Der erste Akt flog nur so vorbei. Jan spielte fantastisch. Das Publikum war begeistert und Femke lächelte ihm kurz zu, als sie die Bühne verließen. Und das, obwohl es ihm durchgängig schlecht war und er mehrfach gedacht hatte, dass sein Kreislauf aufgeben würde. Die Brandwunde hatte sich etwas beruhigt, dafür lag ihm das Brötchen schwer im Magen. Das Ziehen nahm wieder zu. Robert klopfte ihm auf die Schulter, als es in die Pause ging. Jan ging ohne Umwege zu seiner Garderobe.
Am Unterarm hatte sich eine Brandblase gebildet. Fasziniert fuhr Jan mit dem Finger darüber. Es brannte wie Hölle. Und es schmerzte unglaublich, sobald Luft daran kam. Als es klopfte und Romy den Kopf hereinsteckte, hatte er den Ärmel schon wieder gerichtet. Sie prüfte flink sein Make-Up, puderte ihn nach und eilte dann direkt weiter. Jan leerte eine Wasserflasche. Keine gute Idee, musste er feststellen. Er atmete tief ein und aus. Gut, dass er nicht gleich zurück auf die Bühne musste. Draußen wurde es schon wieder wuselig und er hörte Gina und Ariane, die gemeinsam zu Akt Zwei unterwegs waren.
Kurz schloss er die Augen. Schließlich erhob er sich und ging ebenfalls die Treppe herunter zur Hinterbühne. Dort stand Robert, der den Schlagabtausch zwischen Gina und Ariane beobachtete. Beide waren wunderbar und auch Jan sah ihnen einen Moment zu. Robert nickte zufrieden und machte Platz für das Ensemble. Es wurde Zeit für Jan, sich auf seine Position zu begeben. Mittlerweile war ihm dermaßen schlecht, dass er froh war, sich in der Kulisse kurz setzen zu dürfen. Doch nicht nur sein Magen machte ihm Probleme. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, schickte ihm Bilder von Diana und seiner Qual. Irgendwie musste er das loswerden. Er versuchte sich zu beruhigen und den sicheren Ort zu aktivieren, aber es gelang ihm nicht.
Schon setze sich das Bühnenbild in Bewegung. Verzweifelt lehnt sich Jan an die Wand. Der Schweiß lief ihm aus allen Poren. Wie durch einen Nebel hörte er Femke.
Der kurze Dialog, sein Stichwort.
Doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Jan rutschte von der Kiste, die als Sitzgelegenheit diente und kam auf die Knie.
»Showstopp!«, rief jemand energisch. Noch während sich der Vorhang senkte, betrat ein Techniker die Kulisse, während Femke die Tür von der Bühnenseite her öffnete. Der Techniker wandte sich direkt um.
»Wir brauchen hier einen Sanitäter!«, rief er nach hinten. Gleichzeitig kamen Robert und Ariane dazu. Die Kollegin drängelte sich vorbei und beugte sich zu Jan, der aschfahl am Boden saß.
»Schau mich an, was ist los?«, fragte sie bestimmt. Jan schüttelte nur den Kopf. Ihm war so übel, alles drehte sich, der Knoten in seinem Magen schien zu platzen. Schnell drehte er sich zur Seite und übergab sich, dann wurde es schwarz um ihn.
Robert lehnte im hinteren Bereich der Seitenbühne und beobachtete den Schlussapplaus. Gregor hatte seinen spontanen Einsatz hervorragend gemeistert und auch Ginas Ersatz hatte sich gut eingefügt. Er drehte sein Handy in der Hand. Der Intendant hatte schon zweimal angerufen. Offenbar hatte sich schon herumgesprochen, dass Jan nicht mehr auf der Bühne erschienen war.
Die Darsteller kamen von der Bühne und Robert lobte sie allesamt. Es war nie leicht, nach einem Showstopp einfach weiterzumachen. Auf dem Weg zu seinem Büro wählte er die Nummer des Intendanten. Der Inhalt des Gespräches überraschte ihn nicht. Kurz erklärte Robert, dass Jan wegen Übelkeit und Kreislaufschwäche nicht mehr auf die Bühne gekonnt hatte. Was ja im Weitesten Sinne auch stimmte. Nur mit Müh und Not hatten Gina und Ariane den Sanitäter davon abhalten können, den Rettungswagen zu rufen. Jans Kreislauf war komplett unten gewesen, daher hatte Robert auch zähneknirschend zugestimmt, dass Gina Jan nach Hause begleitete.
Der Intendant war außer sich. Und ein wenig konnte Robert ihn verstehen. Jan war ungewohnt unzuverlässig.
Nachdenklich hatte Robert das Telefonat beendet und dann Ariane aufgesucht, die schon auf dem Sprung war. Klar, sie wollte nach Hause und nach Jan sehen. Gina hatte ihn mit in das Apartment der Frauen genommen.
»Ich kann Jan nicht länger schützen, Ariane. Bis 12 Uhr sollte er ein Attest vorlegen können. Ariane, die haben bereits Ersatz an der Hand.« Bedauernd sah er sie an. »Ich muss morgen Alex informieren, dass Jan kurz vor einer Suspendierung steht. Vielleicht sollten die Fakten zu Jans Erkrankung langsam auch dort auf den Tisch«, fuhr er fort.
Ariane seufzte schwer. Sie bedankte sich für Roberts Offenheit und verabschiedete sich dann. Vielleicht, so dachte sie, hatte der Regisseur gar nicht so unrecht.
Vorsichtig öffnete sie eine halbe Stunde später die halb offene Tür zum Wohnzimmer, dort lag Jan auf der Schlafcouch. Laut Gina war er unruhig, kam nicht richtig zur Ruhe und dämmerte immer nur kurz weg. Sansa, Arianes Labradorhündin, lag vor dem Bett auf dem Boden und hob den Kopf von den Pfoten. Lächelnd ging Ariane in die Knie und flüsterte auf die Hündin ein. Ein leichtes Schwanzwedeln war Sansas Antwort. Sie konnte Jan leise murmeln hören. Er regte sich unruhig und Ariana setzte sich langsam auf die Bettkante.
Sie platzierte sein Handy auf dem Nachttisch. Gina hatte es mit anderen Gegenständen aus seiner Hosentasche geholt, als sie die Sachen in die Waschmaschine gesteckt hatte. Ein kleines Stück Holz behielt sie in der Hand. Sie überlegte, ob sie ihn kurz wecken sollte. Wieder warf sich Jan von links nach rechts und sprach nun lauter.
»Bitte nicht«, konnte sie verstehen. Vorsichtig berührte sie seine Schulter und holte ihn hoffentlich einigermaßen sanft aus seinem Albtraum. Jan schlug die Augen auf und sein Blick wirkte gehetzt, bis er langsam realisierte, wer da bei ihm saß. Sein Atem ging noch unruhig und Ariane spürte, dass er geschwitzt hatte. Sie reichte ihm ohne große Worte eine Tasse mit Tee. Gedankenverloren spielte sie mit dem Holz in ihrer Hand.
»Es hat vorhin nicht geholfen«, sagte Jan matt. Sie nahm ihm die Tasse wieder ab und reichte ihm im Gegenzug das Holzstück. Als er seine Hand ausstreckte, stockte Ariane in ihrer Bewegung.
»Was hast du da?«, fragte sie und hielt seinen Arm fest. Jans Blick blieb überrascht an der deutlich sichtbaren Brandblase hängen. Ariane sah ihm in die Augen.
»Jetzt sag mir bitte nicht, dass du dich nicht erinnern kannst.«
Zwischenzeitlich hatte sie das kleine Licht angeknipst und betrachtete Jans Wunde eingehend. Erstaunt sah sie ihn wieder an.
»Mit einer Zigarette, oder? Ach, Jan.« Sie ließ seinen Arm los und schüttelte den Kopf. Jan fuhr mit einem Finger über die Blase und zuckte leicht zusammen. »Damit musst du auf jeden Fall zum Arzt. Wenn sich das entzündet, wird das kein Spaß.« Seufzend musterte sie ihn. Er sah wirklich furchtbar aus. Und er schien sich in der Tat nicht erinnern zu können. Sie bohrte ein wenig nach und offenbar fehlte Jan ein gutes Stück seiner Erinnerung. Schonend erklärte sie ihm, dass er morgen ein Attest brauchen würde. Alles weitere, so beschloss sie, musste ihm Robert sagen. Oder Alex. Aber nicht sie.
Zu ihrer Verwunderung protestierte Jan nicht. Er hatte sich auf die Seite gerollt und die Augen wieder geschlossen. Er war ihr definitiv zu still. In diesem Moment wurde ihr klar, wie still Jan in den letzten Tagen gewesen war. Noch vor ein oder zwei Wochen hatte er getobt, geschrien und um sich geschlagen. Alarmiert berührte Ariane ihn wieder. »Rede mit mir, bitte. Friss nicht wieder alles in dich hinein. Du siehst doch, wo es endet.«
»Ich habe so eine Angst.« Jans Stimme war nur ein Flüstern.
»Erkläre es mir«, forderte Ariane ihn auf. Ihre Hand ruhte weiter auf seiner Schulter.
»Dass ich das nicht schaffe. Dass ich mich irgendwann nicht kontrollieren kann. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich das mit der Zigarette gemacht habe. Was, wenn ich noch mehr Aussetzer habe?«
Leise räusperte sie sich. Er zitterte unter ihrer Berührung.
»Was ist mit der Alternative? Hast du darüber nachgedacht?«, fragte sie.
»Ja. Oft.«
Ariane hob den Kopf. »Und?«, fragte sie nach.
Jans Stimme brach.
»Kannst du mir helfen?«
Sofort nickte sie leicht
Jan wandte ihr das Gesicht zu, es war tränennass. Ariane schluckte, legte sich neben ihn.
Bei all seiner Wut und Raserei hatte er in den letzten Wochen keine Tränen zugelassen. Jetzt brachen alle Dämme.
»Sollen wir morgen zusammen deine Therapeutin anrufen?«, fragte sie sanft.
«Bitte«, stieß er hervor und wischte sich über die Augen.
»Es ist okay, lass es raus«, flüsterte sie und fuhr ihm beruhigend durchs Haar. Dabei nahm sie ihn in den Arm und er ließ es zu, dass sie ihn tröstete. Immer wieder schüttelte es ihn und sie sprachen nicht mehr.
Ariane blieb bei ihm, bis er sich beruhigt hatte und irgendwann eingeschlafen war. Erst als sie sich sicher war, dass sie ihn alleine lassen konnte, löste sie sich. Sansa kam zu ihr und leckte ihr die Hand ab. Noch einen Moment blieb Ariane an der Bettkante sitzen. Als sie das Zimmer verließ, übernahm die Hündin die Wache. Sie streckte sich vor der Couch aus, legte den Kopf auf ihre Pfoten und blinzelte kurz. Jan würde also in die Klinik gehen. Keine einfache Entscheidung, aber ihr fiel beinahe ein Stein vom Herzen.