CN: Blut, Behinderung
Vor sechszehn Jahren:
"Schau mal. Sie tut es."
Wie gebannt sahen wir beide, wie Jannet sich mit ernstem Gesicht am Schrank hochgezogen hatte. Nun hatte sie sich umgedreht und sah zu uns herüber. Wir hielten beide den Atem an. Zwischen ihr und uns lag genug herum, was sie wieder zu Fall bringen würde, aber es war offensichtlich, dass sie das heute nicht aufhalten würde.
Noch wackelig, eine Hand am Schrank, machte sie ihren ersten Schritt. Dann sah man, wie sie kurz die Augen schloss, tief einatmete und dann begann sie zu rennen. Das erste Hindernis, die Teppichkannte, meisterte sie mit Bravour, weil sie rechtzeitig oder mit Glück die Beine hob. Bei ihrem Lieblingswal war sie kurz überlegt, sich vor ihm auf ihre Windel plumpsen zu lassen, aber dann hatte sie nur eine Hand an der Fontaine und zerrte ihn hoch.
Noch einige Schritte, die jetzt ohne die ausgleichenden Arme deutlich wackeliger waren, hatte sie die Tischkante umrundet und auch den duplo Rollenstein überwunden und schon konnte ich sie mit den Armen auffangen und in die Höhe ziehen. Sie quickte vor Vergnügen und strahlte vor Stolz im ganzen Gesicht.
Vor zehn Jahren:
Ich hörte das Weinen aus ihrem Zimmer. Es war eine Mischung aus Trauer und Zorn. Leise öffnete ich die Tür und sah, dass sie nicht in ihrem Bett, sondern vor der Heizung stand. Die Verbände an den Stümpfe ihrer Beine waren komplett rot. Rote Abdrücke zeigten, dass sie erst versucht hatte, zur Tür zu kommen und nun ans Fenster wollte.
"Jannet?"
Meine Tochter drehte sich mit Tränen in den Augen um. Und obwohl ihre Beine nurnoch zehn Zentimeter lange Stümpfe waren, lief sie unter Zuhilfenahme ihres letzten Armes auf mich zu. Ich beugte mich zu ihr runter und sie schlang ihren Arm um meinen Hals, bevor sie nach hinten kippte.
"Was tust du nur, mein Engel."
"Ich muss mal. Ich will nicht mehr in die Windel machen, ich bin doch schon groß", sagte sie nicht ohne eine ganze Portion Trotz in der Stimme.
"Dann werde ich dir mal helfen", sagte ich und setzte sie wieder zu Boden. Ich ging zur Tür und auch zur Tür zum Badezimmer. Dort stellte ich eine Hocker neben die Schüssel. Jannet folgte mir mit zusammengebissenen Zähnen und mit Tränen in den Augen. Vor dem Hocker zog sie alles aus und kletterte vor Anstrengung keuchend auf das Porzellan. Als sie oben drauf saß, strahlte sie und schmiss mich anschließend mit den Worten: "Papa, das ist jetzt intim." aus dem Bad. Aber ich lächelte. Glücklich eine so starke Tochter zu haben.
Heute:
"Darf ich bitten?", fragte Jannet und lächelte mich an.
"Bist du sicher? Dieser Tanz ist ganz schön intim", antwortete ich, weil gerade Tango angespielt wurde. Sie wusste, dass ich den Tanz liebte. Ich tanzte den immer mit ihrer Mutter Pia. Nicole saß neben mir und sagte:
"Sie hat ihn extra nur für heute Abend einstudiert. Für diesen Abschlussball. Den Tanz mit ihrem Vater, also los, alter Mann. Zeig dem Küken, wie man diesen Tanz tanzt.
Ich führte meine Tochter auf die Tanzfläche sie hatte sich dafür in ein schwarzes Sportoberteil und einen roten an den Seiten weit nach oben geschlitzten Rock gehüllt. Alle würden ihre langen schönen neuen Beine sehen, die ich ihr gemacht hatte. Aber ich sah nur ihre Augen. Sie war Stolz auf sich. So wie damals, als sie ihre ersten Schritte gemacht hatte. Oder zu dem Zeitpunkt, als sie nach dem Unfall auf ihrem Porzellanthron gesessen hatte. Und jetzt wieder, der Stolz meines Mädchens, dass es für sie keine Hindernisse gelten ließ, um zu erreichen, was sie wollte.
"Danke Papa. Das ist jetzt dein Tanz."