In der Tat hatte er keinerlei Erinnerungen an den Unfall selbst. Als er wie von der Ferne einen Blick auf die Unfallstelle warf, war alles schon passiert. Der Wagen hatte sich überschlagen und war auf der Beifahrerseite zum Liegen gekommen. Es war unheimlich still. Er konnte sehen, wie er seltsam verrenkt in dem Sitz hing. Der Airbag aus dem Lenkrad war aufgegangen, ebenso der in der Seitentür. Offenbar war er dennoch irgendwo mit dem Kopf dagegen gestoßen. Über sein Gesicht lief Blut und er schien nicht bei Bewusstsein zu sein. Irritiert ob der Situation sah Jan sich um. Am Straßenrand hatten zwei Autos gehalten. Einer der Fahrer telefonierte, während der Andere auf das verunglückte Auto zu lief. Plötzlich spürte er einen Luftzug neben sich.
"Du dummer Kerl", hörte er sie sagen. Fasziniert beobachtete er, wie der Fremde versuchte, die Fahrertür zu öffnen.
"Bist du von allen guten Geistern verlassen?", fragte sie nun energischer. Jan schüttelte den Kopf und nahm seinen Blick weg vom Geschehen.
"Es gibt doch keine andere Lösung", verteidigte er sich. Ihr spöttisches Lachen verletzte ihn. Nun konnte er Blaulichter sehen. Der zweite Fremde war nun auch an die Tür geeilt, doch offenbar hatte sich diese verzogen. Anna zog ihm am Handgelenk und zwang ihn, sie anzusehen.
"Keine Lösung? Natürlich gibt es eine Lösung. Hab Mut und höre auf diejenigen, die dir helfen wollen." Sie hatte ihre Stimme erhoben, wie nur ganz selten. Jan schüttelte den Kopf und drehte seinen Kopf wieder weg. Die Feuerwehrleute hatten die Tür endlich geöffnet bekommen und der Notarzt war nun an seiner Seite.
"Ergreife diese Chance", sagte sie und ihre Stimme entfernte sich. Ehe er richtig reagieren konnte, war sie verschwunden. Um ihn herum wurde es dunkel. Er konnte Stimmen hören, die aber nicht zuordnen. Ein dumpfer Schmerz erfasste seinen Körper. Ein regelmäßiges Piepsen kam dazu und die Stimmen verstummten. Vorsichtig blinzelte Jan und als er seine Augen öffnete, sah er in das Gesicht von Isabelle.
Grübelnd lag Jan in der Nacht wach. Die Schmerzen hielten sich in Grenzen, solange er sich nicht bewegte. Die Verstauchung der Hand war unangenehm, mehr aber nicht. Die Prellungen im Brustbereich würden ihn einige Tage behindern und der Schnitt an der Stirn war allenfalls optisch ein Problem. Was ihm nicht in den Kopf wollte war, dass der Versuch erneut daneben gegangen war. Jetzt, allein im Dunkeln, konnte er seinen Gefühlen dazu freien Lauf lassen. Nun sah ihn ja niemand und es war ihm schwer gefallen, sich über den Tag nichts anmerken zu lassen. Dabei war er selbst völlig verwirrt gewesen, als er noch in der Notaufnahme zu sich gekommen war. Was machte er eigentlich richtig?
Seine Gedanken fuhren Achterbahn. Er musste so schnell wie möglich hier raus. Nicht, dass Isabelle im Apartment auf Dinge stieß, die sie nicht sehen sollte. Nicht, ehe es vorbei war. Der Arzt hatte ihm nochmal auf den Zahn gefühlt, was die Blutwerte betraf. Mittlerweile erhielt er ja auch hier Schmerzmittel, so dass ein neuer Test nicht viel bringen würde. Jan hatte ausführlich von seiner zweitägigen Magengeschichte erzählt, damit hatte sich Dr. Kerner zufrieden gegeben. Ihm aber geraten, verantwortungsbewusster mit Medikamenten umzugehen. Gut, dass Isabelle das nicht gehört hatte. Lebhaft konnte sich Jan noch an die Diskussionen hierzu erinnern. Er wollte nicht, dass sie sich noch mehr Sorgen machte, als ohnehin schon.
Verzweifelt spielte er seine Möglichkeiten durch. Vor Ostern und den geplanten Ferientagen würde er keine erneute Gelegenheit bekommen. Zumindest keine, bei der er ausschließen konnte, dass Isabelle oder David ihn fanden. Und zumindest das wollte er ihnen ersparen. Stöhnend fuhr er sich mit den Händen durchs Gesicht. Woher sollte er nur die Kraft nehmen? Gleichzeitig fühlte er eine erste Erleichterung. So sehr hatte er David vermisst. Nochmal richtig Zeit mit dem Kleinen.
Langsam holten ihn auch wieder die Bilder des Unfalls selbst ein. Der kurze Moment, in dem er doch eingreifen und ihn verhindern wollte. Doch es war längst zu spät gewesen. Irrsinniger Weise hatte er keine Angst gespürt. Nur eine Hoffnung, dass es dann endlich vorbei sein würde. Wütend schlug er mit der Faust der unverletzten Hand auf die Bettdecke. Mit den ganzen Bildern im Kopf, die ihn nur während des Schocks verschont hatten, würde er nicht schlafen können. Wie sollte er das nur regeln, wenn Isabelle 14 Tage bei ihm war? Er musste unbedingt einen Weg finden.
Bei der Visite kurz nach dem Mittagessen bat er den Arzt, dass er ihn vorzeitig entließ. Zuhause, so argumentierte Jan, würde er sich ebenso gut schonen, aber sehr viel besser schlafen können. Er versprach, sich über den Theaterarzt krank schreiben zu lassen und Ruhe zu halten. Außerdem wäre in nicht mal 24 Stunden auch Isabelle zurück und er unter Aufsicht. Schließlich machte ihm Dr. Kerner einen Vorschlag.
Eine halbe Stunde später saß Jan vor dem psychologischen Bereitschaftsarzt. Aufgrund des Schocks und der einschneidenden Erfahrung hatte Dr. Kerner auf dieses Gespräch bestanden. Danach wollte er entscheiden, ob er Jan noch am Abend auf eigenen Wunsch entlassen würde.
Der ältere Kollege arbeitete seine Fragen an Jan routiniert ab und notierte Jans Antworten dazu. Die Fragen drehten sich ausschließlich um den Unfall und wie Jan damit zurecht kam. Geduldig schilderte er, dass er sich kaum erinnern konnte, da er ja kurz am Steuer eingenickt war und erst in der Notaufnahme erfahren hatte, was passiert war. Der Andere stellte ein paar tiefergehende Fragen, die Jan aber alle ruhig und gelassen beantwortete. Ja, er wusste, dass dies auch anders hätte ausgehen können und er hatte natürlich darüber nachgedacht. Offenbar alles Antworten, die sein Gegenüber befriedigte.
Erst gegen Ende hob der wieder den Kopf und sah Jan direkt ins Gesicht.
"Und warum glauben Sie, sind sie eingeschlafen? Kommt das öfter vor, dass Sie sich übermüdet ans Steuer setzen?"
Okay, dachte sich Jan und schüttelte vorsichtig den Kopf.
"Nein. Ich hatte die Woche unterschätzt, denke ich. Ich war zwei Tage krank zu Hause, habe dann gedacht, ich wäre richtig fit und das war ein Irrtum." Er versuchte sein Gesicht zu kontrollieren und blieb demonstrativ ruhig sitzen. Das lange Schweigen irritierte ihn zunehmend.
"Haben Sie viel Stress zur Zeit?"
Überrascht lächelte Jan.
"Eigentlich nicht, nein."
Was wurde das nun?
"Woher kommen die Kratzer an Ihren Armen? Laut Bericht stammen diese nicht vom Unfall?", wechselte der Psychologe das Thema. Beinahe hätte er Jan damit überrumpelt, doch jahrelange Bühnenerfahrung mit zahlreichen Improvisierungssituationen hatten sein Gutes, dachte Jan und lächelte unverbindlich.
"Das war ein juckender Ausschlag, ich hatte auf eines der Medikamente allergisch reagiert." Die Lüge war schneller heraus, als er zu Ende gedacht hatte.
"Und sie schlafen gut?", wollte der Arzt wissen. Ganz klar, der wollte mit diesen Themensprüngen herausfinden, ob Jan die Wahrheit erzählte. Aber nicht mit ihm. Alles was zählte war, dass er heraus konnte.
"Meistens, ja.", ab er daher als Antwort. Seufzend macht der Andere ein paar letzte Notizen und entließ Jan dann mit einer Floskel.
Ganz überzeugt schien Dr. Kerner nicht, aber schlussendlich saß Jan am Nachmittag endlich im Taxi.
Jan betrachtete seine Blutergüsse auf der Brust und dem Rücken mehr schlecht als recht im Badezimmerspiegel. Die Verfärbungen waren sehr ausgeprägt und die Stellen waren doch schmerzhafter, als gedacht. Vorsichtig schlüpfte er in ein frisches T-Shirt. Die Kratzer auf den Unterarmen hatte er eingecremt. Er griff sich einen Kapuzensweater und zog den über. Da noch jeder Schritt weh tat, hatte er sich ein Taxi bestellt und fuhr damit ans Theater. Robert wollte ihn sprechen und er brauchte die Krankmeldung. Der Arzt dort studierte den Brief aus der Klinik, machte sich ein Bild von den Verletzungen und schrieb ihn bis Ostermontag krank. Dazu bekam er ein Rezept mit einer Salbe sowie die Empfehlung, bei starken Schmerzen auf klassische Schmerztabletten zurückzugreifen.
Zufrieden, dass der Termin so schnell und problemlos von Statten gegangen war, macht sich Jan auf zu Robert. Der hatte am Morgen offenbar eine Probe anberaumt, so entnahm es Jan dem Schwarzen Brett. Die Tür zu seinem Büro stand offen und der winkte ihn direkt hinein.
"Du siehst übel aus", meinte Robert, nachdem er Jan einen Stuhl angeboten hatte.
"Nur Prellungen", meinte Jan und reicht ihm die Krankmeldung. "In der Klinik schauen sie am Samstag noch mal drüber", informierte er den Regisseur.
"Gut. Dann pass besser auf dich auf, hörst du? Ich hatte dich nicht aus der Show genommen, damit du bei nächster Gelegenheit im Krankenhaus landest." Als er Robert verließ, steuerte er seine Garderobe an. Er wollte nur schnell nachsehen, ob er abgeschlossen hatte, daran konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. Überhaupt fehlten ihm nach wie vor ein paar Momente. Die Träume mit Anna lenkten ihn zu sehr ab. Kurz blieb er am Fenster stehen und sah in den Innenhof.
"Jan?" Erschrocken fuhr er zusammen, als Ariane den Raum betrat und die Tür hinter sich schloss.
"Hey", meinte er. Sie blieb vor ihm stehen und musterte ihn.
"Was machst du nur für Sachen?", fragte sie und sah ihm fest in die Augen.
Jan wandte den Blick ab, doch Ariane ließ ihn nicht aus den Augen.
"Ein Unfall, ich bin wohl eingeschlafen", sagte er und drehte sich wieder zum Fenster. Die Stille wog schwer, schließlich griff Ariane nach seiner Hand.
"Bist du dir sicher?", fragte sie ihn direkt und er konnte spüren, wie er rot wurde. Wieso fragte sie das nun? Die Frage war ihm unangenehm, er wollte jetzt nicht darüber sprechen.
"Jan? Schau mich bitte an." Ariane legte eine Hand auf seine, die auf der Fensterbank ruhte. Warum war es hier drin auf einmal so warm?
"Das verstehst du nicht", brauste er auf und zog seine Hand ruckartig weg. Dann brachte er ein paar Meter zwischen sich und ihr. Ariane kniff die Augen zusammen. Jan ließ sich auf das Sofa sinken.
"Ich? Nicht verstehen? Weißt du eigentlich, was du da sagst? Vielleicht sehe ich es dir besser an, weil ich genau weiß was los ist. Und ich bin mit meinem Latein am Ende. Ich lasse dich gerne in Ruhe, sofern du mir glaubhaft versichern kannst, dass diese Nummer ein Unfall war."
Jan schluckte und sah an ihr vorbei.
"Lass mich doch einfach in Ruhe, Ariane", bat er matt. Sie zuckte mit den Achseln und lehnte sich an die Fensterbank.
"Dann sag mir ins Gesicht, dass du diesen Unfall nicht absichtlich herbeigeführt hast", beharrte sie.
Jan schloss seine Augen.
"Und wenn, es geht dich nichts an", fauchte er.
"Ach, meinst du? Wie lange kennen wir uns nun? Seit vielen Jahren sind wir so etwas wie befreundet und ich schätze dich sehr, Jan. Also ja, es geht mich etwas an, wenn sich ein liebgewonnener Mensch aus dem Leben stehlen will. Gerade weil ich weiß, wie du dich fühlst."
Sie machte einen Schritt auf ihn zu, blieb aber vor dem Sofa stehen und zog sich den Schminkstuhl heran.
"Wenn du es sowieso weißt, was soll das dann hier?", fragte er.
"Weil ich es von dir hören möchte, sprich es mal laut aus", forderte sie ihn auf. Sie wusste, es war ein Versuch auf Messers Schneide. Kein Wort kam über Jans Lippen. Dafür sah er sie stumm an. Ariane schüttelte den Kopf.
"Du willst sterben?", fragte sie und seine Fassade bröckelte. Dennoch nickte er. Sie zog die Luft tief ein und blieb aber sitzen.
"Dann bitte ich dich, setzte dich mit der Frage ernsthaft auseinander. Du hast einen Sohn, was sollen wir ihm irgendwann über seinen Papa erzählen? Stell dir bitte die Frage, ob du wirklich nicht mehr Leben möchtest. Ob du verpassen möchtest, wie dein Kind groß wird. Ob du die Chancen gesund zu werden, alle in den Wind schießt."
Jan war bei jedem Satz merklich zusammengezuckt. Nur mit Mühe konnte er sich noch kontrollieren.
"Ariane, du hast keine Ahnung, was mir passiert ist. Hier gibt es keine Lösung. Keinen Ausweg. Kein Entkommen. Und nichts, aber auch gar nichts mehr, wird wieder gut. Nie mehr. Verstehst du das?" Sie konnte sehen, wie verletzt und verzweifelt er war. Und es tat ihr in der Seele weh. Nun nickte sie.
"Ja. Genau das dachte ich auch, Jan. Daher bitte ich dich innständig. Es gibt Hilfe, es erfordert Mut und Überlebenswillen, diese anzunehmen. Möchtest du, dass jemand anderes als Du den Sieg davon trägt? Was macht das aus David?" Sie stand auf und ging zur Tür. "Nimm dir diese Zeit." Sie sah kurz zu ihm, dann verließ sie den Raum.
Arianes Worte liefen in einer Endlosschliefe durch seinen Kopf. Auch als er wieder auf dem Sofa lag und stumpfsinnig in den Fernseher starrte, hörte er immer wieder, was sie sagte. Jedes Wort hatte sich eingebrannt. Und seitdem rotierten seine Gedanken. An und für sich war er immer stolz gewesen, dass er mit viel Mut durchs Leben gegangen war. Gut, zwischendurch war ihm dieser immer Mal abhandengekommen, aber bisher hatte er ihn immer wiedergefunden. Nur jetzt nicht. Was sagte das über ihn? Gleichzeitig war da diese Stimme, die ihm immer wieder sagte, dass es hier aber keine Lösung gab. Es war nicht ungeschehen zu machen, noch konnte er es vergessen. Und immer wieder dieses Bild von Diana, wie sie ihn an sah und verhöhnte. Ihm sagte, wie unzulänglich er war. Dass er immer wieder versagt hatte, als Freund, als Partner, als Mann.
"Schau dich an Jan, nicht mal jetzt hast du es geschafft, mich zu ignorieren. Wie immer. Du warst so leicht zu manipulieren. Und ich garantiere dir, ich würde es wieder schaffen. Du kannst gar nicht anders."
Wütend machte er den Fernseher aus und warf die Fernbedienung in die Ecke. Sollte sie wirklich gewinnen? Arianes Blicke bei dieser Frage kamen ihm in den Sinn. Was ahnte sie? Warum verstand sie ihn so gut und warum hatte sie ihn so erreicht? Er zog den Laptop zu sich und klappte ihn auf. Unter anderem fiel ihm der Abschiedsbrief in die Hände. Gut, dass Isabelle ihn nicht entdeckt hatte. Wollte er das? Verzweifelt gab er sein Paßwort ein und starrte ungläubig auf die offene Seite des Browsers. Mit einem mulmigen Gefühl hangelte er nach seinem Handy. Mit zittrigen Fingern wählte er schließlich eine Nummer. Sein Herz hämmerte wild, als am anderen Ende abgenommen wurde.
Mut, hatte sie gesagt.
Sein Mund war ganz trocken und es kostete ihn jede Überwindung.