Darius' Puls raste. Vorsichtig griff er an das Seil der Hängebrücke, als seine Beine schwach wurden. Er hatte sich auf dieses Treffen vorbereitet, aber trotzdem erwischte es ihn kalt.
Sein Blick ging nach links, zum großen Wasserfall, der dem Nimmergebirge entsprang. Aus diesem entstand der Ashkalfluss, der unter seinen Füßen durch die Schlucht floss.
Sein Blick folgte dem Verlauf des Flusses ins große Tal. In der Ferne, umgeben von einem umfassenden Wald, strahlte Renneberg, die Hauptstadt des Reiches, mit ihren sechs hohen Türmen. In denen tagte der Rat, um zu besprechen, wie man dem Sitriuskult ein für allemal Einhalt gebieten wollte.
Der Kult war eine uralte Bedrohung für das Reich. Die Mitglieder, meist verlorene Seelen, die kein Ziel mehr in ihrem Leben hatten und dadurch leicht zu beeinflussen waren, wollten den Kaiser stürzen. Sie glaubten, die kaiserliche Blutlinie wäre dafür verantwortlich, dass ihre falsche Gottheit nicht auf die Erde zurückkehren konnte, und dass die Blutlinie deshalb ausgelöscht werden musste.
Doch was sein Herz wirklich gefrieren ließ war die Person, die auf der anderen Seite der Brücke stand.
Der Mann war hochgewachsen und nur etwas schmächtiger als Darius selbst. Er trug eine schwarze Kutte mit silbernen Stickereien, die Kapuze war tief in sein Gesicht gezogen.
Doch Darius wusste ganz genau, wer ihm da mit bereits gezogenem Schwert in der Hand gegenüberstand.
„Es muss nicht so enden, Bruder!“, rief die in schwarz gekleidete Gestalt ihm zu. „Lass mich einfach vorbei!“
„Das kann ich nicht, Damian, und das weißt du auch!“
Es tat ihm weh, seinem eigenen Bruder so gegenüberstehen zu müssen. Dreißig Jahre hatten sie zusammen verbracht, waren zusammen in der Hauptstadt bei ihre Pflegeeltern aufgewachsen. Sie hatten jeden Schabernack zusammen gemacht, und schließlich waren sie der Stadtmiliz beigetreten.
Doch eines Tages war Damian plötzlich verschwunden. Darius hatte die gesamte Stadt abgesucht, war selbst außerhalb der schützenden Stadtmauern Tag und Nacht unterwegs gewesen. Doch alles ohne Erfolg, sein Bruder blieb verschwunden.
Es hatte ihm das Herz gebrochen, als er von einem der Soldaten erfuhr, dass man seinen Bruder eines Tages in den Bergen gesichtet hatte, begleitet von einigen Anhängern des Sitriuskultes. Trotzdem wollte er nicht glauben, dass Damian, sein geliebter Bruder, sich diesen Fanatikern angeschlossen hatte. Er war der Überzeugung, dass es sich um einen Irrtum handeln musste, oder um einen geheimen Auftrag, von dem selbst er nichts wissen durfte. Doch über die Zeit hinweg merkte er, dass er sich selbst etwas vormachte.
Damian hob seinen Arm, die Schwertspitze zeigte direkt auf Darius.
„Ich werde keine Rücksicht auf dich nehmen! Ich habe einen Auftrag, und den werde ich erfüllen!“
„Bruder, komm wieder zu Verstand! Bitte!“
Darius hörte seine eigene Verzweiflung aus ihm sprechen. Er wollte nicht gegen seinen Bruder kämpfen, schon gar nicht wollte er ihn verletzen. Aber er musste seinen Kaiser und das Land schützen.
„Versuch es gar nicht erst, Darius! Der Kult hatte von Anfang an Recht! Nur wenn Sitrius wieder unter uns weilt wird die Welt wahren Frieden erfahren!“
„Sie haben dich geblendet mit ihren falschen Versprechen, Bruder! Sitrius wird der Welt den Untergang bringen! Und du bist dabei, ihm Tür und Tor zu öffnen!“
„Du bist der, der verblendet ist! Du glaubst den Lügen des Kaisers und des Rates! Du dienst ihnen wie ein treuer Hund! Denk nach, Darius! Durchschaue ihre Lügen, denn du weißt, dass ich Recht habe! Sie haben nur Angst vor der wahren Macht, und davor, ihren Reichtum zu verlieren! Die Menschen und das Land sind ihnen vollkommen egal!“ Damians Stimme überschlug sich immer mehr. „Sie wollen nur für ihr eigenes Wohl sorgen, und dafür brauchen sie Diener wie dich! Diener, die keine ihrer Taten und Befehle in Frage stellen! Ich habe ihr Treiben durchschaut, und ich bin es auch, der ihnen Einhalt gebieten wird!“
„Dann bist du verloren! Du bist zu dem geworden, was du geschworen hattest zu vernichten!“
Darius‘ Verzweiflung wuchs, Tränen stiegen ihm in die Augen und ein Kloß machte sich in seinem Hals breit. Er wusste, dass das Unvermeidbare jetzt passieren würde.
Darius richtete sich auf, obwohl er sich innerlich zerbrochen fühlte, und zog sein Schwert.
„Ich kann dich nicht vorbei lassen, Bruder!, sprach er mit zittriger Stimme weiter. „Ich werde das Reich vor dem Kult verteidigen, bis zum Ende! Also muss ich es auch vor dir schützen!“
„Dann soll es so sein, Bruder!“ Damian betonte das letzte Wort, als wäre es eine Krankheit.
Darius war nun vollkommen sicher. Sein Bruder hatte alle seine Verbindungen zu ihm und seiner Heimat getrennt. War verblendet durch falsche Versprechen einer falschen Gottheit und eines Kultes von Irren und Fehlgeleiteten. Und er war nicht mehr zu retten.
Und so begann der Kampf, in dem Bruder gegen Bruder um Leben und Tod kämpften.