Erfolgreich hatte ich mich aus dem Café geschlichen. Was meine Mutter Gregor wohl erzählen würde? Was auch immer es sein mochte, ich könnte ihm nicht für immer aus dem Weg gehen. Nicht in Wittelshain. Früher oder später musste ich mit ihm reden. Deshalb wäre es klug, wenn ich mir bald etwas zurechtlegte, um nicht nach den ersten Sätzen wie ein Kartenhäuschen zusammenzuklappen. Aber das würde warten müssen, für heute standen noch andere Dinge auf dem Plan.
Ich bog in die Fichtenstraße ein, die auf der gegenüberliegenden Seite von einer niedrigen Klinkermauer gesäumt war. Dahinter erhob sich die weiß gestrichene Kirche, in die wir zu Beginn jedes Schuljahres gezwungen wurden und dessen Inneres mir immer ein unangenehmes Herzklopfen verursachte. Wie gut, dass ich mich den Rest des Jahres von dem Ding fernhalten konnte.
Der unliebsame Gedanke daran verschwand abrupt, als etwas hörte, das für diese Gegend und Tageszeit untypisch war. Ein Wummern, das versuchte, die Gesänge der Frühjahrsvögel zu übertönen. Der Urheber konnte schnell ausgemacht werden, denn er bemühte sich wenig darum, unentdeckt zu bleiben. Breitbeinig saß er auf der Mauer und kippte den Inhalt einer farbigen Dose herunter. Unter ihm lagen Zwei weitere, zerdrückt und achtlos auf den Boden geworfen. Aus den Kopfhörern, die um seinen Hals hingen, dröhnten die schnellen Beats noch meterweit die Straße entlang. Anstatt des Nonneshirts trug er heute einen schwarzen Kapuzenpullover mit Totenkopftribal über einer dunklen Jeans. Er war offenbar nicht darauf aus, etwas zu stehlen, schloss ich, denn seine Cargohose mit den vielen Seitentaschen wäre dafür besser geeignet.
Als er mich auf der anderen Straßenseite erblickte, ließ er sein Getränk sinken. Wir starrten einander an. Sein Ausdruck war hart, beinahe herausfordernd, als störte ich seine laute Ruhe. Ich versuchte, alle Freundlichkeit aus meiner Miene zu vertreiben, die ich mir über die Jahre im Café antrainiert hatte. Damit ich seinem Blick standhielt. Für Momente harrten wir so aus, bis ein vorbeifahrendes Auto uns trennte. Ich schüttelte den Kopf unmerklich, musste den Drang, die Straße zu überqueren, vertreiben, schulterte meinen Rucksack und ging entschlossen weiter. Gregors Rat sollte ich beherzigen. Außerdem enttäuschten einen Tagträume seltener als die Realität. Darum entfernte ich mich mit großen Schritten von ihm. Womöglich saß er den halben Tag hier oder dort und vertrieb sich die Zeit damit, andere Leute zu beobachten. Wie langweilig.
Bevor ich in die Moltkestraße einbog und die Kirche aus meinem Blickfeld verschwand, warf ich den Kopf noch einmal über die Schulter. Er war fort. Keine Wummermusik war mehr zu hören. Nur die Dose auf der Steinmauer zeugte von seiner Anwesenheit.
Herumlungern machte also doch keinen so großen Spaß. Aber es wunderte mich, wohin er derart schnell verschwunden war. Bis ich mich weiter zurückdrehte und ihn gemächlich auf mich zukommen sah. Schnell bog ich in die Straße ein und wechselte die Seite. Auf keinen Fall wollte ich ihn hinter mir wissen. Der erste Gedanke, den man hatte, war meist der Richtige: Solche Typen musste man im Auge behalten.
Im schlendernden Gang fuhr er mit den Fingern an der Hauswand entlang und setzte seinen Weg parallel zu meinem fort. Beinahe hätten meine Beine eigenmächtig beschlossen, ihre Schritte zu beschleunigen, da machte ich ihnen klar, dass es keinen Grund dafür gab. Er machte keine Anstalten, auf meine Seite zu wechseln, und schließlich stand es jedem frei, zu gehen wohin man wollte. Er folgte mir nicht, das bildete ich mir sicher nur ein. Und doch überkam mich dasselbe Kribbeln wie im Supermarkt.
Ich ließ es darauf ankommen und bog in den Erlgasse ein, entgegen dem üblichen Heimweg. Wenige Momente dachte ich, er wäre einfach weiter geradeaus gelaufen. Dann sah ich ihn wie meinen Schatten wieder auf der anderen Seite. Ich atmete scharf ein und stoppte. Er stoppte ebenfalls.
Was immer er damit bezwecken wollte, ich ließ mich nicht von ihm vorführen und schon gar nicht einschüchtern. Mit geballten Fäusten überquerte ich die Straße. An einer Hauswand gelehnt wartete er mit dem Zippo in der Hand, das er lässig auf und zuklappte. Jeder meiner Schritte wurde von dem Geräusch begleitet. Klick. Klick.
„Was soll das?!“, fuhr ich ihn an.
Er grinste schief.
„Was meinst?“
„Warum verfolgst du mich?!“
Deutlich amüsiert über meinen Zorn kräuselten sich seine Lippen.
„Weiß nicht, was du meinst. Hab vielleicht nur den gleichen Weg?“
„Blödsinn!“, zischte ich.
Gespielt ergeben hob er die Hände.
„Mach dir mal nich gleich ins Höschen, Blondie.“
„Ich bin nicht dein Blondie!“, wetterte ich. „Und damit eines klar ist, ich lass mich nicht so leicht verschrecken wie die Anderen.“
Mit einem Mal stieß er sich von der Mauer ab und war jetzt nur noch Zentimeter von mir entfernt. Sein Atem roch nach überzuckerten Energy Drinks. Wenn er mich hätte überwältigen wollen, hätte er durch seine Größe leichtes Spiel gehabt. Dennoch hielt ich seinen Augen trotzig stand. Sie waren wie aus Ebenholz, hart und mit einen beinahe schwarzen Ring umfasst. Mein Herz raste unkontrolliert. Ich trat zurück, musste Abstand zu ihm gewinnen. Weil er wohl dachte, er hätte gewonnen, grinste er siegessicher.
„Komm, ich zeig dir was“, sagte er dann und ging voraus.
Was sollte das? Erst lauerte er mir auf und machte im nächsten Moment auf freundschaftlich? Die Unsicherheit hielt meine Füße auf der Stelle. Ich sollte ihm nicht folgen, ich hatte Wichtigeres zu tun, als mit einem Jungen durch die Gegend zu ziehen, den ich kaum kannte.
„Kommste jetzt, oder was?“
Sein fordernder Ton verursachte wieder das Kribbeln, das sich in allen Gliedern ausbreitete. Es wäre schade, nicht herauszufinden, was er vorhatte, murmelte eine Stimme in mir. Und die Welt würde nicht untergehen, wenn ich ein wenig später mit den Schulaufgaben anfing, zumal doch alle sagten, dass das Wetter viel zu schön war, um sich in den eigenen vier Wänden hinter Büchern und schmutzigem Geschirr zu vergraben.
Ich beeilte mich ihn einzuholen, bevor er hinter der nächsten Biegung verschwand. Ein Ausdruck von Genugtuung huschte über sein Gesicht, als ich neben ihm herging. Bestimmt war es nicht das erste Mal, dass er jemanden auf diese Art mit sich nahm.
„Wohin?“, fragte ich.
Zumindest das Ziel sollte ich kennen. Danach konnte ich mich immer noch dagegen entscheiden.
„Wirst schon sehen.“