Die wichtigsten Begegnungen geschehen meist unerwartet, hatte meine Mutter immer gesagt. Man läuft geradewegs eine Straße entlang und kaum neigt man den Kopf in eine andere Richtung, trifft man auf eine Person, die einen noch unerschlossene Wege zeigt. In meinen Kindheitstagen hatte ich ihr das noch voller Naivität geglaubt, denn damals wirkte die Welt aufregend und überraschend.
Bis ich begriff, dass es in Wittelshain anders lief. Hier begegnete man ständig irgendwen, doch selten unerwartet und schon gar nicht jemand Neues. Wie auch, die Ortschaft umfasste eine Einwohnerzahl von wenigen hundert Menschen, war weit entfernt von der Autobahn und noch weiter von Berlin. Über Google Maps musste man bis ins unendliche heranzoomen damit der Name zwischen grünen Flächen und anderen Dörfern überhaupt erschien. Und doch hatten es die Bewohner über die Jahrzehnte geschafft, sich dort im Abseits ein Leben zu schaffen, das es überflüssig machte, in die Welt hinaus zu ziehen. Es gab eine Gesamtschule, einen kleinen Kiosk und Schraders Supermarkt, am nördlichen Ende eine renovierungsbedürftige Tankstelle, und inmitten des Ortskerns – wenn man es so nennen mag - neben dem schäbigen Elektromarkt, schräg gegenüber der evangelischen Kirche lag ein bezauberndes Café, welches, seit ich denken konnte, von meiner Mutter geführt wurde.
Und eben wegen Mahlers-Café stand ich an diesem Dienstag wie gewohnt um halb Drei mit dem Einkaufskorb zwischen ordentlich sortierten Ladenregalen im Schraders und zählte mit Bedacht die Kaffeepackungen ab. Um diese Jahreszeit mussten wir unseren Bestand immer aufstocken. Denn sobald die ersten frühlingshaften Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke brachen, stürmten die Wittelshainer den wiedereröffneten Außenbereich und lechzten nach Kaffee und Kuchen, als ob sie den hartnäckigen Winter damit vertreiben könnten. Und auch der Rest des Dorfes schien zu dieser Zeit aus seinem Schlaf zu erwachen, Familien schlenderten im zaghaften Licht durch die engen Straßen oder verbreiteten aus ihren Gärten den Duft des ersten Grillguts. Sicher tummelten sich auch die Jugendlichen wieder vermehrt auf dem leeren Schulhof und dem Bolzplatz, um ihre Zeit mit sinnlosen Albereien zu verschwenden, womöglich das eine oder andere Bier auszuprobieren oder heimlich zu rauchen, im Wissen, den Argusaugen ihrer Eltern für dieses Jahr entkommen zu sein.
Ich hingegen hatte deutlich Besseres zu tun. Anders als bei meinen Mitschüler war mein Tag minutengenau durchgetaktet, um nicht eine Sekunde davon zu vergeuden. Schließlich war ich nicht nur ein wichtiger Bestandteil des Cafébetriebs, sondern arbeitete unermüdlich daran meinen Einserschnitt zu halten, der mir in ein paar Jahren die Türen jeder Uni öffnen würde, und verdiente mir mit Nachhilfestunden das nötige Kleingeld, damit ich auch problemlos hindurch gehen könnte.
Ein Blick auf die Armbanduhr verriet mir, dass ich noch massig Zeit hatte. Dabei lief der lange Zeiger allen anderen Uhren voraus. Um genau zu sein zehn Minuten. Das war kein Fehler in der Mechanik, sondern ein kleiner Zeittrick, den ich mir vor Jahren ausgedacht hatte. Damit lebte ich immer ein wenig in der Zukunft und würde, selbst wenn ich die Zeiger nicht ständig im Auge behielt, meinem Plan nie hinterherhinken.
Mit einem zufriedenen Summen im Mund schlenderte ich zum Gemüseregal. Meine Mutter ist immer dankbar dafür, wenn ich das Abendessen auch gleich besorgte, denn nach Schließung des Cafés blieb ihr selten Zeit noch Kraft für einen ausgiebigen Einkauf, vom Kochen ganz zu schweigen. Ich lächelte in mich hinein. Nicht, dass ich darüber traurig wäre. So fantastisch sie auch backen konnte, so furchtbar kochte sie. Also tat ich uns beiden einen Gefallen damit, das zu übernehmen.
„Hallöchen Melissa, gibt es bei euch heute eine Gemüsequiche?“, trällerte eine wuchtige Dame mit hochtoupierten Haaren neben mir, während sie ihre spitze Nase neugierig in meinen Korb steckte.
Das aufdringliche Parfüm, dass Frau Weigart schon von Weiten ankündigte, biss mir schlagartig in die Nase und benebelte mich. Der kleine Mops an ihrer Seite ließ sich schwer röchelnd zu Boden sinken. Wie stets zu dieser Tageszeit zog sie das arme Tier quer vom Ende des Dorfs zum Markt, bis es vollkommen ausgelaugt alle Vieren von sich streckend und mit heraushängender Zunge einsackte.
Ich schenkte ihr mein bezauberndstes Lächeln.
„Eine Überraschung für meine Mutter.“
„Ach, was bist du nur für ein gutes Kind. Und eine angemessene Art den Frühling Willkommen zu heißen“, sagte sie und verfiel sogleich in Schwelgerei. „Diese Tage sind doch die Schönsten des Jahres, nicht wahr? Die Vögel singen ihre ersten Lieder, Krokusse und Narzissen erfreuen uns mit ihren prächtigen Farben. Alles beginnt von Neuem zu erstrahlen. Die kleine Molli und ich haben diesen wunderschönen Nachmittag auch schon genutzt, um uns so richtig auf den Frühling einzustimmen. Stimmts, Schätzchen?“ Sie blickte auf den Hund hinab, als könnte das röchelnde Tier ihr zustimmen. Mit hervorquellenden Augen sah Molli nach oben, wodurch ihre Stirnfalten noch tiefer wurden und es so wirkte, als bezweifle sie das Gesagte.
„Da steh ich hier und plappere.“ Frau Weigart lachte, wobei ihr Haarturm gefährlich ins Schwanken geriet. „Dabei möchtest du diesen herrlichen Tag sicher auch noch genießen. Denn das sollte man auf alle Fälle tun.“ Mit einem Ruck zog sie den Mops auf die Beine und verschwand in den hinteren Gängen.
Ich pfiff durch die Zähne und griff ich nach einer Zucchini. Alles beginnt von Neuem, das ich nicht lachte. Auf den Winter folgte der Frühling, darauf der Sommer, darauf der Herbst, und so weiter. Von neu konnte da nicht die Rede sein. Es war eher eine Endlosschleife, ein Kreis, der wieder und wieder umrundet wurde, wie die Zeiger meiner Armbanduhr. Nichts weiter als ständig wiederholende Ereignisse, die man minutengenau ablesen konnte.
Zur Bestätigung spähte ich über die gestapelte Tomatenkiste zum Eingangsbereich, an dem sich jeden Moment eine weitere Abfolge der Wittelshainer Berechenbarkeit ereignen würde. Es war kurz vor Drei. Gleich folgte der Auftritt von Herrn Fern mit der kleinen Sofia. Denn wie jeden Dienstag hätte er sie vom Kinderkarten abgeholt und würde anschließend im Laden seine Besorgungen machen. Ich hörte schon beinahe den quengeligen Ton Sofias, wie sie beharrlich versucht, den Vater zum Kauf einer Schokolade oder sonstiger Süßigkeit zu drängen und dabei derart laut wird, dass dieser letztendlich einknickt. Ob ich als Kind auch so unerbittlich gewesen war? Und wie war mein Vater wohl damit umgegangen? Schnell schüttelte ich den Gedanken ab.
Die Glasschiebetüren öffneten sich. Doch anstatt des Vater-Tochter-Gespanns trat ein unbekanntes Gesicht hindurch.