, sie nicht erpressen. Ihr nicht noch mehr aufladen, als er sowieso schon getan hatte. Daher schüttelte er erneut den Kopf. Nichts davon, so hatte er sich geschworen, sollte sie erfahren.
Schweren Herzens hatten sie entschieden, dass Jan nicht mit zum Flughafen kommen würde. Gerade für David wäre es besser, wenn er sich hier in Ruhe von seinem Papa verabschieden konnte. Martin würde sie fahren, so daß Anke und Paul für Jan greifbar blieben. Zusammen mit seinem Sohn blätterte Jan in einem Bildband. Der Kleine hatte sich an seinen Vater gekuschelt und schweigend betrachteten sie die Tierfotografien. Ab und an hatte David eine Frage, die Jan nur flüsternd beantwortete.
»Wann gehen wir in den Zoo, Papa?«, wollte David gerade wissen.
»Ganz bald«, sagte Jan und gab ihm einen Kuss auf den Scheitel. Seufzend klappte Isabelle ihr Buch zu. So gut und kindgerecht wie möglich hatte sie den Jungen versucht darauf vorzubereiten, dass er seinen Vater eine Weile nicht sehen würde. Nachdenklich betrachtete er jetzt ein Bild und runzelte die Stirn.
»Du gehst aber nicht ganz weg?«, hakte er nach. Dabei drehte er sich zu Jan um und rückt noch enger an ihn heran. Jan trafen die Worte sehr. Isabelle stand sie auf und setzte sich zu den Beiden. Streichelte erst David über den Kopf und gab Jan einen Kuss auf die Schläfe.
»Nein, mein Schatz. Versprochen«, antwortete Jan und legte den Band auf den Tisch. »Du bist bitte ganz brav und machst, was die Mama dir sagt, ja?«
David nicke eifrig. Und sah Isabelle dabei mit leuchtenden Augen an. Jan schob David etwas von sich und kam wieder aufrechter in den Sitz. Ernst betrachtete er seinen Sohn.
»Ich habe dich unfassbar lieb«, sagte er dann. Er zog David wieder zu sich. Während er David an sich drückte, liefen Jan Tränen über die Wange. Isabelle streichelte ihm über den Arm.
Schließlich nahm er David an die Hand und verschwand mit dem Jungen in die Werkstatt. Seufzend brachte Isabelle eine halbe Stunde später ihren Koffer in den Hof. Dort nahm Martin ihr diesen ab und verstaute ihn im Kofferraum.
»In der nächsten Viertelstunde sollten wir los«, mahnte er. Noch während sie überlegte, ob sie die Werkstatt betreten sollte, öffnete sich deren Tür. Fröhlich kam David heraus und rannte auf sie zu.
»Guck mal!«, rief er und hielt hier zwei Spielzeugautos entgegen. Sie bewunderte seine Beute ausgiebig und bat ihn dann, sich von seinen Großeltern zu verabschieden.
Leise schob sie die Werkstatttür auf. Jan saß wieder auf dem Hocker und blickte ihr aus traurigen Augen entgegen. Er stand auf, kam auf sie zu und nahm sie in den Arm. Wortlos erwiderte sie seine Umarmung und sie hielten sich für einige Minuten fest.
»Ich werde euch vermissen. Es zerreißt mir das Herz nicht zu wissen, wann ich euch wiedersehe«, flüsterte Jan.
»Du wirst uns auch fehlen«, antwortete sie behutsam. Jan beugte sich zu ihr, gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Hielt sie dabei an den Schultern fest. Isabelle schloss die Augen. Genoss den Moment, das Gefühl und seine Lippen.
»Pass auf dich auf«, sagte sie zärtlich. Jan legte sein Kinn auf ihrem Kopf ab, zog sie nochmal zu sich.
»Ich liebe dich«, raunte er. Sie standen eng umschlungen mitten im Raum und erst das Hupen von Martin holte sie zurück ins Hier und Jetzt. Seufzend nahm sie seine Hand und er folgte ihr in den Hof. Hand in Hand gingen sie zum Wagen. David saß schon drin und winkte ihnen zu. Widerwillig ließ Jan ihre Hand los, damit sie sich von Anke und Paul verabschieden konnte.
Während Martin ins Auto stieg, verharrte sie kurz vor Jan. Drückte seine Hand.
»Ich rufe an, wenn wir angekommen sind«, sagte sie dabei und blinzelte eine Träne weg. Auch hier fiel es schwerer, als sie gedachte hatte. Nochmal zog Jan sie in seinen Arm, gab dabei einen undefinierbaren Laut von sich. Anke trat zu ihnen, streichelte ihrem Sohn über den Rücken.
»Komm, lass sie gehen. Nicht, dass sie den Flieger verpassen«, sagte sie. Jan ließ Isabelle los und sie schlüpfte so schnell sie konnte auf die Beifahrerseite. Kaum, dass sie die Autotür geschlossen hatte, fuhr Martin an. Noch während er vom Hof fuhr, drehte sich Jan um und verschwand wieder in der Werkstatt. Hilflos sah Anke ihm nach.