Bestens gelaunt hüpfte ich die breiten Treppen zum Zimmer der 8a hinauf. Es wären nur noch drei Wochen bis zu den großen Ferien und ich konnte es kaum erwarten, die letzten Klassenarbeiten für die endgültigen Zeugnisnoten hinter mich zu bekommen, um jede freie Minute des Sommers mit Chris verbringen zu können. Dabei legte ich mir schon jetzt alle möglichen Pläne zurecht. Wir würden zum See fahren, uns ins Kino schleichen, etliche Läden unsicher machen und großartige Abende mit Pizza, Mixbier und Techno verbringen. Vielleicht wäre es auch möglich einen Kurztrip nach Berlin zu organisieren. Dann könnte er mir die Stadt zeigen, die aufregenden Clubs und das schwindelerregende Nachtleben. Alles, damit er möglichst wenig Zeit Zuhause verbringen musste.
Ich spielte sogar mit dem Gedanken, ihn zum Übernachten einzuladen. Nur meine Mutter müsste ich dann aus dem Haus bekommen, aber die Veränderungen an ihr – das neue Parfüm und die Bluse, die etwas mehr Ausschnitt zeigte – machten mir schmerzlich deutlich, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie über Nacht wegblieb. Aber so sehr mich der Grund darum auch anwiderte, wäre es die perfekte Gelegenheit, um Chris näher zu kommen. In meinen eigenen vier Wänden und in aller Ruhe. Das würde die Nervosität um den nächsten Schritt sicher mindern und ich müsste nicht darauf hoffen, dass ein verspielter Mops mich rettete.
Soweit ich gehört hatte, hatte es Molli am selben Tag wieder nach Hause geschafft. Nachdem sie im Feld ganz ausgelassen ihrem Hundetreiben nachgegangen war und nicht einmal bemerkt hatte, wie Chris und ich sie dort zurückließen, war sie Stunden darauf im Dorf aufgetaucht und wurde von den Kindern der Krauters aufgelesen, die sie der hocherleichterten Frau Weigart aushändigten. Und das war es dann auch mit ihrem Abenteuer. Etwas schade, wie ich fand, denn sie schien ihre kurze Freiheit sehr genossen zu haben. Auf jeden Fall mehr als im Garten darauf zu warten, dass sie alle paar Tage an der Leine quer durch die gleichen langweiligen Straßen gezogen wurde. Aber keiner hatte Chris und mich im Verdacht und das war, was letztlich zählte. Obwohl Frau Weigart jedem, der es nicht hören wollte, von einem unbekannten Hundeentführer berichtete und ihre Vermutung mit einem von ihr gesehenen Report untermauerte, in dem professionelle Kidnapper Haustiere verschleppten, um viel Geld aus den Besitzern zu pressen. Die meisten allerdings hielten diese Annahme für wahnwitzig.
Im Café hatte ich Gerda Alsbach und Iris Grumann darüber reden hören und sie, wie viele andere, waren der Meinung, Frau Weigart hätte schlicht das Gartentor offengelassen und wollte mit der Entführungsgeschichte nur ihre eigene Schludrigkeit vertuschen. Diese Version gefiel mir bisher am besten. Aber als ich mit dem leeren Tablett neben ihnen stand und nach der nächsten Bestellung fragte, um auch den Rest ihres Gesprächs aufschnappen zu können, verstummten sie und hoben skeptisch die Augenbrauen. Die Grumann legte kopfschüttelnd die Hand auf ihre Tasse und holte, kurz nachdem ich wieder gegangen war, Theresa an ihren Tisch. Manchmal benahmen sich die Alten wirklich seltsam.
Ich schritt den Gang zu meinem Klassenzimmer entlang, ignorierte die flüchtigen Blicke herumstehender Schüler und öffnete die Tür. Wie immer vor Beginn des Unterrichts saßen alle in ihren Grüppchen schwatzend beisammen. Einige von ihnen musterten mich, als würde ich zum ersten Mal diesen Raum betreten. Ich starrte stirnrunzelnd zurück bis sie sich wieder ihren Gesprächspartnern zuwandten. Was war nur los mit den Leuten? Es schien, als würde ich ein riesiges Schild mit mir herumtragen, dessen Aufschrift alle bis auf mich lesen konnten. War es wegen meiner Mutter und Gregor? Natürlich hatte die Neuigkeit über ihre regelmäßigen Treffen bereits die Runde gemacht, aber anders als ich schien niemand besonders schockiert darüber zu sein. Zumal solche Geschichten die Schülerschaft nicht interessierten.
Ich zwängte mich an Cynthias Stuhl vorbei zu meinem Platz am Fenster. Und ließ den Rucksack auf das graue Linoleum fallen, als ich meinen Tisch sah.
In fetter, schwarzer Schrift prangten quer darüber zwei Worte, die alles mit einem Schlag erklärten: Martens Schlampe.
Das Klassenzimmer drehte sich. Ich sank auf den Stuhl, starrte auf die furchtbare Beleidigung, die sich tief in meinen Brustkorb bohrte. Wer hatte das getan? Ich sah auf, aber die, die meine Reaktion mitbekommen hatten, drehten mir ihren Hinterkopf zu und tuschelten. Schnell zog ich Wasser und Taschentücher aus meinem Rucksack, versuchte energisch, es wegzuwischen. Aber die Buchstaben blieben stechend scharf.
„Ach du Scheiße!“, rief Mariell neben mir, die gerade hereingekommen war. „Du treibst es mit Assi-Martens?!“
Ich knallte das Mathebuch auf den Tisch und flüchtete aus dem Zimmer.
Das Gelächter hinter mir war noch bis auf den Flur zu hören, den ich halb stolpernd entlang rannte, um ihm zu entkommen. Ohne wirklich zu wissen, wohin, stürzte ich in die nächstbeste Mädchentoilette. Der beißende Geruch von Urin und Deodorant hing in der Luft, die Kabinen waren verlassen. Alle saßen sie mit ihren beschissenen scheinheiligen Gesichtern im Unterricht und tratschten hinter meinem Rücken über mich. Ich knallte die Kabinentür zu, derart heftig, dass die Holzwände ringsum wackelten, setzte mich auf den Klodeckel und kreischte wütend in meine zitternden Hände. Diese verfluchten Vollidioten! Wenn ich herausfand, wer dafür verantwortlich war, ich würde seinen Kopf so tief in die Toilette drücken, bis ich kein Blubbern mehr hörte. Ich lachte verzweifelt über diesen dämlichen Gedanken.
Es machte keinen Unterschied, die Schmiererei zeigte nur das, was alle bereits wussten. Und war es erst einmal im Umlauf, könnte ich rein gar nichts daran ändern. Dass diese Tratschtante von Weigart nicht ein einziges Mal den Mund hatte halten können! Ein weiterer Schrei kam. Ich erstickte ihn zwischen Fingern und Knie. Dann atmete ich tief ein und hob den Kopf. Meine Handflächen waren nass.
Da saß ich nun auf dem Klo und heulte wie ein kleines Mädchen. Dabei sollte ich mich freuen. Ich könnte aufhören mit der Heimlichtuerei, musste mich nicht länger von einer Straße in die nächste stehlen, um Chris sehen zu können. Und auf das dumme Gerede der anderen hatte ich ohnehin nie etwas gegeben. Vielleicht sollte ich mir sogar ein T-Shirt mit meinem neuen Titel besorgen, damit sie alle sehen würden, dass es mir am Arsch vorbeiging. Wieder lachte ich. Chris würde das vermutlich gefallen.