Echo
„Lasst mich frei! Bitte, ich flehe euch an! Das ist alles nur ein schrecklicher Irrtum! Ich bin kein Ketzer! Bitte, so glaubt mir doch!“
Tiber rüttelte an den Gitterstäben, während das Echo seines Rufes durch den leeren Flur des Kerkers hallte.
„Hallo? Hört mich denn niemand?!“ Seine Stimme zitterte, und er spürte schreckliche Angst durch seinen Körper kriechen. Doch wieder war einzig und allen sein Echo die Antwort, die er bekam. Das darf alles nicht wahr sein. Bitte Herrgott, hilf mir!
Er rüttelte an der mit Eisen verstärkten Tür aus schwerem Eichenholz, doch sie rührte sich kein bisschen, einzig das Vorhängeschloss klapperte leise.
Resigniert ließ Tiber von der Tür ab und sank an der kalten, feuchten Steinmauer auf der anderen Seite der Zelle herab. Bitte, Herr. Bitte hilf mir! Ich bin zu Unrecht hier eingesperrt!
Immer wieder sandte er Stoßgebete in Richtung Himmel, in der Hoffnung, der Herr würde ihm ein Zeichen geben, dass er ihn erhört hatte. Aber es tat sich nichts. Nur das leise tropfen von Regenwasser auf kalten Stein außerhalb der Zelle war zu hören. Dabei tropfte es ihm auch durch das kleine Gitterfenster auf den Kopf, durch das gewährleistet wurde, dass auch genügend Luft in die Zelle kam.
Ein kalter Windstoß zog durch die Zelle und ließ Tiber erschaudern. Er zog sich in die Ecke zurück und zog die Knie an seine Brust heran.
Ich bin kein Ketzer. Ich bin kein Ketzer!
Tiber war immer ein frommer Mann gewesen. Er ging regelmäßig mit seiner Familie in die Kirche, vermied jede Sünde und verpasste keinen Gottesdienst. Er spendete sogar regelmäßig etwas, auch wenn das Geld knapp war und seine Frau und Kinder auch Essen und Kleidung, sowie das Dach über dem Kopf brauchten. Wenn er nicht in der Kirche oder bei seiner Familie war, dann arbeitete er hart und ehrlich in einer Schneiderei. Und er verließ sich immer darauf, dass Gott ihm Kraft schenkte und gnädig mit ihm war.
Doch dann kamen plötzlich diese Leute. Diese Ketzer. Sie verbreiteten einen falschen Glauben und versuchten, die ehrlichen Menschen vom Pfad des Gerechten mit Lügen und falschen Versprechen abzubringen.
Tiber ballte bei dem Gedanken an diese Menschen die Fäuste. Die sollten jetzt hier sitzen, nicht ich! Ich habe nichts Unrechtes getan! Erst heute Morgen habe ich doch wieder zur dir gesprochen, Herr.
Er rief sich noch einmal das Gebet in Erinnerung, doch in dieser Zelle fühlte es sich an wie ein fernes Echo einer vergangenen Zeit. Diese Zelle war ein gottverlassener Ort.
Ich darf nicht wanken!, schallte er sich selbst und versuchte es noch einmal.
Auch am frühen Morgen hatten die Ketzer wieder auf dem Marktplatz gestanden und ihre Lügen verbreitet. Und er trauerte um jede Seele, die gewillt war, sich diese Lügen anzuhören. Sie waren bereits vom Pfad abgekommen, und dieser Gedanke betrübte ihn.
Doch dann brach hinter ihnen allen plötzlich ein Aufruhr aus, als die Soldaten der spanischen Inquisition den Markt stürmten. Sie wollten die Ketzer ergreifen, doch diese setzten sich mit ihren Waffen zur Wehr. So kam es zu einem großen Tumult. Tiber hatte sogar Menschen sterben sehen, das erste Mal in seinem Leben. Er hatte schon Verwandte und Freunde verloren, meist an die Grippe, doch nie hatte er wirklich jemanden sterben sehen. Und in Kämpfe war er auch nie verwickelt gewesen.
Also hatte er sich hinter einem Obststand versteckt, in der Hoffnung, dass dieser Alptraum bald enden würde.
Doch dann zerbarst der Stand über seinem Kopf. Einer der Ketzer war auf ihn gestürzt und hatte ihn umgerissen. Gerade noch hatte Tiber in die kalten, leblosen Augen des Ketzers gestarrt, da wurde er plötzlich von einem der Soldaten hart an den Armen gepackt und auf die Beine gezogen.
„Haben wir dich endlich, Hanlar!“, rief der Anführer der Soldaten. Er drehte das Pergament in seiner Hand, und Tiber erschrak, als er das Gesicht des Gesuchten darauf sah. Es war seines! Aber der Name stimmte nicht.
„I-ich bin nicht dieser Hanlar!“, versuchte Tiber den Soldaten mit angsterfüllter Stimme zu erklären. „Das ist ein Irrtum! Mein Name ist Tiber, und ich...“
Weiter kam er nicht, als die gepanzerte Faust des Soldaten Tiber ins Gesicht traf. „Hanlar, Anführer der Häretiker, die aus dem Osten kamen. Du bist hiermit festgenommen und wirst dich wegen Häresie vor dem Suprema verantworten!“
Gotteslästerung! Die werden mich zum Tode verurteilen.
Angst und Verzweiflung durchfluteten seine Gedanken, als er sich schon vor dem hohen Rat der Inquisition stehen sah, einem Verhör gleich einer Folter ausgesetzt.
Tiber ging auf die Knie und faltete die Hände. Erneut schickte er ein Gebet an Gott. Was du auch für ein Schicksal für mich vorgesehen hast, ich werde nicht wanken, oh Herr.
„Tiber?“
Tiber horchte auf, als er die leiste Stimme draußen in der Gasse vor der Zelle hörte. Der Regen war so laut, dass er sie beinahe überhört hätte.
„Tiber? Bist du hier?“
Er kannte die Stimmte, aber er vermochte sie nicht einzuordnen, dafür war sie zu leise.
Hoffnung keimte plötzlich in ihm auf. Er raffte sich auf und stellte sich auf Zehenspitzen an das Gitterfenster. „Hier! Hier bin ich!“
Eine schlanke Gestalt, gehüllt in einen dicken, vom Regen durchnässten Umhang kam in Sicht und hockte sich vor das Fenster.
„Oh Tiber, mein Schatz“, flüsterte die Gestalt und schlug die Kapuze zurück. Darunter kam das Antlitz seiner Frau zum Vorschein.
„Lucia!“, entfuhr es Tiber, und sein Herz setzte einen Schlag aus. „Liebste, was tust du hier? Wenn die Inquisition dich hier findet!“
„Ganz ruhig, Tiber. Ich habe gehört, was auf dem Markt passiert ist, und dass du vor den Suprema gestellt wirst. Ich habe mich als Zeugin gemeldet. Ich werde beweisen, dass du Tiber bist, und nicht der Anführer dieser Häretiker. Und ich werde nicht alleine sein.“
„Wer kommt noch alles?“ Tiber spürte seinen Körper vor Aufregung zittern. Hast du sie mir geschickt, mein Herr?
„Das wirst du dann sehen. Es wird alles gut, das verspreche ich. Ich liebe dich, Tiber.“
Sie streckte eine Hand durch das schmale Gitter. Tiber ergriff und küsste sie. „Ich dich auch, Lucia.“ Seine Stimme brach beinahe, er spürte heiße Tränen seine Wangen herunterlaufen, und auch Lucia konnte ihre Tränen nicht zurückhalten.
Einen Augenblick lang verharrten die beiden Hand in Hand, dann streifte Lucia sich die Kapuze wieder über und stand auf.
„Ich muss jetzt fort. Die Kinder warten zuhause. Wir sehen uns morgen vor dem Suprema.“
„Pass auf dich auf!“, rief er ihr hinterher, doch sie war bereits wieder in der Gasse verschwunden.
Er warf sich wieder auf die Knie und faltete erneut die Hände. Ich danke dir, oh Herr! Ich war mir sicher, du wirst mir beistehen!
Durch den Gang, durch den vorher nur Tiber's verzweifelte Hilferufe hallten, hallte nun ein glückliches Lachen.