CN: Kindstod, Gewalt gegen Kinder
"Eigentlich müsste sie tot sein."
Das ist der schlimmste Satz, den man sich als Vater nur vorstellen kann. Und wenn man den aus dem meist nicht gerade einfühlsamen Mund eines Kollegen im Krankenhaus hört, dann wird er um so schlimmer. Die restlichen Worte verwandelten sich ab da in ein unverständliches Kauderwelsch, das keinen Sinn mehr in meinem Gehirn ergab.
Sie hatten mich aus einer Vorlesung geholt und in der Uniklinik zu meinem ehemaligen Professor geführt, der Leiter der Klinik war. Ein anderer hätte wohl mit einem aus den unteren Rängen vorlieb nehmen müssen. Aber ob ich es von einem meiner untergebenen Ärzte nicht als sehr schlechten Scherz aufgenommen hätten, das Risiko wollten sie nicht eingehen.
So war es an ihm gewesen, mir schonend, aber mit klaren Worten beizubringen, dass meine Frau einen Unfall hatte und dass nun alle hier in der Klinik waren. Meine Frau war stabil. Aber meine kleine Tochter ... meine Jannet ... unser Sonnenschein ...
"Werde ich ihr Lachen nochmal hören?", fragte ich erstickt.
"Martin, das kann dir niemand im Augenblick beantworten."
"Ich will sie sehen."
"Ich weiß nicht, ob du dir das antuen willst."
"Ich will meine Tochter sehen", gab ich nun fester zurück.
Mein ehemaliger Professor seufzte und gab dann nach.
Die Flure waren endlos. Die Zeit, die ich brauchte, um in die OP-Wäsche zu kommen auch. Reinraumintensiv. Der Ort, wo man Verbrennungsopfer und Patienten mit offenen Schädigungen über 50% hinbrachte und dort Rundum die Uhr um sie kämpfte.
Ich stand erst abseits, weil man von ihr nur viele Schläuche, Bandagen mit Blut getränkt und Pfleger, die sie umsorgten, sah. Sie war in guten Händen. Ich ging um das Bett herum, um ihre Augen zusehen. Ihre Haare. Einfach nur um meine Hand an irgendeine Stelle zu legen, dass sie spürte, dass ich da war, aber selbst dieser war von Bändern umgeben.
Schweres Schädelhirntrauma sickerte ein Begriff durch mein Gehirn, was ich zwar gehört, aber nicht mehr verstanden hatte. Ob sie je wieder Lachen würde? Oder überhaupt begriff, was das bedeutete, zu lachen?
Eine Haarsträhne ragte aus ihren Verbänden. Dunkelbraune Haare. Mein Hirn setze kurz aus. Als es wieder einsetzte, stand ich schon an ihrem Kopf und hob eines ihrer Augenlieder. Ich sah eine grüngraue Iris. Schneller, als mich einer aufhalten konnte, war ich wieder aus dem Raum. Mein Professor, der sich über mein Verhalten wunderte, folgte mir und fand mich kurze Zeit später an einem Computer. Ich hatte das Aufnahmeprotokoll vor mir.
Darin stand beschrieben, dass Frau Nicole von Hirschberg zusammen mit ihren Töchtern Jannet und Jaqueline in die Klinik eingeliefert worden waren. Bei meiner Frau und meiner Tochter Jannet stand "Stabil" zusammen mit einigen Details über verlorene Gliedmaßen und Verletzungen an der Wirbelsäule. Bei meiner Tochter Jaqueline war die Liste deutlich länger.
Das Problem war nur, wir hatten nur eine Tochter.