CN: Behinderung
"Nein, meine Pferde sind braun und nicht blau. Es gibt keine blauen Pferde, es wird nie blaue Pferde geben, Jacqueline."
"Natürlich gibt es blaue Pferde, ich habe sie doch schon selber gesehen."
"Du hast nichts gesehen, du kannst nichts sehen. Du kommst hier doch hier nie raus."
"JANNET!!"
Meine Tochter zuckte virtuell zusammen und duckte sich weg, als ich wie eine Naturgewalt zwischen ihnen auftauchte. Jacqueline sah verwirrt aus. Sie war sich ihrer Person nie ganz sicher. Sie war mal Kind, mal Teenager und dann auch wieder das Kleinkind, dass damals den Unfall erlitten hatte und von der bis heute niemand wusste, wer sie war und zu wem sie genau gehörte. Und sie war offiziell tot, nur eben nicht bei uns. Ihr Körper war in einem Biobett noch immer an vielen Schläuchen angeschlossen. Ihre Gefühle waren künstlich. Die Welt vor ihren Augen war es. Die Welt vor ihren Ohren war es. Wir hatten sie extra für sie und andere wie sie erbaut. Alles dafür, dass sie auch eine Art Leben hatte, dass sie mit uns, ihrer neuen Familie zusammen sein konnte.
Aber diese Welt hatte auch Fehler. Die künstlerische Freiheit, mit der mein Chefprogrammierer sie ausstattete, ließ zum Beispiel auch blaue Pferde zu, auf denen sie reiten konnte. Auch Einhörner und Drachen hatte ich schon gesichtet, bis ich sie wieder entfernen ließ. Jacqueline sollte nicht in einer Traumwelt leben und vor allem sollte sie nicht erfahren, dass diese Welt hier nicht die echte war. Ich hatte mir alle Mühe gegeben.
"Papa? Ich weiß es", sagte sie nun und ich riss mir die VR-Brille vom Gesicht.
Oh nein, was soll ich jetzt machen? Wie soll ich meiner Tochter erklären, warum ich sie die ganze Zeit belogen habe und diese künstliche Welt vorgegaukelt habe? Ich zog die Brille wieder über.
"Wenn sie es bis jetzt nicht bemerkt hat, dann weiß sie es jetzt", stellte Jannet nicht ohne einen gewissen Vorwurf fest. "Wenn du die VR ausziehst, dann verschwindest du. Das weißt du doch besser als wir alle. Und uns hast du immer eingebläut, das wir das nie nicht tuen dürfen."
Ich seufzte: "Seit wann weißt du es?"
"Ich habe euch beobachtet und belauscht. Ich bin das einzige lebendige dauerhafte Wesen in dieser künstlichen Welt, hat mal Tante Leonie gesagt und Vee verboten, zu oft hierher zum Spielen zu kommen. In der Schule gibt es auch immer so Bemerkungen von den anderen, dass mein Schummeln ja niemand kontrollieren könnte. Ich bräuchte ja nur die Bewusstseinsebene zu wechseln."
"Es tut mir leid, Jacqueline. Ich hätte es dir früher sagen sollen. Wir alle. Wir hätten ehrlicher zu dir sein sollen."
"Ich möchte nur wissen, warum ihr es alle verschwiegen habt. Ich möchte wissen, was ich bin. Bin ich eine Maschine? Eine lernende KI, wie die anderen sagen?"
"Nein Jacqueline, du bist ein Mensch und meine Tochter. Du hattest als Kind einen schweren Unfall."
"Ich und Mama waren auch dabei", sagte Jannet traurig und dann schloss sie die Augen. Nach einigen Sekunden verwandelte sie sich in den Menschen, der sie wirklich war. Ein Mädchen von dreizehn Jahren, die in einem Rollstuhl saß. Ihr fehlten die Beine und ein Arm. "So sehe ich wirklich aus."
Jacqueline sah sie erschreckt an und dann bemerkte sie erst, was das wohl für sie bedeutete.
"Fehlen mir auch Teile?"
"Es ist kompliziert", sagte ich.
"Kann ich ohne Maschinen leben?"
"Nein", sagte Jannet, als ich es ihr nicht sagen konnte. "Es tut mir so leid."
Sie war wieder vollständig, als sie Jacqueline in die Arme nahm.
"Aber ich bin immer für dich da, denn du bist meine kleine Schwester. Komm las uns zu den blauen Pferden gehen. Sie warten schon bestimmt auf uns."
"Oja", sagte eine wieder deutlich kleinere Jacqueline. "Pferde, blaue Pferde. Da gibt es auch die Einhörner."
Ich sah den beiden hinterher. Ja, es war schrecklich, dass wir gezwungen waren, unsere Tochter in dieser virtuellen Realität einzusperren, in der nichts wirklich echt war. Wo es blaue Pferde und Einhörner gab. Und wo das Leben verzerrt war. Aber für Jacqueline bestand die Alternative darin, gefesselt an ein Biobett die Decke ihres Krankenzimmer anzustarren. Unfähig auch nur einen Muskel in ihrem Körper zu bewegen, nicht zu essen oder zu trinken, geschweige denn selber zu atmen. Eingesperrt und reduziert auf die Gedanken in ihrem Kopf. Das wollte ich ihr auf keinen Fall antuen.