Jan erlebte diese Tage wie unter einer Käseglocke. An manches konnte er sich später nicht oder nur schemenhaft erinnern. Nur ein Gefühl hatte sich ganz tief festgesetzt und beherrschte ihn: ANGST.
Fast durchgängig hatte ihn hohes Fieber begleitet und wirre Träume beschäftigt. Die Tage verschwommen ineinander. So viele Gespräche, so große Müdigkeit und immer diese Angst.
Er verstand die Sorge um sich herum, ertrug aber kaum die Fürsorge. Dabei hatten sie mehr als jeden Grund dafür ihn nicht allein zu lassen, er traute sich ja selbst nicht. In Jan tobte eine so große Verzweiflung, dass er kein Mittelmaß fand.
Wegstossen, fallenlassen.
Verstecken, Nähe suchend.
Aufgeben, kämpfen.
Er fühlte sich kraftlos, leer.
Kaum konnte er folgen, als Alex über die Ermittlungen berichtete und begriff nur, dass die Chancen nicht gut standen.
Dann waren auf einmal seine Eltern da.
Jan hatte keine Ahnung gehabt und war im ersten Moment vollkommen überfordert gewesen. Mit einem schweren Kloß im Hals stand er dann am Fenster im Wohnzimmer und versuchte das in Worte zu fassen, für das es eigentlich keine gab. Dabei versuchte er sich zusammen zu reißen, konzentrierte sich auf den Kater, der vor ihm auf der Fensterbank saß. Kaum traute er sich, seine Eltern anzusehen. Aber dennoch ließ er nichts aus. Dianas Falle, Davids Pein, die Vergewaltigung und seine Versuche, sich das Leben zu nehmen. Der Zusammenbruch vor ein paar Tagen, sein Wutanfall, seine Aussetzer und vor allem seine Ängste.
Dann war es ganz still im Raum gewesen. Jan hatte kaum gewagt, sich umzudrehen. Fast rechnete er mit großer Enttäuschung, Vorwürfen. Vielleicht glaubten sie ihm die Geschichte ja auch gar nicht. Die Tränen seiner Mutter trafen ihn und vor Scham wäre er zu gerne im Erdboden versunken. Er machte ihr nur Kummer. Allen machte er nur Kummer.
Isabelle war dazu gekommen und Paul hatte neben dem Kaffee, den sie gebracht hatte, nach einem Schnaps gefragt. Jan bekam das Gespräch zwischen seiner Freundin und seinen Eltern gar nicht wirklich mit. Er hatte die Stirn an die kühle Fensterscheibe gelehnt und die Augen geschlossen.
Erschrocken zuckte er zusammen, als er eine Hand in seinem Rücken spürte.
»Jan, Liebling«, hörte er seine Mutter flüstern.
Gleichzeitig hörte er leise Schritte und dann die Tür.
Er war mit seiner Mutter alleine.
Langsam drehte er sich zu ihr herum und sah in ihre verweinten Augen.
”Mama......«
Und dann liefen ihm die Tränen wie von ganz alleine über das Gesicht. Seine Mutter lehnte sich an ihn, hielt ihn fast wie damals, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Es tat so gut. Jan ließ los.
In der Küche saßen sie dann alle zusammen. Auch Jule war gekommen. Ein Krisengipfel.
Alex brachte alle auf den gleichen Stand. Er hatte lange mit dem Anwalt gesprochen, der ihn bezüglich Jans Anzeige und dem weiteren Vorgehen abgeholt hatte. Die Aussichten, dass Diana tatsächlich verurteilt werden würde, waren schlecht. Sie konnten von Glück sagen, wenn die Ermittlungen überhaupt bis zu einer Anklage führten. Davids Sicht der Dinge rückten dabei in den Fokus.
Jan musste entscheiden, ob der Kleine befragt werden sollte. Vorsichtig hatte sich Alex bei seiner Frau erkundigt, wie so etwas ablaufen würde. Des Weiteren war davon auszugehen, dass das Jugendamt sich dann einschalten würde. So schnell, erklärte der Anwalt, entzog man dort keine Sorge- oder Aufenthaltsbestimmungsrechte, aber Jans Gesundheitszustand könnte dort zu Irritation führen. Zudem würde man den Jungen nicht einfach in eine unbekannte Umgebung überführen, dazu gab es Gott sei Dank zu viele hilfreiche Hände im Umfeld. Allerdings mussten diese auch bereit sein, den Jungen aufzunehmen.
Hilfesuchend sah Jan Isabelle an, als es um die etwaige Aussage Davids ging. ”Muss das sein? Er hat doch nichts gesehen, oder?«, wollte Paul dann wissen.
»Es könnte aber Jans Glaubwürdigkeit untermauern, wenn David bestätigt, dass er eingesperrt wurde. Wir müssen ja damit rechnen, dass Diana alles verdreht«, gab Alex zur Antwort.
»Sie hat mir gedroht«, antwortete Jan leise. Dann wiederholte er Dianas Worte, dass sie im Notfall das genaue Gegenteil behaupten würde. Paul schüttelte angewidert den Kopf.
»Im Notfall heißt das Aussage gegen Aussage. Wenn sich für keine
der Varianten Beweise finden, werden die Ermittlungen eingestellt«, fasste Alex zusammen.
”Mir gefällt nicht, dass der Kleine mit hereingezogen wird“, brummte Paul deutlich. Alex starrte auf den Notizblock vor ihm.
»Hereingezogen hat ihn Diana. Und David hat mehr mitbekommen, als er uns sagen kann. Dessen ist sich Heike sicher. Natürlich versteht er nicht, was genau passiert ist.“
Wieder sah Jan zu Isabelle.
»Ich würde abwarten, was genau Diana aussagt und was die Kripo uns sagt. Dann können wir immer noch darüber nachdenken«, führte sie schließlich an. Sie äußerte ihre Bedenken, dass das Jugendamt zu hellhörig werden könnte. Während Alex etwas notierte griff sie nach Jans Hand.
»Dienstag müssen wir hören, was die Verantwortlichen in München sagen.« Alex zog Jans Aufmerksamkeit auf sich. »Dein Fernbleiben Freitag und
auch der Zusammenbruch am Donnerstag haben den Intendanten auf den Plan gerufen. Robert hat mich informiert, dass ab nächster Woche dein Ersatz auf der Bühne stehen soll. Es sind schon proben angesetzt.«
Jan biss sich auf die Lippe, dann nickte er.
»So ganz einfach deinen Vertrag kündigen können die nicht. Zumal du krankgeschrieben bist. Eine Abmahnung, ja, aber alles andere wäre überzogen. Ich werde alles versuchen, das wir eine faire Lösung finden. Ich treffe mich morgen Abend mit Robert und Dienstag bin ich bei der Intendanz.«
Jan wurde schwindlig. Dann drückte Isabelle seine Hand.
»Ich fahre morgen mit dir nach München und komme mit zu Dr. Funk«, erklärte sie ihm. Überrascht hob Jan den Kopf.
«Und dein Job? Und David?“, fragte er. Anke lächelte und griff nach
Jans zweiter Hand.
«Um David mach dir mal keine Sorgen. Wir bleiben ein paar Tage, so
dass sich Isabelle auf dich konzentrieren kann.“ Schnell blinzelte Jan. Ihm ging das alles zu schnell. Wieder übernahm Isabelle das Gespräch und nun kam er kaum noch mit. Ein Jobwechsel?
Sprachlos hörte er ihr zu.
»Ich habe Herrn Sauer gebeten, mir eine freie Woche zuzugestehen. Dafür verzichte ich Pfingsten auf einen Teil meines Urlaubs. Ich glaube, es ist wichtiger, dass wir jetzt Zeit haben«, beendete sie ihre Ausführungen. Ungläubig sah Jan alle am Tisch an. Dann schluckte er.
»Und das Konzert?«, fragte er vorsichtig.
„Findet statt. Nur eben ohne dich. Karim springt ein und kommt morgen schon zur Probe. Wir müssen nur entscheiden, was ich den Jungs sagen kann und wie wir die Öffentlichkeit informieren.« Nun lehnte sich Alex im
Stuhl zurück. »Jan, wir bekommen alles irgendwie geregelt. Versprochen. Du kannst dich voll und ganz um dich selbst kümmern.« Alex lehnte sich zurück.
Er sah Jan lang in die Augen.
»Jetzt musst du uns nur noch sagen, wie es weitergehen soll. Du hattest Donnerstagnacht eine Entscheidung getroffen. Willst du das weiterhin? In die Klinik?«, fragte er dann. »Im Grund geht es darum, ob du freiwillig diesen Weg gehst oder nicht.«
Alle Augen ruhten auf ihm. Keiner sagte etwas.
Jan konnte nicht verhindern, dass er zu zittern begann.
Nur wage konnte er sich an Hannos Worte erinnern.
Wieder die Hand seiner Mutter. Die dem ganzen Spuk erstmal ein Ende bereitete.
»Ich glaube, für den Moment ist alles gesagt. Jan braucht Ruhe«, meinte sie resolut. Seufzend stand Alex auf. Zusammen mit Jule verabschiedete er sich und auch Paul verließ die Küche. Er musste noch die Koffer aus dem Wagen holen. Isabelle begleitete alle in den Flur, nur Anke und Jan blieben zurück.
»Mama?« Fragend sah Jan auf. Beruhigend strich sie ihm über den Handrücken. »Es tut mir leid«, fuhr er fort. Anke schüttelte den Kopf.
»Wir sind da für dich. Und wir werden dir unter die Arme greifen, wo wir nur können«, sagte sie bestimmt. In seinen Augen sammelten sich Tränen.
»David....«, stammelte er.
»Natürlich. Wir passen auf ihn auf. Egal, wie du dich entscheidest, Jan. Dein Vater wird mit allen Mitteln zu verhindern wissen, dass der Junge dir genommen wird. Und wir werden darauf achten, dass es ihm gut geht. Entweder kommt er zu uns oder er bleibt bei Isabelle, versprochen«, bekräftigte sie. Sie musterte ihn, fuhr mit ihrer Hand über seine Wange.
»Wenn hier gleich Ruhe einkehrt, würde ich vorschlagen, dass du dich hinlegst und ausruhst. Du glühst«, meinte sie dann.
»Ich bin so müde«, bestätigte Jan. Dringend musste er alles für sich sortieren. Es war still geworden und unbemerkt hatte sich Isabelle in die Tür gelehnt. Sie räusperte sich leise und die beiden Frauen unterhielten sich leise. Anke setzte sich energisch durch. Auch Isabelle, so riet sie, sollte sich etwas schonen. Jan musste schmunzeln, als seine Mutter das Abendessen plante. Es war gut, dass die beiden hier waren. Die Erkenntnis traf ihn überfallartig. Nein, er wollte nicht untergehen. Auch dies überrollte ihn mit einer irrsinnigen Intensität.
Einen wichtigen Schritt hierfür ging er nur knapp zwei Tage später.
Der Termin bei Dr. Funk hinterließ zwar ein großes Chaos in seinem Kopf, aber die erfahrene Therapeutin versicherte ihm, dass er vor einer stationären Therapie keine Angst haben brauchte. Dennoch konnte er nicht aus seiner Haut. Allein die Vorstellung, dass er David und Isabelle für eine längere Zeit nicht würde sehen oder sprechen können, schnürte ihm die Kehle zu. Was, wenn er dann irgendwann entlassen wurde und sie wäre weg?
Warum auch sollte sie warten?
Was hatte er schon zu bieten außer seinen ganzen Katastrophen?
Immer wieder verlor er sich in diesen Gedankengänge, wachte schweißgebadet auf oder erlebte Dianas Martyrium erneut.
Zwei lange Gespräche hatte Alex mit der Theaterleitung geführt. Während Jan einwilligte, dass er Dr. Funk einige Kliniken kontaktierte, vollbrachte Alex ein wahres Heldenstück. Er erreichte, dass das Theater Jan nach einer Gesundung eine Chance geben würde. Der Vertrag wurde wegen Krankheit aufgelöst und man einigte sich auf eine pauschale Abschlagszahlung. Das war mehr, als Alex erwartet hatte. Die Betroffenheit ob Jans angeschlagener Psyche war groß obwohl Alex die Geschichte um Diana für sich behalten hatte.
Erst als Jan mit Isabelle bei seinen Eltern an kam, lichtete sich der Nebel. Seine Seele fand etwas Ruhe in der elterlichen Zuflucht.
Auf Anraten Alex´ waren sie vor Veröffentlichung der Pressemitteilung aus München abgereist. Paul und Anke hatten David schon am Vortag mit nach Westfalen genommen. Während das Theater und auch Jans Management die kleine Bombe platzen ließen, dass er sich bis auf Weiteres zurückzog, konnte Jan endlich wieder ein bisschen besser atmen.
Die Angst aber, die blieb.
So viele Fragen, die er im Kopf hatte.
Die meisten hatten Alex, Isabelle und seine Eltern längst geklärt.
Sie hatten ihm beinahe alles aus der Hand genommen, Entscheidungen für ihn gefällt und weitreichende Themen geregelt.
Davids Verbleib zum Beispiel.
Finanzielle Angelegenheiten, Fixkosten verschwanden ja nicht einfach.
Hier und da traf es ihn, dass sie über ihn hinweg entschieden. Dabei musste er zugeben, dass er schon damit überfordert war, wenn er sich am Morgen ein T-Shirt aussuchen musste.
Nichts funktionierte mehr, wie er es gewohnt war.
Mal glaubte er, er könne Bäume ausreißen, dann wieder war er damit überfordert die Treppe ins Erdgeschoss herunterzugehen.
Seine Launen konnten von einer Sekunde auf die nächste wechseln.
Manchmal waren da so seltsame Gefühle in ihm, dass er nicht mehr wusste wohin damit.
Jan wusste, er sollte jetzt viel Zeit mit seinem Sohn verbringen, aber er ertrug den Gedanken kaum, dass er ihn bald wochenlang nicht sehen würde.
Am liebsten hätte er versucht, all seine Probleme allein mit Isabelle zu lösen. So sehr er von der Klinik überzeugt gewesen war, so sehr fürchtete er sich jetzt davor.
Auf drei Wartelisten stand er weit oben. Eine der Kliniken war ganz in der Nähe, die anderen in Bayern und an der Nordsee. Viel zu weit weg. Erst ein Zwischenfall, der ausgerechnet von David ausgelöst wurde, zeigte Jan erbarmungslos auf, dass er auf eine intensive Begleitung angewiesen war. Dieser Panikanfall machte ihm unheimliche Angst.