Zaya stand auf der Anhöhe am Rande eines kleinen Waldes, verdeckt von kleinen Sträuchern und den Ausläufern den Waldes, und blickte auf die große Stadt im Tal zu ihren Füßen hinab. Ihre Gedanken schweiften in ihrer Vergangenheit, während sie mit der einen Hand ihren schwarzen Hut mit breiter Krempe festhielt, damit dieser nicht vom Wind davon geweht wurde. Ihr Mantel, gefertigt aus Rabenfedern, wehte leise im Wind. Mit der anderen Hand rammte sie das Ende ihrer mit Magie beseelten Sense in den Boden.
Beinahe ihr ganzes Leben hatte sie in dieser Stadt verbracht. Ihr Blick schweifte zum Ostbezirk, wo der Marktplatz lag. Dort hatte sie früher als junges Mädchen frisches Obst verkauft, welches ihre Eltern außerhalb der Stadtmauern angebaut hatten. Etwas weiter, im Westbezirk, lag ihre Schule, in der sie im Laufe der Jahre einige Freunde gefunden hatte, die ihr später beim Verkauf des Obstes geholfen hatten. Sie lächelte schwach, als sie an diese Zeit zurück dachte. Daran, dass nichts die Freunde hatte trennen können. Sie standen füreinander ein, und wenn jemand bei einem Streich erwischt wurde, nahmen sie die Schuld auf sich alle. Doch dann musste der Tag kommen, an dem sich alles verändert hatte. Zaya‘s Lächeln verschwand, als sie an den Tag zurückdachte, an dem die Magie in ihr erwachte. Ihr Blick richtete sich auf die Stadtmitte, und auf den Turm des Magierzirkels, der finster und spitz wie ein Dorn in den Himmel hervorstach.
Die Magier hatten es natürlich sofort wahrgenommen und ihre Eltern aufgesucht. Diese waren erschrocken darüber, dass ausgerechnet ihre Tochter magische Kräfte haben sollte. Doch sie konnten sich nicht gegen die Magier wehren. Niemand konnte sich gegen Magier wehren, solange er nicht selbst magische Kräfte besaß. Also mussten sie zusehen, wie ihre Tochter mitgenommen und zum Zirkel gebracht wurde.
Zaya wurde nicht behandelt wie die anderen Kinder, deren magischen Kräfte sich zeigten. Sie spürte, dass etwas die Magier verunsicherte, vielleicht sogar ängstigte. Zu dem Zeitpunkt wusste sie nicht, was diesen erfahrenen und ausgebildeten Magiern so viel Kopfzerbrechen bereitete. Sie hörte, man habe bei ihr eine Anomalie festgestellt. Nur was sollte das bedeuten?
Über lange Zeit hinweg hielten die Magier Zaya von den anderen Schülern fern. Man isolierte sie soweit es ging, brachte ihr sogar Essen in ihr Zimmer und versorgte sie. Somit hatte sie keinen Grund, ihre Gemächer zu verlassen.
Das Schlimmste aber waren die Experimente, die man an ihr durchführte. Man zog ihr Magie aus dem Körper, auf eine unvorstellbar schmerzhafte Art und Weise, dass Zaya dachte, sie würde sterben. Wie oft war sie kurz davor gewesen, ihren Verstand zu verlieren?
Doch auch die Ergebnisse dieser Versuche, oder wie Zaya sie nannte, Folter, beruhigten die Magier nicht. Sie fanden heraus, dass das junge Mädchen zwei Arten von Magie in sich trug. Sie trug schwarze Magie in sich, und eine Magie unbekannter Art.
Derart in Unruhe versetzt, verdoppelten die Magier die Intensität ihrer persönlichen Folter.
Grimmig Blickte sie auf ihre Hand hinab und ballte sie zur Faust. Während all dieser Versuche hatte ihre Haut begonnen, sich schwarz zu verfärben, und nur ihre violetten Augen stachen aus dieser erschaffenen Dunkelheit hervor.
Wie sich herausstellte, befähigte diese unbekannte Art der Magie Zaya dazu, eine beliebige andere Farbe der Magie anzunehmen und diese jederzeit zu wechseln.
Doch auch Zaya wurde während dieser Zeit stärker. Einer der Magier, der sie versorgen sollte zwischen den Phasen der Versuche, schien aus irgendeinem Grund Mitleid mit ihr zu haben. Sie machte sich den Umstand zunutze und ließ sich von ihm die Schulbücher der anderen Schüler bringen, die ihr eigentlich verboten waren. Sie studierte die Magie im Geheimen, denn niemand aus dem Zirkel wollte oder durfte sie unterrichten. Zu Groß sei die Gefahr, die von ihr ausgehen würde, so sagte es jedenfalls der Magier.
Sie schnaufte kurz, als sie daran dachte. Man hatte ihr niemals die Chance gegeben, sich zu beweisen. Zu zeigen, dass sie nicht gefährlich war. Im Gegenteil, auch sie hatte Angst. Man ließ sie als junges Mädchen ohne Erfahrung im Unklaren über ihr Schicksal, spielte mit ihr, als sei sie nur ein Versuchskaninchen und versuchte ihr die Magie zu entziehen.
Dann kam der Tag, auf den sie sich lange vorbereitet hatte. Ihr Lächeln kehrte wieder zurück, als sie daran dachte.
Die Magier holten sie morgens aus ihrem Zimmer, dieses Mal ohne Essen oder Trinken. Sie brachten Zaya wie gewohnt in die Versuchskammer und wollten sie gerade an eine Maschine anschließen, als sie sich losriss und mit Hilfe ihrer schwarzen Magie die beiden Magier außer Gefecht setzte. Sicherlich hätte sie sie auch töten können, doch sie wollte einfach nur fliehen, einfach Frieden finden und nichts mehr mit den Magiern zu tun haben, die sie so lange schon gefangen hielten. Sie rannte durch die Hallen des Turmes auf der Suche nach dem Ausgang, während die Lehrer und Studenten des Zirkels in Aufruhr gerieten. „Die Schwarze Hexe“ sei auf der Flucht, hieß es, und jeder versuchte sie aufzuhalten. Bis auf den einen Magier, der aus noch immer für sie unergründlichen Empfinden seine Unterstützung anbot und sie mit seinem Leben beschützte.
An diesem Tag hatte sie eine Sache ganz sicher gelernt: Mitleid bringt den Tod. Schließlich gelang ihr die Flucht aus dem Turm. Erschöpft und fast kraftlos rannte sie um ihr Leben, durch die Straßen ihrer Heimat. Die Heimat, die sie verstoßen hatte. Überall war die „Schwarze Hexe“ bekannt und gefürchtet.
Sie rannte in die Richtung, in der die Farm ihrer Eltern lag, voller Hoffnung darauf, ihre Mutter und ihren Vater wiederzusehen. Doch als sie dort ankam, sah sie mit Entsetzen die niedergebrannten Ruinen ihres damaligen Zuhauses. Bis heute hatte sie die Bilder nicht aus ihrer Erinnerung löschen können, noch immer verfolgten sie sie in ihren Träumen und bereiteten ihr schlaflose Nächte. Doch heute zog sie aus diesem Schmerz und Verlust ihre Kraft.
Erschüttert und beinahe am Ende ihrer Kräfte floh sie in den Wald. Sie rannte und rannte, verlor völlig das Gefühl für die Zeit, bis sie schließlich erschöpft zusammenbrach.
Als nächstes wusste sie nur noch, dass sie in einer eigenartigen Höhle ihr Bewusstsein wiedererlangte.
Ihr fuhr der Schreck durch die Glieder. Egal, was die Magier ihr angetan hatten, sie wusste, wie gefährlich die Ausgetoßenen für sie waren. Doch sie war keine Gefangene. Man hatte ihr Wasser und Essen bereitgestellt, welches sie verschlang, als sie ihren beißenden Hunger bemerkte. So ging es weiter, und sie konnte sich später auch nicht entsinnen, wie viel Zeit vergangen war, bis sie schließlich zur Anführerin der Ausgestoßenen gebracht wurde. Mittlerweile hatte sie keine Angst mehr, sie hatte verstanden, dass die Ausgestoßenen sie nicht als Feindin betrachteten. Die Königin erzählte ihr anschließend, was nach ihrer Flucht passiert war.
Die Magier hätten sie bis tief in den Wald verfolgt. Man hat davon gesprochen, sie unter allen Umständen aufzuhalten zu müssen. Zaya wusste natürlich, dass das auch ihren Tod hätte bedeuten können.
Nach einigen Wochen wurde sie erneut zur Königin gebracht. Mittlerweile hatte sie sich wieder erholt, und der Hass auf die Magier blieb entfacht.
Bereitwillig ging sie auf das Angebot ein, welches ihr unterbreitet wurde. Die Ausgestoßennen würden einen Vorstoß in die Stadt wagen, jedoch mit ihrer Hilfe. Zaya würde ihre Rache bekommen und so dem Namen der „schwarzen Hexe“ Ehre bereiten.
Zaya zog ihren Hexenhut tiefer in ihr Gesicht und griff an ihre Sense. Sie versank in voller Konzentration, der Wind wurde stärker und in der Luft breitete sich eine Art Knistern aus. Die Schneide der Sense glühte in einem starken Rot, als ein Bannkreis sich unter den Wolken bildete und Feuer auf die Stadt regnen ließ.
Als der Turm des Magierzirkels in Flammen stand, und laute, panische Schreie aus der Ferne an ihr Ohr drangen, wandte Zaya sich von der Stadt ab. Sie lief den Pfad entlang, auf dem sie gekommen war. Es wurde Zeit, der Königin zu berichten, dass der Auftrag erledigt war. Der Vorstoß konnte beginnen.