Warm eingepackt saß Jan auf der Terrasse seiner Eltern, vor sich einen heißen Tee.
Dem Grunde nach war er in den letzten drei Tagen kaum allein gewesen.
Daher genoss er diese paar Minuten nur für sich.
Langsam hatte er sich einen Rhythmus erarbeitet.
Am Morgen nach dem Krisengespräch und auch am Morgen darauf, hatte er lange Telefonate mit Frau Dr. Jäger geführt. Für das Wochenende hatte die Ärztin ihm eine Notfallnummer an die Hand gegeben. Er hatte ihr, und auch seinen Eltern, versprechen müssen, sich nicht zu scheuen, diese zu nutzen.
Jetzt, am frühen Sonntagmorgen, war er überzeugt, dass es ohne funktionieren würde.
Ganz langsam lichtete sich der graue Nebel in ihm und nicht alles fühlte sich mehr wie in Watte gepackt an. Ein kleiner, für ihn aber bedeutsamer Lichtblick.
Nachdem er an den ersten beiden Tagen mit Hilfe von Medikamenten endlich Schlaf hatte nachholen können, hatte ihn am Samstag sein Vater vereinnahmt. Zusammen hatten sie die Werkstatt aufgeräumt, den kompletten Zaun um das Grundstück repariert und den Dachboden ausgemistet. Dreimal waren sie mit dem Anhänger zum Wertstoffhof gefahren. Als es am Nachmittag wieder geschneit hatte, war Jan mit David nach draußen gegangen und hatte mit ihm einen ersten, sehr kleinen, Schneemann gebaut. Der hielt sich jetzt in der morgendlichen Kälte noch tapfer, vermutlich würde er aber den Vormittag nicht überleben.
David selbst wirkte glücklich und zufrieden. So oft er konnte, hatte er seinem Vater und Großvater geholfen oder spielte draußen. Abends war er entsprechend müde und schlief jede Nacht durch. Nach seiner Mutter fragte er nicht. Allerdings hatte er wissen wollen, ob sie nun hier wohnten.
Für den heutigen Tag hatte Jan seinem Sohn einen gemeinsamen Ausflug versprochen. Im Tierpark gab es auch im Herbst und Winter viel zu sehen und David liebte Tiere über alles. Ganz bewusst wollte Jan den Tag heute alleine mit ihm verbringen. Er freute sich richtig auf die Zeit mit seinem Sohn und auf dessen leuchtenden Augen.
Ein alter Freund seines Vaters hatte ihm wertvolle Tipps hinsichtlich Davids Verbleib bei ihm gegeben.
Sobald er sich dazu in der Lage fühlte, musste er das ganze Thema Betreuung angehen. Das Jugendamt und Gericht mussten davon überzeugt werden, dass David bei ihm gut aufgehoben und versorgt war. Gerade wenn es in Richtung Proben und Auftritte ging. "Schritt für Schritt", hatte Frau Dr. Jäger gemahnt. Aber zumindest fühlte er wieder, dass er um den Kleinen weiterkämpfen musste. Annas Worte, der er täglich mehrfach gelesen hatte, gaben ihm Kraft. Sie hatte recht. Aufgeben war keine Option. Immerhin ging es auch um den Kleinen. Erst dann kam er selbst.
Langsam nahm er einen Schluck Tee.
Es war zwar noch bitterkalt, aber der Morgen sah vielversprechend aus, die Sonne kämpfte sich beharrlich durch die Wolken.
Drinnen war ihm zu viel Trubel gewesen. Seine Mutter war mit dem Frühstück beschäftigt und sein Vater hatte mit David gespielt.
Dann war sein Bruder aus der Einliegerwohnung hoch gekommen, da er die Brötchen holen sollte und Jan war geflüchtet.
Während er nun Martin vom Hof fahren sah, leerte er den Tee und ging dann wieder ins Haus.
Der Vater-Sohn-Tag war ein voller Erfolg.
Anschließend fielen David schon auf dem Heimweg im Auto die Augen zu.
Glücklich hielt er das Stofftier im Arm, welches er sich zum Schluss hatte aussuchen dürfen. Fast ohne Zögern hatte er sich für den kleinen Eisbären entschieden.
Problemlos konnte Jan ihn später ins Bett bringen. David wurde kaum richtig wach und schlief direkt wieder ein, kaum dass Jan ihn umgezogen hatte.
Mit dem Babyphone in der Hand ging Jan durch das Erdgeschoss. Seine Eltern waren noch nicht wieder von einer Essenseinladung zurück und Martin hatte unten Besuch. Er hatte gefragt, ob Jan auf ein Bier zur Runde dazu kommen wollte, aber die Freunde seines Bruders waren Jan zu viel.
Alex räumte gerade die Küche auf, während Heike die Kinder ins Bett brachte, als sein Handy klingelte.
Nanu, dachte er. Am Sonntagabend? Auf dem Display erkannte er eine Nummer, die ihm wage bekannt vorkam, die er aber nicht gespeichert hatte.
"Sander", meldete er sich und schloss die Küchentür hinter sich.
Erst hörte er nichts. Gerade, als er nachfragen wollte, kam eine Reaktion.
"Ich bin`s, Jan."
Alex zog die Luft scharf ein. Schnell warf er nochmal einen Blick auf das Display.
"Du bist bei deinen Eltern", stellte er fest. Die Vorwahl war ihm gleich so vertraut gewesen.
"Ja, ich wusste einfach nicht wohin", antwortete Jan.
"Sag` mir beim nächsten Mal einfach nur Bescheid. Das war einfach eine blöde Situation", antwortete er ruhig.
"Wie lange wirst du bleiben?" Zwischenzeitlich hatte es sich Alex am Küchentisch bequem gemacht.
"Ich weiß es noch nicht. David fühlt sich hier wohl und ist so unbeschwert.", antwortete er ausweichend.
"Okay, ich bin jetzt mal nicht mehr Alex, der Manager, sondern einfach Alex, dein Freund", schlug Alex ihm lächelnd vor. Er spürte, dass Jan zögerte, aber dass ein kleiner Spalt des Schneckenhäuschens gerade offen stand. "Wie geht es dir?", fragte er daher vorsichtig nach. Erst nach einer längeren Pause antwortete Jan.
"Es ging mir richtig mies, Alex. Seit heute glaube ich aber, dass ich es wieder hinbekomme." Alex atmetet erleichtert auf. Gott sei Dank, dachte er. Endlich würde es wieder vorwärts gehen. Auch er hatte sich so seine Gedanken gemacht in den letzten Tagen.
"Du solltest wissen, dass ich sehr lange Gespräche mit Dr. Jäger geführt habe. Entschuldige bitte, dass ich mich zu Anfang so unmöglich diesbezüglich verhalten habe. Du hattest absolut recht, ich hätte schon früher auf sie zugehen sollen." Nun war Alex ehrlich überrascht.
"Woher der Sinneswandel?", fragte er nach. Er hörte, wie Jan schluckte.
"Ich stand hier völlig neben mir, meine Eltern haben letztendlich darauf bestanden. Sie sind einfach großartig, du kennst sie ja."
Dann schwieg er wieder. Alex sah die beiden vor seinem geistigen Auge vor sich. Ja, um seine Eltern hatte er Jan immer beneidet. Zum einen, weil sie immer zusammen standen und zum anderen, weil sie immer eine Lösung fanden. Egal für was. Und sie waren immer fair gewesen. Hart, aber fair. "Das klingt, als wärst du auf dem richtigen Weg. Ruh` dich aus und nimm Dir Zeit dafür. Es war alles ziemlich viel, glaub` nicht, dass ich das nicht verstehen kann."
Sie sprachen dann noch kurz über die Konzertreise, dann verabschiedeten sie sich. Zum ersten Mal seit Wochen hatte Alex hinsichtlich Jan ein gutes Gefühl.
Überrascht sah Jule auf das Display ihres Handys. Sie und Tom waren gerade auf dem Heimweg von einem Abendessen. Eine Nachricht von Jan, endlich.
"Was schreibt er denn?", fragte Tom und sah seine Frau an. Die hatte versucht, sich in den letzten Tagen nicht allzu sehr verrückt zu machen. Obwohl sie immer wieder ein ungutes Gefühl gehabt hatte.
"Liebe Jule. Verzeih bitte, ich brauchte ein paar Tage nur für mich und den Kleinen. Ich bin noch ein paar Tage bei meinen Eltern. Mache dir bitte keine Sorgen, es wird. Hab dich lieb, Grüße an Tom. Jan", las sie vor.
Tom lächelte sie an.
"Na siehst du", meinte er und legte eine Hand auf ihren Oberschenkel. Sie packte ihr Handy zurück in die Handtasche. Ja, sie war erleichtert. Einige Tage hatte sie sich ernsthaft Sorgen gemacht. Auf der anderen Seite würde sie ihm gerne sagen, wie unmöglich sie seine Aktion fand. Nachdenklich sah Tom sie an.
"Hey, Jule. Freu dich, es scheint ihm gut zu gehen, seine Manieren sind ihm wieder eingefallen und alles andere klärt ihr, wenn er wieder in der Stadt ist. Hier wird jetzt kein Trübsal geblasen." Sie nickte langsam. Natürlich hatte Tom recht, wie so oft. Dankbar griff sie nach der Hand, die ihm noch auf ihrem Oberschenkel ruhte.
"Du bist einfach der Beste!"
Und auch Isabelle sah fast ungläubig auf ihr Handy. Vor zehn Minuten war die Nachricht angekommen und sie hatte sie noch immer nicht geöffnet. Schon sein Name auf dem Bildschirm hatte sie in Unruhe versetzt. In den letzten Tagen hatte sie immer wieder Angst gehabt, dass man ihr von einem Unfall berichten würde. Dass ihm irgendetwas Schlimmes passiert war. Dass er nie wieder kommen würde. Dass er sich was angetan haben könnte. Denn sein Schweigen musste doch einen Grund haben. Du spinnst schon, dachte sie bei sich. Du öffnest jetzt diese Nachricht und dann kannst du dir immer noch überlegen, wie du damit umgehst, sprach sie sich Mut zu. Schließlich klickte sie die passende App an.
"Liebste Isabelle. Bitte sei mir nicht böse. Ich bin zu meinen Eltern gefahren, da ich nicht mehr weiter wusste. Gerne möchte ich dir das alles erklären, wenn ich zurück bin. LG Jan."
Sie atmete tief durch und las die Nachricht noch zehnmal. Was sie davon nun aber halten solle, dass wusste sie anschließend auch nicht.
Jan brachte das Telefon zurück auf die Ladestation im Flur und schaltete sein Handy wieder aus. Die nächsten Tage wollte er sich wirklich nur auf sich und David konzentrieren.
Was dann auch gut funktionierte. Der Schnee taute wieder und es wurde insgesamt etwas wärmer. David forderte seine volle Aufmerksamkeit ein. Der Kleine schien unendliche Energiereserven zu haben und fiel erst abends todmüde ins Bett.
Jan war seinen Eltern unendlich dankbar. Mehr oder weniger unauffällig nahmen sie ihm den Jungen ab, wenn der zu anstrengend wurde oder waren da, wenn er wieder ans Zweifeln kam. Einer von beiden war immer in der Nähe und lenkte ihn mit Beschäftigung ab.
"Nicht grübeln, nicht mit dem Schicksal hadern", hatte ihm auch Dr. Jäger auf den Weg gegeben, die ihn nach seiner Rückkehr sofort sehen wollte.
Und ja, der Abschied rückte näher, Jan wollte mit dem Kleinen wieder nach Hause. Es gab so viel, was geregelt werden musste und David sollte so schnell wie möglich seinen Alltag wieder haben.
Vor seiner Abreise unterhielten sie sich lange über Isabelle. Und über Diana. Über Jans Sorge, dass alles zu früh kam, zu schnell ging. Es war sein Vater, der eine langes Plädoyer für die Liebe hielt und Jan eine Denksportaufgabe gab.
"Jan, du solltest sehr intensiv darüber nachdenken, es vielleicht mit deiner Ärztin besprechen, was das überhaupt war. Liebe jedenfalls, glaube mir, war das nicht."
Und auch eine Mahnung hielt Paul hinsichtlich Isabelle bereit:
"Du solltest dennoch bereit sein, auch etwas zu geben, Jan. Du kannst nicht nur nehmen oder dich in eine Beziehung stürzen, nur weil du da in dieser Extremsituation aufgefangen wirst. Von daher gebe ich dir recht, dass es etwas überstürzt sein könnte. Es ist aber egal, was andere darüber denken oder reden. Das sollten nicht die Beweggründe sein. Höre auf dich und rede mit ihr. Binde sie ein, schließe sie nicht aus. Bring alles auf den Tisch, anders geht es nicht."
"Danke", antwortete Jan nachdenklich. Er hielt das leere Glas in der Hand und drehte es hin und her.
"Sie hat gesagt, als es um die depressive Verstimmung ging, dass sie mich damit nicht allein lässt. Dass sie nicht zulässt, dass ich daran scheitere. Aber ich habe es einfach nicht geschafft." Er hielt in der Bewegung inne. Sah seiner Mutter in die Augen.
"Ob ich die zweite Chance bekomme?", wollte er von ihr wissen.
Also stand Jan am Mittwochvormittag vor seinem gepackten Wagen und rief nach seinem Sohn. Der kam mit Paul aus der Werkstatt, wo sie zusammen die Holzspielzeuge verstaut hatten. Seine Mutter nahm Jan in den Arm und drückte ihn.
"Du meldest dich wie versprochen bitte jeden zweiten Tag. Pass` auf dich auf und wenn irgendetwas ist, dann rufe an." Sie blinzelte eine Träne weg. Zu gerne hätte sie ihn noch ein wenig hier behalten. Gerade hatte er sich gefangen und sie wollte sichergehen, dass er den Weg weiter ging. Zu Weihnachten würden sie sich sehen und bis dahin hatte sie ihm abgerungen, sich regelmäßig zu melden.
Nun gab er ihr einen Kuss auf die Wange und drückte sie ebenfalls. David verabschiedete sich tränenreich von seinen Großeltern, dann setzte ihn Jan in seinen Kindersitz. Als sie vom Hof fuhren, winkten die beiden ihnen lange nach.
Obwohl sie relativ gut durchkamen war Jan erschöpft als sie am späten Nachmittag ihr zu Hause erreichten. Unterwegs hatte David Langeweile gehabt und dadurch sehr anstrengend gewesen. Er war heilfroh, als er mit dem Kleinen in der Wohnung war und ihn in seinem Kinderzimmer parken konnte. Ein kurzer Blick in den Kühlschrank zeigte ihm, dass er noch einkaufen musste. Erst aber packte er aus und räumte dann auf. Der Kleine spielte derweil brav in seinem Zimmer. Es tat Jan fast leid, dass er ihn aus seinem Spiel reißen musste. Und David hatte definitiv keine Lust auf den Einkauf. Er quengelte unentwegt, während Jan ihm ruhig zu erklären versuchte, dass sie nur kurz in den Supermarkt mussten. Heute zeigte ihm sein Sohn mal wieder, wo die Grenzen waren. Jan wurde schmerzlich bewusst, dass dies nun sein Alltag war. Kein Schritt ohne den Jungen. Niemand, bei dem er ihn einfach mal lassen konnte. Gleich morgen musste er dringend hierzu tätig werden.
David lief gelangweilt mit ihm durch die Gänge und versuchte immer wieder, Dinge in den Wagen zu schummeln. Geduldig räumte Jan die Sachen zurück. Erst an der Kasse wurde es unbequem. Warum man Kinder ausgerechnet dort den verschiedensten Verlockungen aussetzte, blieb Jan ein Rätsel. David schmollte schließlich, weil sein Vater ihm das Schokoladenei wegnahm, welches er gerade auf Augenhöhe entdeckt hatte. Freundlich lächelte ihn die ältere Kassiererin an, als er ihr seine EC-Karte reichte.
"Ach Papa", maulte David neben ihm.
"Nein habe ich gesagt. Zu Hause haben wir noch Süßigkeiten und wenn du brav bist, dann gibt es vielleicht nach dem Abendbrot noch was." Genervt tippe Jan seine Pin ein.
"Du bist blöd", kommentierte David und die Kassiererin musste schmunzeln. Sie reicht Jan den Kassenzettel und wünschte ihm einen schönen Abend. Beleidigt trottet David neben seinem Vater Richtung Ausgang. Energisch griff Jan nach seiner Hand, als sie den Parkplatz erreichten.
Da David sich erst zierte, war er kurz abgelenkt und stieß mit seinem Einkaufswagen gegen einen anderen.
"Können Sie nicht aufpassen?", beschwerte sich eine bekannte Stimme.
"Jan!", rief sie dann erstaunt. David riss sich von Jans Hand los.
"Isa!", rief er begeistert. Erschrocken sah Jan sie an. Darauf war er nicht vorbereitet. Unwillkürlich machte er einen Schritt zurück und wich ihr versehentlich aus.
"Du bist also zurück?", fragte sie und begrüßte David herzlich. Er nickt nur. David dagegen plapperte wild darauf los und wollte ihr alles von dem Aufenthalt erzählen. Sie lachte und fuhr dem Jungen durchs Haar, dabei sah sie Jan mit einem herzlichen Blick an.
"Langsam, David. Da komme ich ja gar nicht mit", meinte sie immer noch lachend.
Jan nahm die Tüte aus dem Einkaufswagen und schob diesen in den vorgesehenen Ständer.
"Er kommt ab morgen wieder in die Kita", informierte er sie. Gleichzeitig schimpfte er innerlich mit sich. Was erzählte er denn nur für Blödsinn? Es gab doch so viel wichtigeres und Isabelle sah ihn auch äußerst erwartungsvoll an. Sein Mund war auf einmal ganz trocken. Warum bekam er das jetzt nicht hin? Auch Isabelle schob ihren Wagen zurück und nahm ihre Einkäufe heraus.
"Das ist schön, er hat gefehlt", antwortete sie. "Du auch", ergänzte sie etwas leiser.
"Magst du vielleicht nachher, also später….", fing Jan stotternd an. Einen kurzen Moment wich sie seinem Blick aus. Jan rutschte das Herz in die Hose, während er die Kinderhand spürte, die sich in seine schob.
"Ich mag, Jan", sagte Isabelle sanft und Jan fuhr beinahe zusammen. Sie sah ihn an und nickte ihm beruhigend zu.
"Gib mir eine Stunde", bat sie.
Jetzt raste sein Herz. Vor Aufregung. Und vor Erleichterung.