„Hast du auch die Geschichten über den Wald gehört?“
„Welche Geschichten meinst du?“
„Naja, Geschichten gruseliger Art eben.“
Ben seufzte. Tom war nie der Mutigste von ihnen gewesen, aber manchmal war es schwer mit seinem Bruder. Er schaute eindeutig zu viele dieser Horrorgeschichten im Netz.
„Was soll denn dieses Mal auftreten?“, fragte Ben mit einem leicht sarkastischem Unterton. „Dämonen? Drachen? Vampire?“
„Quatsch“, wehrte Tom sofort ab und verzog missmutig das Gesicht. „Aber ich habe gehört, dass hier Wölfe sind, die bei-“
„Ah-Ah“, unterbrach Ben ihn harsch. „Jetzt komm mit nicht mit Geschichten von Werwölfen.“ Er schüttelte den Kopf und seufzte. „Woher hast du denn diesen Quatsch überhaupt?“
„YouTube.“
„Aha, das erklärt es natürlich.“
„Und wenn es wahr ist?“, fragte Tom mit verschwörerischer Stimme nach kurzem Schweigen.
Langsam wurde es Ben zu bunt, aber er versuchte sich zusammenzureißen. „Meinst du nicht, dass wenn diese Geschichten wahr wären, sie schon mal jemand in den Nachrichten gebracht hätte? Mit richtigen Beweisen?“
„Vielleicht“, gab Tom kleinlaut zu. „Aber man kann nie vorsichtig genug sein!“
„Denk lieber daran, weshalb wir eigentlich hier sind. Du willst doch noch die Geschichte schreiben?“
„Natürlich will ich das!“
„Gut, dann holt man die Karte heraus. Sieht aus, als ob der Pfad sich dort teilen würde.“
Den ganzen Tag liefen die beiden schon den ausgetrampelten Pfad entlang, der sie tief in den Wald hinein führte. Die Sonne versank langsam hinter den dickten Baumkronen und tauchte den Wald in einen dunkles Rot, welches von Brauntönen durchzogen war. Es war zu bezweifeln, dass sie ihr Ziel noch vor Einbruch der Nacht erreichen würden.
Ben legte seinen Rucksack an eine große Eiche und ließ sich am Baumstamm zu Boden sacken. „Ich brauche sowieso erst mal eine Pause.“
Tom hatte derweil die Karte aus seinem Rucksack geangelt, die sie sich aus dem Internet heruntergeladen hatten. Er breitete sie vor Ben und sich aus und folgte mit dem Finger einer eingezeichneten Linie.
„Wie es aussieht, müssen wir dem Pfad links weiter folgen. Wenn wir uns rechts halten, gelangen wir zu einer Höhle.“
„Denk gar nicht erst dran!“, mahnte Ben seinen Bruder, als er das Glitzern in den Augen seines Bruders wahrnahm. „Wir sind hier um den Eremiten zu finden, nicht um auf Abenteuerjagd zu gehen.“
„Und wenn in der Höhle Schätze versteckt sind?“
„Die hätte man schon längst gefunden, Bruderherz.“ Er tippte mit dem Finger auf das eingezeichnete Kreuz. „Wir wollen den Eremiten besuchen, damit er uns etwas über sein Leben erzählt. Ich möchte schon gerne die Geschichte so detailgetreu wie möglich halten. Und für eine Höhlentour sind wir gar nicht ausgerüstet. Und vor allem wissen wir mit Sicherheit, dass der Eremit auch hier im Wald lebt.“
Ben wollte gerade die Nachrichten als Beweis wieder anschieben, in denen sie den Bericht über den Eremiten gesehen hatten, als sein Bruder ihn plötzlich an der Schulter packte und ihn mit einem erschrockenem Ausdruck in den haselnussbraunen Augen ansah.
„Und wenn der Eremit in Wirklichkeit ein Werwolf ist?“, fragte Tom ganz leise, als ob er mit den Worten ein Unheil heraufbeschwören könnte.
Ben beschloss ruhig zu bleiben. Es würde eh nichts bringen, jetzt dagegen an zu reden. Sein Bruder hatte sich die Idee selbst in den Kopf gesetzt, und da würde sie wohl auch bleiben.
„Das werden wir wohl herausfinden, sobald wir bei ihm sind, oder?“
„Vielleicht hätten wir uns vorher anmelden sollen, meinst du nicht? Ich meine, wenn er wirklich der Werwolf ist, und wir ihn bei irgendwas stören zufällig ...“ Tom ließ den Satz unvollendet.
„Bei was denn stören?“. Ben zog fragend eine Augenbraue hoch.
„Bei Werwolfdingen halt. Was auch immer Werwölfe machen, wenn kein Vollmond ist.“
Ben schüttelte seufzend den Kopf, wie er es schon so oft bei den Fantasien seines Bruders getan hatte. Er stand auf und schnappte sich seinen Rucksack. „Na komm, lass uns weiter. Je eher wir den Eremiten finden, desto eher können wir uns davon überzeugen, ob er nun der Werwolf ist oder du einfach nur mal wieder übertreibst.“
„Ich habe noch nie übertrieben!“, protestierte Tom.
„Ach ja? Sag das mal dem Dämonenfuchs, den du am See gesehen haben willst.“
„Da war wirklich einer, mit Augen so rot wie Blut!“
„Schon gut, schon gut.“ Jetzt musste Ben lachen. Er konnte nicht abstreiten, dass er die Fantasien seines Bruder nicht manchmal auch belustigend fand. „Lass uns weitergehen. Ich würde unser Ziel gerne noch vor Einbruch der Nacht erreichen. Du weißt, ich zelte nicht gerne.“
„Hier sowieso nicht, wenn die Werwölfe sich hier herumtreiben.“
Und zusammen folgten sie dem Pfad weiter, der sie immer tiefer in den Wald hineinführte.
Während die Sonne unterging, zeigten sich auf der anderen Seite des Firmaments bereits die ersten Ausläufer des Mondes. In dieser Nacht würde der Vollmond klar am Himmel stehen.