CN: Verlust, Entführung
Jeder Mensch hat eine Grenze. Etwas, was er aushält. Etwas, das er noch verkraften kann. Bis zur dieser Grenze kann ein Mensch Herr seiner selbst sein. Der Vater, an dem man sich kuscheln kann, der Vorgesetzte, der einem die Richtung angibt, der Führer, der seinen Truppen Mut zu spricht und sie alle motiviert, auch noch das letzte Gefecht zu schlagen. Er trägt alle Lasten und dann kommt dieser Moment, der eigentlich nichtig ist. Nicht der rede Wert. Ein Punkt, ein Tüpfelchen auf dem I und alles bricht zusammen.
Eigentlich hätte ich sowas erwarten müssen. In dieser Organisation war Rache ein beliebtes Mittel und vor allem die Frauen leideten darunter. Ehrenmorde waren an der Tagesordnung, weshalb kaum noch einer der Herren sich fest an etwas weibliches gebunden hatte. Ich war die Ausnahme. Ich hatte Frauen und Kinder und die schwebten dauernd wegen mir in Gefahr. Also warum haute mich deren Entführung so aus der Bahn?
Was hatte ich erwartet, wenn ich eine ganzen Verbrecherorganisation von Innen aufrollte. Vergebung? Hast du richtig gemacht? Ja, die unschuldigen zu schützen, da sind wir voll bei dir? Wir hören auf, uns an ihnen zu bereichern und mit ihnen Spaß zu haben?
Nein. Und dass ich jetzt meine Frau an einen Feind meines Großvaters verlor, dass nennt man doch eigentlich ausgleichende Gerechtigkeit. Immerhin hat er doch seinen Sohn ermordet, Pias ersten Mann. Oder soll ich lieber sagen, ersten Sklavenhalter? Meister?
Es gab Zeiten, da war ich ihm dankbar, doch tatsächlich. Er hatte Pia zu einer Sub geformt. Einer perfekten Partnerin für mein inneres Tier. Das, was kalt jemanden Schmerzen zufügte und dabei zusah, wie sich das Opfer windete. Bei Pia war meine dunkle Seite nur fasziniert und besänftigt, weil Pia noch mehr forderte. Und jetzt hatte dieser Mann meinem Tier seine Liebe weggenommen. Damit kam es und ich nicht mehr drauf klar.
Jetzt waren es die anderen, die statt meiner stark waren. Ich hatte immer alles selber gemacht, obwohl ich schon längst ein starkes Team an meiner Seite hatte. Allen voran meine Schwägerin Mia, die alle durch die Gegend scheuchte, während ich vor Verzweiflung die Wand anstarrte. Und dann war da immer auch meine Schwerster Johanna, die ich Alpha getauft hatte und die ich aus den Klauen eines dieser Menschenfeinde befreit hatte. Dort hatte sie ein Jahrzehnt unter Wölfen gelebt, um wie ein Wolf gnadenlos Beute reißen zu lernen. Hat nur zum Teil funktioniert. Jetzt sah ich ihr Unverständnis in den Augen, dass ich, ihr neuer Alpha, so sehr meine Angst und meine Hilflosigkeit zeigte. Eigentlich sollte ich ihr helfen, wieder mehr Mensch zu werden. Auch diese Aufgabe vernachlässigte ich. Das taten für mich die anderen.
Selbst meine Kinder, für die ich Stärke zeigte, konnte ich nicht mehr in die Augen sehen. Sie fragten mich immer wieder nach Mama. Vor allem Lena, meine jüngste, weinte viel, weil Tante Mia kein Ersatz für ihre Mutter war und auch der Papa nicht zu ihr kam, aber ich konnte einfach nicht. Was sollte ich ihnen sagen? Welche hanebüchene Lüge sollte ich ihnen auftischen, um sie zu beruhigen? Wenn ich mich doch selber nicht beruhigen konnte.
Es war wieder eine dieser Behandlungen von Alpha, die damit endeten, dass ich einfach nur ins Leere schaute, als ich ihre Hand unter meinem Kinn spürte. Wie durch einen Schleier sah ich sie an.
"Du nicht müssen stark sein. Du dich können verlassen auf deine Betas. Wir alle stark für dich, sagt Beta."
"Beta? Fragte ich verwirrt."
"Dein zweites Weibchen."
Ich verstand nicht, meinte sie Nicole? Woher wusste sie, dass sie meine erste Frau war?"
"Sie kann mir nicht helfen. Sie hat doch weder Arme noch Beine", sagte ich traurig weiter und wollte den Kopf wegdrehen.
"Ist Mia nicht dein zweites Weibchen? Warum ist sie dann bei deinen Welpen?"
"Weil wir Menschen kompliziert sind, Alpha. Sie ist gut zu meinen Kleinen."
"Ich verstehe."
"Aber ich vermisse Pia. Was soll ich nur sagen?"
"Das du uns vertraust. Sag deinen Welpen, dass du auf uns alle vertraust, dass wir sie dir zurückholen."
Ich sah sie an. Sie mochte von ihrem sechsten Lebensjahr an in einem Zwinger voller Wölfe gelebt haben, aber sie war eine sehr feine Beobachterin und kannte trotz so manch anderer Defizite die Feinheiten, der menschlichen Gefühle. Irgendwann würde sie mir mal erklären müssen, warum sie so gut darin war."