CN: Behinderungen
"Schlag dir das aus dem Kopf, Junge. Das schaffst du nicht. Lass sie lieber gehen. Dich verbindet nichts mit ihr. Sie wird nie laufen, lachen, singen oder sich bei dir bedanken. Sie ist tot. Nur Maschinen verhindern, dass ihr Körper auch stirbt."
Ich hasste es, wenn er mich Junge nannte. Das tat mein Boss immer, wenn ich in seinen Augen eine Idee hatte, die ihm unmöglich erschien. ICH aber wusste, dass Jacqueline noch da war. Ich wusste es, weil sie auf mich reagierte. Darauf, dass ich ihr vorlas, jeden Abend. Dass ich ihr sagte, dass Mama auf sie wartete und sie zu ihr könnte, wenn es ihr besser ginge. Dass das aber noch ein bisschen dauern würde. Ich hatte mir die Zeit genommen, weil es kein anderer getan hatte. Niemand kam. Sie wurde von niemanden vermisst und jetzt wollte auch niemand mehr für sie bezahlen.
"Ich habe mit meiner Frau geredet. Sie hat mir zugestimmt."
Mein Boss stöhnte. Er wusste, was das bedeutete. Wenn es um Entscheidungen ging, war sie noch ein viel härterer Dickkopf als wie ich.
"Und was ist mit eure Tochter? Wer sorgt sich um sie und ihre Bedürfnisse, wenn ihr euch vollkommen einem Menschen verschreibt, der noch nicht mal zu eurer Familie gehört?"
"Jannet hat gesagt, es sei wichtig, dass jemand zu ihr hält. Und das ich für sie kämpfen müsse."
"Deine Tochter ist wie alt? Fünf? Das hat sie nicht gesagt."
"Meine Tochter ist sechs und sitzt gerade an Jacquelines Bett und erzählt ihr von ihrem Zimmer. Ich kann sie holen und sie kann es dir dann selber sagen. Wir nehmen sie mit. Wir bereiten bereits alles vor. Dann müsst ihr weniger für sie ausgeben. Und wir werden versuchen, sie zu adoptieren."
"Martin, ich bitte dich. Nein, ich bitte euch, hängt eure Seele nicht so sehr an dieses Kind. Sie wird sterben. Ihr werdet sie nicht retten können. Niemand wird das. Dafür hat der Aufprall von dem Auto deiner Frau und dem LKW zu viel zerstört. Wenn sie in einen Fleischwolf gefallen wäre, wäre mehr an ihr heil geblieben."
"Das ist nur eine Frage der Zeit", sagte ich nur.
"Dein Körperdrucker? Der wird nie eine Zulassung bekommen. Mit was druckt ihr nochmal? Was hat die Bild geschrieben?"
Ja, das mit der Bild war ein Rückschlag. Sie hatte von widerlichen Praktiken geschrieben. Menschliche Körper aus Schlachtabfällen. Trierer Wissenschaftler will Herzen aus Hühner-, Schweine- und Rinderabfällen in Menschen implantieren. Gesagt hatte ich das so nicht, aber was interessierte das die Presse oder die öffentliche Meinung. Nichts. Aber es hatte mich meinen Posten in der Klinik gekostet und beinahe auch meine Professur. Nur meinen Studenten war es zu verdanken, dass ich bleiben durfte. Und das "Doktor von Frankenstein", das durch die Presse gegeistert war, hatte schon nach zwei Wochen danach keine Bedeutung mehr auf dem Campus gehabt.
Aber trotzdem durfte ich den Drucker ab da nicht mehr offiziell weiter entwickeln, was ich dann inoffiziell zuhause tat, zusammen mit meiner Familie. Und um nichts zu verschwenden, gab es immer mal wieder Bein oder Arm zu Mittag, wenn uns der Druck nicht ganz gelang. Warum das gute Fleisch verschwenden? Meine Tochter wusste jetzt schon mehr über die Entwicklung des Druckers als mein Boss vor mir und sie war ja erst sechs.
"Ich drucke mit Schweinezellen", sagte ich. "Sie sind leicht zu bekommen."
"Keiner wird euch erlauben, diese in Jacqueline zu implantieren. Keiner wird das für euch machen."
"Wer behauptet, dass ich das mache?"
"Hat deine Frau nicht eine Schweineleber in einen Jungen eingesetzt?"
"Das ist ein anerkanntes Verfahren. Das wurde schon mehrfach zur Überbrückung eingesetzt. Und der Junge lebt noch. Mit der eigenen Leber, die einfach nur eine Pause brauchte. Ihr hättet eine neue verbaut und ihn mit dieser nach Hause geschickt. Wie hoch ist Überlebenschance bei Transplantation laut Statistik? Wie lange hätte er damit überlebt?"
Ja, meine Frau hatte mit ihrer Aktion recht behalten. Aber sie musste sich trotz einem Dutzend in anderen Ländern erfolgten erfolgreichen Operationen als Beispiel dem Ethikrat stellen. Die Familie des Jungen hatte sie damals gerettet. Als dann der Unfall passierte, waren viele Kollegen froh, dass sie nicht mehr wieder kam. So konnten die wieder konventionell arbeiten. Risikoärmer für den eigenen Geldbeutel, auch wenn weniger erfolgreich für das Überleben der Patienten. Auch einer der Gründe, warum sie und Jannet sich sehr schnell nach der Grundversorgung zu ihrem Vater nach Bielefeld hatten verlegen lassen. Einen Monat später waren beide schon wieder bei mir zu Hause und übten ihr neues Leben mit Rollstuhl und anderen Hilfsmitteln. Und sie entwickelten den Drucker weiter. Wir würden es schaffen, das wusste ich. Wir als Familie.
"Siehe es einfach mal so. Ich gebe meiner Frau eine Aufgabe. Meiner Tochter auch. Das lenkt sie ab von ihrem Schicksal. Würdest du es so akzeptieren?"
Er sah mich an.
"Ihr seid eine Familie voller Dickköpfe. Ist ja gut. Bevor du auch noch Nicole herholst, könnt ihr sie mitnehmen. Ich werde die Formalitäten für euch machen. Aber sagt später nicht, dass ich euch nicht gewarnt habe."